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uns verbieten würde, unsre lieben Vertrauten anstarrend zu be­läftigen, da hingegen das Recht der weder Verwandten noch Ver­schwägerten noch irgend wie Bekannten umumschränkt ließe, sich nach Herzenslust zu beschauen.

Sie sind plötzlich alle mit einander vertraut geworden. Das ges meinsame Erlebnis hat sie genähert. Sie tauschen lebhaft ihre Empfindungen, Die Hagere meint vornehm lässig:" Ich sag es immer, mait Aber wenn sie ihren Nachmittagsschlaf im Eisenbahn - Coupé ab- muß zweiter Klasse fahren. Wenn ich nun allein mit dem Kerl halten, dann benutze ich die Gelegenheit und veranstalte Forschungs- gewesen wäre!" reisen. Ich sehe mich etwas schräg in die Ecke, und lese in meinem Eine andre Dame erzählt einen Vorfall, wo sie einmal von Gegenüber. Da der junge Mann neben mir teilnamstos hinter Behlendorf bis Friedenau allein mit einem Wahnsinnigen gefahren einer Zeitung vergraben ist, habe ich keine Konkurrenz sei, der mit einem Taschenmesser einen Apfelsine geschält habe. Es zu befürchten und feine Entdecking: Ein feines, frisches war schrecklich! Köpfchen, dunkles Haar über einer launenhaften Stirn. Gewiß Ein altes Mütterchen bemerkt mitleidig: Mir thut nur die ein feckes Fräulein, hinter dessen geschlossenen Lidern wilde, unruhige arme Frau von dem leid." Augen glimmen. Der etwas geöffnete Mund scheint nach allerlei Die Blondine aber sieht sehr böse aus und ruft entrüftet: Seltenem, Aufregenden, Unerhörten zu schnuppern. Dabei schläft sie Das allerschlimmste aber war doch, daß der Mensch sich beim ganz fest, nichts mehr von der Berstellung des Wachens, der Lokal- Anzeiger" beschweren will. Der und Lokal- Anzeiger".I Schlummer stellt ihr Innerstes wahr und rein zur Schau. Merk Der gehört doch in den würdig ist nur, daß sie ihr Gesicht starr meinem Nachbarn zuwendet, als ob es selbst im Schlafe fühlte, daß da ein fröhlicher, derber und hübscher Bursche size. Plöglich aber sehe ich, wie das Geschöpf blitz­schnell die Augen öffnet und hinter die Zeitung des jungen Mannes lugt, gerade in dem Augenblick, da er seinerseits über das Blatt hinweg einen Ausfall auf das holde Gegenüber wagt.

Die Blicke prallen überrascht aneinander und erschrecken. Im Nu versinkt das Mädchen wieder in ihren tiefen Schlaf, und der junge Mann in seine Zeitung,*

Sein Leibblatt. Zwischen 4 und 5 Uhr nachmittag lieben es die behäbigen Bürgerinnen der Vororte, den Zug zu benügen, um in Berlin Besorgungen" zu machen.

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Zwei einander bekannte junge Frauen haben sich im Coupé getroffen. Jede hatte die Absicht; den Lokal Anzeiger" zu studieren, als sie sich aber saben, legten sie das Blatt beiseite und plauderten: über die Dienstmädchen zuerst, dann über die Schneiderin, endlich über die Kinder. Beide sind elegant angezogen, die eine ist bager und schon ein wenig verwittert, die andre eine üppige Bloudine mit einem runden glatten Gesicht, in dem kein Fältchen ist, die kleinen Schönheitsfehler der Haut mit einem Buderhauch zart verdeckt die gauze Erscheinung sehr appetitlich. Auf der nächsten Station zwängt sich ein breitrickiger Koloß ins Coupé. Kaum gelingt es ihm, das Trittbrett zu erklimmen und in die Thüröffnung hineinzufinden. Auf dem legten vorhandenen Blayz, mitten zwischen den stattlichen Bürgersfrauen, fällt er nieder. Er hat ein graues, fables Gesicht, seine Augen flackern irr.. Das ganze Coupé wird von Schnapsgeruch erfüllt. Der Mann macht den Eindruck eines herabgekommenen kleinen Handwerkers, vielleicht eines Schusters, der die Gewohnheit angenommen hat, den Früh schoppen zu verlängern. Er schüttelt unaufhörlich den Kopf, nurrt mißbilligend, ihm gefällt offenbar vieles in der Einrichtung der Welt nicht. Dabei versucht er durch galante Bewegungen die ängstlich zur Seite gewichene Blondine zu beruhigen; verständlich fann er sich zwar nicht machen, aber seine gute Absicht ist, der Damie zu bedeuten, daß sie sich nicht zu fürchten brauche und ruhig neben ihm fizen bleiben tönne.

Ein verlegenes Schweigen hat die Mitreifenden befallen. Es liegt eine Katastrophe in der Luft. Die Blondine umhüllt ihre Nase mit einem seidenen Taschentuch, blickt aber scheu, ob diese Demon­stration nicht etwa den Maun beleidige und aufrege.

Der Zug hält. Ein Herr mit goldenem Zwicker stürzt, während fich der Zug bereits in Bewegung fegt, eilig herein. Er unterläßt es, den Thürhebel nach oben zu drehen, und setzt sich neben den Betrunkenen hin, obwohl die Bant bereits voll besetzt ist.

Der Alkohol verschärft, wie man weiß, das Rechtsgefühl. Der Betrunkene hatte längst auf einen Anlaß gewartet, dieses ge­steigerte Rechtsgefühl zu bethätigen. Jetzt war die Gelegenheit ge tommen.

Thür zu," brüllt er.

Der Herr, einer von den Neudeutsch- Schneidigen, bei denen man immer das Gefühl hat, als ob sie nach Afrika gehören und dort mit der Nilpferdpeitsche weltpolitisch thätig sind, blidt empört auf und rührt sich nicht. Schon wegen des holden, aufmerksam zuschauenden Damenflors darf er nicht zugeben, daß der Betrunkene recht hat.

" Thür zu!" brüllt der Mann noch einmal, dann entschließt er fich, als der Vernünftigere nachzugeben, und bringt selbst nach einigen vergeblich tastenden Griffen den Hebel in die rechte Lage. Aber sein Rechtsgefühl fordert weitere Bethätigung. Er schubst mit den Ellbogen den Herrn mit dem goldenen Zwicker und sucht ihn von der Bank zu drängen:

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Hier ist kein Play mehr, hier sitzen schon vier. Ich habe auch mein Billet bezahlt und brauche mich nicht drücken zu lassen. ' s ist alles voll."

Wieder hat der Mann recht. Der Schneidige aber weiß, was er seiner Ehre schuldig ist und ruft: Aeh, machen Sie sich mal nicht maufig, sonst laffe ich Sie hinausbefördern."

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,, Vorwärts" 1"

Kleines Feuilleton.

Joc.

th. Heimkehr. Der Zug kommt von weit her, von Chorin , Freienvalde, aus der Märkischen Schweiz , wer weiß es? Es ist ein Extrazug: rasch, ohne Aufenthalt jagt er durch das sommerliche

Land.

Neim Uhr abends, es ist aber doch noch hell. Ueber den Wäldern liegt der letzte Wiederschein der Abendröte. Der Himmel glüht in tausend Farben, ein goldener Glanz durchleuchtet die Coupés.

Es fährt sich gut in diesem Zug. Kein Gedränge, nicht mal int der dritten Klasse. Man kann sich dehnen und strecken, und das thun die Insassen reichlich. Sie sehen müde aus, es ist aber solch eine Art zufriedener Müdigkeit. Sie lehnen sich auf ihrem Sig zurück, blinzeln verträumt auf die Felder hinaus und reden mit halblauten Stimmen von ihren Erinnerungen. Ach es war doch ein herrlicher Sonntag! Der Blick vom Kloster in despitergarten, weißt Du noch?" Wie die Sonne durch das B alan. es war als blitte

sie durch bunte Fenster." Ueberhaupt der wundervolle Wald! Drei Stunden haben wir bloß im Grafe gelegen und durch die Bäume in den Himmel ge sehen." ,, Und diese tiefe Einsamkeit!"

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" Ja, wenn man so weit hinausfährt, lohnt sich's noch, da bleibt man für sich, nahe bei Berlin ist ja alles überfüllt." Na überhaupt solch Sonntag nahe bei Berlin ! Schrecklich! In die Nähe fahren wir nur Wochentags." Da unten ist ja' ne Vorort- Station, jeht bloß, wie sie sich schubsen; ist das ein Andrang!" Es ist ja auch nur' ne Zweigroschen- Station, da fährt natürlich Krethi und Blethi hin."

Gräßlich, solche Rückfahrt, fie tann einem doch den ganzen Sonntag verleiden."

Aber die Leute unten auf der Vorort- Station sind durchaus nicht derselben Meinung. Sie laufen und rennen, fie schieben und stoßen sich, es giebt auch Büffe auch Büffe und manchen regelrechten Stoß. Es fallen Schimpfworte und allerhand Flüche; im allgemeinen ist man aber doch in höchst fideler Stimmung, und gar als alles eingeschachtelt ist und der Zug langsam zum Bahnhof hinausrollt. Mit einem bischen guten Willen geht alles, auch dreißig Menschen in ein Coupé. Wenn man die Kinder aufs Gepäcknez sezt, hat man sogar Platz" und kann die Hand bewegen. Das will was heißen! Aber ach nein es war doch ein zu schöner Sonntag!" Bloß das alles so voll war!"

da

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"

Das ist ja Sonntags immer."

" Ja, wenn man so in der Woche raus könnte, wo kein Mensch ist, dann muß es schön sein zwischen dem Korn."

"

"

Und erst da oben am Waldrand bei den drei Föhren."

" Ach Kinder, seid froh, daß Ihr Sonntag raus fönnt; wenn man mun Sonntags in Berlin bleiben muß?"

Schauderhafte Idee!" Ein Chor von Stimmen antwortet. ' n Sonntag in Berlin ist was gräßliches! Ich weiß nicht, wie Menschen das im Sommer aushalten! Wenn man die Woche gearbeitet hat, will man doch am Sonntag ins Grüne". Eine Stimme ruft: Ach eine Laubenkolonie." " Ja, seht doch, sie haben Ballons angezündet- italienische

Nacht!"

" Ist das allerliebst!"

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" Ich kann mir nichts denken bei' ner Laubenkolonie." ,, Nein, es ist gerade, als ob einer will und kann nicht:' n Garten, ach jeh, die paar Salat- und Bohnenbeete! Und da sizzen die Leute und denken, fie wären im Grünen."

" Ja, es ist eigentlich zum Lachen!"

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Wenn's noch so weite wogende Felder wären, wie draußen, oder' ne richtige Kirschenplantage, aber bloß solch' n Kohlfeld, na ja, es sind kleine Leute."

Dieses llebermaß der Ungerechtigkeit steigert die Erregung des Betrunkenen, eine Flut von undeutlichen Lauten strömt aus seinem" Ich begreife aber doch nicht, wie ihnen das genügen fann." Muude und schließlich sammeln sich seine wirr übereinander purzeln Die in der Laubenkolonie begreifen es aber ganz gut. Die den Gefühle in den Satz: Wijfen Sie was, Sie, ich werde mich letzten Lampions sind im Erlöschen. Dunkle Gestalten huschen auf beschweren, ich bring die Sache in'n" Lokal- Anzeiger" den Wegen und verlieren sich nach dem Eingang zu. Es ist längst Damit verfintt er erschöpft in dumpfes schweigendes Brüten. Auf zehn Uhr vorbei, man macht sich auf den Heimweg. Die Kinder der nächsten Station steigt er schwerfällig aus. schlafen, wenigstens die Kleinen. Müde lehnen sie das Köpfchen an Die Zurückgebliebenen atmmen auf. Der. Bann ist gewichen. Mutters Schulter, müde ist überhaupt alles. Man hat geschuftet

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