Unterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 158.

1881

78]

Freitag, den 15. August.

( Nachdrud verboten.)

Der Manksmann.

Roman von Hall Caine  . Autorisierte Uebersehung. Komm", sagte Philipp, Petes Arm ergreifend. ,, Darf ich mich auf Dich stützen, Philipp?" sagte Pete, und der sonst so kräftige Bursche ging schwankend die Treppe hinunter.

Sie segten sich einander gegenüber an das Kaminfeuer und ließen die Treppenthüre offen, um alles, was oben vor­ging, hören zu können.

,, Geh Du zu Bett, Nanch", sagte die Stimme Grannies. Wer weiß, wie bald Du gebraucht wirst."

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1902

Zuletzt schlief er vor äußerster Ermattung und Trostlosigkeit, die nur durch Philipps Anwesenheit wohlthätig gemildert wurde, auf seinem Stuhle ein.

Die Nacht verging, im Haus blieb alles ruhig; nur das heisere Röcheln der beschleunigten Atemzüge des Kindes tönte von oben herab.

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Ein böser Gedanke in frommem Gewande bemächtigte sich Philipps. Gott   ist weise," sagte er sich. Gott   ist barm­herzig. Er weiß, was uns allen zum besten dient. Was sind wir arme, ohnmächtige Geschöpfe, daß wir ihn zu bitten wagen, seine großen Zwecke zu ändern? Es ist vergeblich, es ist ruchlos... So lange dies Kind lebt, giebt es für uns feinerlei Sicherheit. Stirbt es, so kann Frieden und Ruhe eintreten und die Möglichkeit eines erfreulichen Zustandes.

,, Dann wecken Sie mich aber um zwölf Uhr, Grannie Die Mutter muß ihm schon im Tode vorangegangen sein, und wecken Sie mich ganz bestimmt!" so würde das dunkle Kapitel unsres Lebens endlich geschlossen werden. Gott   ist weise. Gott   ist allgütig!"

" Der arme Bete! Und er hat nicht so unrecht. Wie heißt es denn? Lasset die Kindlein

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Aber Cäsar wird diesmal wohl recht behalten, Grannie. Das Herzenskind ist so gewiß wie was vom Tod gezeichnet. Ich habe die Krähe, die sich beim Hochzeitsfest einfand, über des Kindes Kopf fliegen sehen, als es das letztemal aus war." Pete hörte aufmerksam zu. Philipp starrte gedankenlos in das Fener.

" Ich wußte mir nicht zu helfen, ich konnte wirklich nicht anders," flüsterte Pete nach der andern Seite des Kamins hinüber. Wenn einer ein frankes Kind hat, so liegt kein Trost darin, vom Heil der Seele zu sprechen. Man will ja doch nicht die Seele, sondern das Kind; nicht wahr, so ist es?"

Philipp gab eine verworrene Antwort.

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Natürlich kann ich nicht von Dir verlangen, daß Du mich verstehst, philipp. Du bist ein großer Mann, ein ge­scheiter Mann und ein Mensch von Gefühl, aber das kannst Du doch wohl nicht begreifen wie solltest Du auch? Der unreifste Gelbschnabel von einem Vater, der nur halb bei Verstand ist, ist Dir darin voraus, Phil. Verlaß Dich drauf. Nur jemand, der ein eignes Kind hat, weiß, was es be deutet. Etwas ruft ihm zu, es ist die Stimme des Blutes es ist Ich weiß nicht, ob ich es selbst richtig ver­ftehe-"

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Jedes Wort, das Pete sagte, war wie ein zweischneidiges Schwert. Philipp atmete schwer.

Du kannst den Schmerz eines andern mitfühlen, Gott  verhüte, daß Du je selbst solchen Kummer hast. Die Bücher find Deine Kinder, und wer nichts Besseres kennt, ist gut daran. Denn die armen Kleinen matt und frank zu wissen, sie leiden und verfallen zu sehen und nicht im stande zu sein, ihnen zu helfen, wenn sie immer wieder rufen und um Mit­leid bitten ohne Unterlaß, immer wieder ich kann Dir nicht sagen, was-"

Philipp war der Hals wie zugeschnürt. Er glaubte, daß er sich im nächsten Augenblick verraten würde.

,, Vielleicht hat der Doktor doch recht. Das Kind mag woh! nicht mehr bei uns bleiben, weil seine Mutter tot ist; möglich, daß es sich fortsehnt, das arme Ding. Und wer weiß, ob nicht die Mutter da drüben am User auf den kleinen Engel wartet und wartet und das Kind lockt und lockt.- Ich habe schon von dergleichen gehört."

Philipp ächzte. Der Kopf drohte ihm zu zerspringen. Seine Füße waren talt wie Eis. Eine große Furcht überkam ihn. Es war nicht Pete allein, mit dem er im Kampfe lag. Bei diesem Durchforschen und Zerfleischen des Herzens, das jeden Gedanken bloßlegte und jede Wunde aufriß, trat er mit Gott   selbst in die Schranken.

Die Glocke der Stirche fing an zu läuten. ,, Was ist das?" rief Philipp. Es hatte ihm wie Grab­geläute geflungen.

,, Diel Verree," sagte Pete. Die Glocke läutete den alten Mantischen Gottesdienst ein, bei dem die Weihnachtslieder gesungen werden. Petes Erinnerungen wurden wach. Er erzählte von seinen Weihnachtsabenden in der Ferne, wo es Sommer war statt Winter, wo fein Schnee auf dem Boden lag, sondern Früchte an den Bäumen hingen, und Leute, mit denen er vorher noch niemals gesprochen, ihm die Hände ge­schüttelt und ein glückliches Weihnachtsfest gewünscht hatten.

Das Kind stieß einen schwachen Schrei aus, und Philipp fchlich hinauf um nachzusehen. Grannie war auf ihrem Size eingeschlummert, und die kleine Katharine lag auf dem Bett. Eine mißachtete Puppe trieb sich mit dem Kopf zu unterst auf der Bettdecke herum. Das Feuer war ausgebrannt und der Kessel hatte aufgehört zu dampfen, es glimmte nur noch unter der Asche. Man hörte kein Geräusch in der Stube außer dem fliegenden Atem des Kindes, der dem Raspeln einer Feile glich, und zuweilen einen schwachen Hustenanfall.

Philipp schlich geräuchlos hinein, fniete am Kopfende des Bettes nieder und beugte sich über das Kissen. Ein Licht, das auf dem Kaminsimse brannte, warf seinen Schein auf das Kinderköpfchen. Die Züge waren verzerrt, die schmalen Nasen­löcher pulsierten unaufhörlich, auf der Lippe standen Schweiß­perlen, die schöne runde Stirn war feucht, und die seidig glänzenden Härchen klebten zusammen.

Philipp glaubte, das Kind läge im Sterben, und mit seiner häßlichen Frömmigkeit war es aus. Jetzt regte sich etwas auf dem Bette. Eine kleine Hand, die fest zusammen­geballt auf der Brust gelegen hatte, tam über die Decke und glitt ausgestreckt und offen vor ihm herab. Es erschien ihm wie ein stummer, kläglicher Hilferuf, und die unterdrückte Bärtlichkeit des Vaterherzens gewann die Oberhand. Ihr Kind sein Kind war dem Tode nahe, er saß daneben und wagte noch immer nicht, sich dazu zu bekennen.

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Eine neue Furcht überfiel ihn. Nein, des Kindes Tod gab teine Sicherheit, keinen Frieden, keine Ruhe. Es war nur ein Frrwahn. Starb das Kind, so würde er sich sicherlich verraten. Mein Kind! mein Liebling!" würde er schreien, Käthe meiner Käthe!" Er würde sich nicht länger be­herrschen können und alles heraussagen, was sich ihm un­widerstehlich auf die Lippen drängte. Das schwarze Geheimnis, am Rande eines offenen Grabes an enthüllen, müßte schrecklich, entseglich, grauenhaft sein. O, habe Erbarmen, Herr, laß sie am Leben!"

In einer Angst, die an Wahnsinn grenzte, ging er hinab und schüttelte Pete bei den Schultern, um ihn zu wecken.

,, Komm rasch," sagte er.

Pete öffnete die Augen mit verstörtem Blick. Es geht besser nicht?" fragte er.

ich

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Nur Mut!" sagte Philipp.

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Geht's schlechter?"

,, Auf Leben und Tod. Wir müssen etwas versuchen, das auf meiner Reise gesehen habe.

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Guter Gott! und ich habe geschlafen! Rette sie, Philipp. Du bist start, Du bist geschickt="

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Um Gottes willen, schweig still! Rasch einen Kessel kochendes Wasser eine wollene Dede- heiße Handtücher." ,, O, Du bist ein Freund in der Not, Du wirst sie retten. Die Aerzte vissen ja nichts."

Zehn Minuten später fing das Kind leise zu meinen an, hustete, warf losen Schleim aus und erwachte aus dem be­täubten Zustand, in dem es eine Woche lang gelegen hatte. n weiteren zehn Minuten faß es in heiße Handtücher ge wickelt auf Petes Knie vor einem prasselnden Feuer, öffnete die Aeuglein, spizte das Mündchen und gab ein paar under­ständliche Laute von sich.

Jest wachte Grannie erschrocken auf und war außer sich