Anterhaltungsblatt des Vorwärts
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Dienstag den 14 Januar.
( Nachdruck verboten.
Foma Gordjejew.
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1902
Doch es gab etwas im Leben dieser Knaben, was sie alle berband, es gab Stunden, in denen sie das Bewußtsein der Verschiedenheit ihrer Charaktere und ihrer Lebensstellung verloren. Am Sonntag trafen sie sich alle bei Smolin, krochen Taubenschlag eingerichtet war, und ließen die Tauben heraus. auf das Dach des Seitengebäudes, in dem ein geräumiger
Roman von Maxim Gorki . Deutsch von Klara Branner. Roman von Maxim Gorki . Deutsch von Klara Brauner ,, Hast Du etwas zum Essen mitgebracht?" empfing Jeschow Foma und schnupperte mit seiner spigen Nase. Gieb her, ich bin mit dem leeren Magen von Haus fortgegangen. Ich hab' mich verschlafen, der Teufel hor's... hab' bis zwei Uhr nachts immer gelernt... Hast Du die Rechenarbeiten den Knaben. gemacht? Ach, Du Schlafmüße! Nun, ich werd's Dir gleich herunterleiern!"
Die schönen, satten Vögel schüttelten ihre schneeweißen Flügel, flogen einer nach dem andern aus dem Taubenschlag, feßten sich auf dem Firstbalken des Daches in eine Reihe und prangten dort girrend und von der Sonne beleuchtet vor Aufscheuchen!" bat Jeschow , vor Ungeduld zitternd. Smolin schwenkte eine lange Stange mit einem Bastwisch ihrem Ende in der Luft und pfiff.
Er biß mit den kleinen, scharfen Zähnen in das Back- an werk hinein, schnurrte wie ein Kater, schlug mit dem linken Fuß den Taft dazu und sagte zugleich die Rechenarbeiten auf, indem er Foma kurze Säße hinwarf:
-
Hast Du gesehen? In einer Stunde sind acht Eimer ausgeflossen... und wieviel Stunden hat's gedauert? sechs. Ach, bei euch ißt man gut! Man muß also sechs mit acht multiplizieren... Magst du Kuchen mit Schnittlauch? Ich mag es sehr! Nun, also sind aus dem ersten Hahn in sechs Stunden achtundvierzig ausgeflossen... und im ganzen hatte man in den Kessel neunzig hineingegossen... berstehst Du's weiter?"
Jeschow gefiel Foma besser als Smolin, doch war er mit Smolin besser befreundet. Er bewunderte die Begabung und die Lebhaftigkeit des kleinen Mannes, fah, daß Jeschow flüger und besser war als er, beneidete ihn und war auf ihn deswegen eifersüchtig, und zugleich bemitleidete er ihn mit der Herablassung des Satten zum Armen. Vielleicht war es gerade dieses Mitleid, das ihn daran hinderte, den lebhaften Knaben dem langweiligen, rothaarigen Smolin vorzuziehen. Jeschow , der seine fatten Kameraden zu bespötteln liebte, sagte zu ihnen oft:
Ach, ihr Kuchenkisten!"
Foma nahm ihm seinen Spott übel und sagte einmal, als er fich tief getroffen fühlte, mit Verachtung und Bosheit: ,, Und Du bist... ein Bettler!"
Jeschows gelbes Geficht wurde fleckig, und er antwortete angsam:
,, Gut, meinetwegen! Ich werde Dir nicht mehr vorsagen, und Du wirst ein Kloz werden!"
Sie sprachen drei Tage nicht mit einander zur großen Befümmernis des Lehrers, der genötigt war, dem Sohn des allgemein geachteten Ignat Matwjeitsch in diesen Tagen schlechte Cenjuren zu geben.
Jeschow wußte alles: er erzählte in der Schule, das Stibenmädchen des Staatsanwalts habe ein Kind geboren, und die Frau des Staatsanwalts habe ihren Mann dafür mit heißem Kaffee begossen; er wußte, wann und wo man m besten Barsche fischen konnte; er verstand es, Fallen und täfige für Vögel zu verfertigen; erzählte genau, warum und vie sich der Soldat aus dem Boden der Kaserne aufgehängt atte; von welches Schülers Eltern der Lehrer heute ein Gechenk erhalten hatte und was für eins.
"
Die erschrockenen Lauben stürzten in die Luft, die sie mit dem eiligen Flattern ihrer Flügel erfüllten. Jetzt steigen sie rhythmisch im weiten Bogen in die Höhe, in die blaue Tiefe des Himmels und schwimmen, mit mit dem Silber und Schnee des Gefieders leuchtend, immer höher. Einige von ihnen bestreben sich im gleichmäßigen Fluge eines Falken das Himmelsgewölbe zu erreichen, sie breiten die Flügel weit aus und scheinen sie gar nicht zu bewegen, andre spielen, überschlagen sich in der Luft, fallen wie Schneeballen herunter und fliegen wie ein Pfeil wieder in die Höhe. Jezt scheint ihr ganzer Zug unbeweglich in der Wüste des Himmels zu stehen und ertrinkt darin, immer kleiner werdend. Mit zurückgeworfenen Köpfen bewundern die Knaben schweigend die Vögel, ohne die Augen von ihnen zu wenden, müde Augen, in denen stille Freude leuchtet, nicht ohne einen gewissen Neid diesen beflügelten Wesen gegenüber, die so fern von der Erde in dem reinen, stillen, von Sonnenglanz erfüllten Kaum dahinfliegen. Die fleine Gruppe dem Auge faum sichtbarer Punkte, die in die Bläue des Himmels eingestreut sind, zieht die Phantasie der Kinder mit sich, und Jeschow giebt dem ihnen allen gemeinsamen Gefühl Ausdruck, indem er leise und nach denklich spricht:
"
Wenn wir so fliegen könnten, Brüder!"
Und Foma, der wußte, daß die dem Himmel zufliegende Menschenseele die Gestalt einer Taube annimmt, fühlte in feiner Brust ein starkes, brennendes, unbestimmbares Gefühl aufsteigen.
Durch das Entzücken vereint, still und aufmerksam die Rückkehr der Vögel aus der Tiefe des Himmels erwartend, sigen die Knaben dicht aneinander geschmiegt und sind dem Wehen des Lebens ebenso fern, wie die Tauben der Erde; in dieser Stunde sind sie nichts als Kinder und können weder beneiden noch zürnen; allem fremd, sind sie einander nah, verstehen ihre gegenseitigen Gefühle ohne Worte am Glanz der Augen und sind selig wie die Vögel am Himmel.
Doch jetzt schweben die vom Flug ermüdeten Tauben auf das Dach herab und werden in den Taubenschlag gejagt. ,, Brüder! Auf nach Aepfeln!" schlägt Jeschow vor, der alle Spiele und Unternehmungen inspiriert.
Sein Ruf verscheucht aus den Kinderseelen die durch die Tauben hervorgerufene friedliche Stimmung, und sie schleichen sich vorsichtig wie Raubtiere, mit einer raubtierähnlichen Wachsamkeit bei jedem Laut durch die Hinterhöfe in den
Der Kreis von Smolins Kenntnissen und Interessen beschränkte sich auf das Leben der Kaufmannschaft, vor allem liebte der rothaarige Knabe, zu bestimmen, wer den andern Nachbargarten. Die Angst, ertappt zu werden, wird durch an Reichtum übertreffe, und schätzte die Häuser, Schiffe und Pferde ab. Das alles wußte er ganz genau und sprach mit Begeisterung davon.
Jeschow gegenüber bezeigte er dasselbe herablassende Mitleid wie Foma, nur war er freundschaftlicher und gleichmäßiger. Jedesmal, wenn Gordjejew mit Jeschow in Streit geriet, bemühte er sich, sie zu versöhnen, und eines Tages, als sie aus der Schule nach Hause gingen, sagte er zu Toma:
"
Warum zantst Du Dich immer mit Jeschow ?" Warum wird er denn so frech?" erwiderte Foma zornig. Weil Du so schlecht lernst, und er Dir immer hilft. Er it flug. Und hat er denn schuld daran, daß er arm ist? Er kann alles lernen, was er nur will, und wird dann auch reich werden."
Er ist wie eine Mücke", sagte Foma wegwerfend, summt und fumunt und sticht dann auf einmal".
er
die Hoffnung, ungestraft stehlen zu können, im Gleichgewicht gehalten. Das Stehlen ist ja auch eine Arbeit und noch dazu eine gefährliche, und alles, was durch eigne Arbeit gewonnen wird, ist so füß! Und es ist um so füßer, je größer die Anstrengung war. Die Knaben steigen vorsichtig über den Gartenzaun und kriechen gebückt zu den Apfelbäumen hin, indem sie scharf und ängstlich um sich schauen. Bei jedem Geräusch zittert ihnen das Herz und stockt der Pulsschlag. Sie fürchten ebenso sehr ertappt wie erfaimt zu werden; wenn sie aber nur bemerkt und angeschrieen werden, wollen sie zufrieden sein. Auf den Schrei werden sie nach allen Seiten fliegen und verschwinden, und dann werden sie sich wieder bersammeln und mit vor Entzücken und Tollkühnheit funkelnden Augen einander lachend erzählen, was sie fühlten, als sie angeschrieen und verfolgt wurden und was mit ihnen geschah, als sie so schnell durch den Gorten liefen, als brenne die Erde unter ihren Füßen.