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demokratischen Berlin   doch auch selbstverständlich, daß hier nicht die Hunderttausende den Befehlen eines Einzelnen parieren, daß man die Boeren feiert, obwohl ihr Boykott höchstes Gesetz sein sollte.

Auch das ist zweifellos, daß die Proletarier innig und aufrichtig mit den Führern des Boerenvolks fühlen; die Boeren haben für die Freiheit und Unabhängigkeit als Schwache und Wenige gegen die Starken und Zahllos- Vielen gekämpft, diese eine Thatsache genügt, um ihnen die Sympathien derer zu gewinnen, deren ganzes Dasein ein einziges gewaltiges Ringen gegen die übermächtige Ver­nichtung ist, mögen die Boeren nach Art und Wesen sonst proletarischen Idealen noch so fremd und feindlich sein.

Aber nicht das Proletariat ist es, das die Boeren umringt. Das ist vielmehr ein Premierenpublikum der höheren Steuerklassen, das sich selbst zur Schau stellen will, indem es sich an die Fersen der Botha und Delarey heftet. Ein gemeines Gafferstück für den frisierten Müßiggang und die eitle Hohlheit ist dieser Boeren­empfang. Nicht anders ist es gewesen, als wenn wilde Völkerschaften im Zoologischen Garten ausgestellt oder die dunkeln Gestalten be­gafft werden, die der rasende Mont Belée offenbar mur deshalb verschont hat, damit ihre Werkwürdigkeit ein staunendes Cirtus publikum zu ergößen vermöchte. Das Abscheuliche ist nur, daß diese Generale, die also durch die Großstädte Europas geschleift werden, feine Erfindungen, feine Puppen Barnums find, sondern die wirklichen Führer und Opfer eines unvergleichlich heroischen Kampfes.

Was mag in den Seelen der drei Männer vorgehen, wenn sie jetzt mit den Blumen und den Hurras eines glatten und platten Schaupöbels beworfen werden? Fühlen sie das würdelose und über­dies das völlig Nuzlose ihrer Europafahrt, die schlechte Ratgeber ihnen um ihres Bolles willen anrieten?

Ja vermag nicht in ihren Herzen zu lesen. Diefe Kriegsleute find zum mindesten sehr weltuntundig, wenn sie sich von der qual­vollen Mission irgend welche Vorteile versprechen. Die ganze deutsche Boerensippschaft hat ein paar Pfennige für das unglückliche Bolt zu fammengebracht; ein einziger von den reichen Gönnern hätte, ohne fich die geringste Selbstbeschränkung aufzuerlegen, das Zehnfache der Summe hergeben können, die sie alle zusammen um der großen Sache Willen opferten. Und für dieſes Nichts die beſchämende Bittreiſe

der Armen!

Visweifen hat es in den Reden der Generale, die sie in Brüssel, Baris und Berlin   gehalten, wie mühsam verhaltener Abscheit ge­grollt, so daß man glauben möchte, fie haben das volle Bewußtsein ihres Elends, das fie meinten, auf sich nehmen zu müssen, weil Thoren oder Böswillige ihnen eingeredet haben, daß es not wendig fet. Haben sie aber diese flare Selbstempfindung, dann müßte ihre Abichiedsrede an das Europa   der kapitalistischen   Humani tät etwa so lauten:

Wir haben alle Städte Eures reichen Erdteils durchwandert, Eure Begeisterung in allen Sprachen gläubig gehört. Die breitesten Straßen Eurer größten Städte wurden zu eng, um die Massen der Janczenden zu faffen. Wir fahen die gedrängten Hunderttaufende und Millionen, die ihre Liebe in die Luft schrien und ihre Taschen tücher entfeffekten. Eure vornehmsten Männer drängten sich, um uns von Angesicht zu sehen, unsre Freundschaft zu erhaschen. Da Ternten wir die unermeßliche Menge unsrer Getreuen kennen, die ganze Welt, wahrlich, schwört zu unsrem armen Volk.

H

Dach Emes verwunderte uns. Von welchem Stern find uns diese Hilfstruppen plöglich gefallen? Sind sie erst gestern geboren und wurden über Nacht zu. Jünglingen, Männern und Greisen? Denn vordem waren, fie doch nicht auf Erden! Drei lange, qual volle Jahre hindurch haben wir in unserm Jammer um Hilfe ge­schrien. Niemand hörte uns. Die Erde schien verödet. Die Diplomaten zuckten die Achseln, die Parlamente waren taub und die Böffer hatten teine geit für uns. Dafür verlauften e un teures Geld Kanonen und Pferde an unfre Feinde. So gingen wir zu Grunde. Und mum da wir alles verloren, wachsen jäh aus der Erde ungezählte Scharen, die selbst die Gesundheit ihrer Kehlen opfern, um uns zujubeln zu können, wie sie uns lieben. D. warum waren nicht einige von diesen Ungezählten schon früher auf der Erde, fie wären gemig getvefen, um uns zu retten!

Wir aber sagen Euch, in dem wir Euch für die Heller danken, mit denen ihr die Blöße und den Hunger unfres Bolles verspottet: Furchtbar war der Krieg, aber tausendmal eher wollen wir in Stürmen von Granaten auf kaltem Boden Tag und Nacht dem Tode harren, als nochmals Schaustücke werden Eurer Mitdthätigkeit. Wie jener greise Künstler, von dem die Sage fündet, schleppen wir auf unserm Rüden die Kupferlast Eurer Bettelpfennige, zufammenbrechend.

Schamlosigkeit mur ist Eure Liebe, die nach ruchlojem Berrat jezt uns umlärmt, statt scheu in die ferne Nacht ihres Gewissens zu fliehen. Mit dem Ruhm der Besiegten mästet Ihr Eure Eitel­feit, und Eure Seelen find so stumpf, daß fie selbst an den Leichen ihrer Opfer Feste feiern."

Kleines feuilleton.

Joc.

hm. Eine Nacht. Es ist fast jedesmal das alte Lied. Jh tomme in der letzten Minute, gerade noch rechtzeitig genug, um ein­steigen zu können, oder ich komme, wenn die Schaffner ganz un­nadjahmlich das Wort Abfahrt" rufen, stehe dann schweißtriefend am Durchgang und sehe wehmütigen Auges dem Enteilenden nach

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Woher das fommt? Manchmal, weil ich viel Arbeit habe und manch mal, weil ich der Bahnhofshallenluft nun einmal nicht das nötige Interesse abgewinnen kann.

Diesesmal war ich glücklich da, ehe die Thüren zugeknallt wurden, sprang auf die Plattform und war drin. Na, Gott sei Dant, es ging heute, ich fonnte noch sitzen. Die Thüre fliegt zu, Fertig. Abfahrt!" Ein Pfiff der Lokomotive, ein Stampfen und Stöhnen und der Zug setzt sich in Bewegung. Noch ein paar Minuten und Bahnhofshallen und Bogenlampen sind überwunden. Draußen ist es fast schon Nacht. Die Häuser erscheinen wie schwarze Ingeheuer und alle die bunten Lampen auf dem Bahugeleise wie Irrlichter, und durch alles das hindurch jaust der Zug, schwarz, unheimlich, lebend mit seinen großen, glühenden Feueraugen und die Nacht ist lau und lind, fein Luftzug, als ob es Hochsommer wäre. Das Ganze ein Johannisnachtspuf, und doch ist es Herbst. Trinnen im Wagen brennen trübselige Lampen, es ist, als wollten sie einschlafen, müde, stumpf von dem ewigen Einerlei. Ihre Schwestern in den ersten Abteilen haben es besser, fie sehen ein wechselvolleres, manchmal sogar recht farbenprächtiges Bild; dürfen auf geistvolle und nicht geistvolle Reden lauschen. Darum brennen sie auch heller und lustiger, ihnen ist das Leben dort angenehmer als den Schwestern hier, wo es neben lauter heller Fröhlichkeit, Lärm, Kindergeschrei, Harmonikamujit, doch jeden Tag ganz hinten in der fernsten Ecke, wo bei dem trüben Lichtschein tiefe Schatten lagern, ein Stückchen tiefen, nackten Elends giebt.

Meine Mitreisende sind während meiner furzen Betrachtung. fast alle nach und nach eingeschlummert. Zuerst die alte Frau da brüben mit dem lieben, guten Gesicht, welches mich an meine Mutter erinnert. Ihr gegenüber nicht ihr Sohn, ein junger Mann von ungefähr 20 Jahren, welcher denselben gutmütigen, aber nicht den intelligenten Gesichtsausdruck der Mutter hat. Sie sind beide nur auf Besuch in der großen Stadt gewesen. Ihr gefiel es ganz gut in Berlin  , aber dem Sohne nicht, er hatte schon Sehnsucht nach seinem fleinen westfälischen Corfe, wo er mun eine zeitlang ein Held sein wird, weil er zwei Wochen in Berlin   gewesen ist und darum ein ganz anderer Mensch sein muß, als die anderen Burschen.

Auch die dicke Bauersfrau an meiner Seite ist verstummt, nach das schwarze Ungehener diese Nacht bringen soll. und in welcher dem sie durch offenherziges Fragen von mir erfahren hat, wohin mich Stadtgegend und wieviel Treppen hoch meine Wohnung in Berlin  ist. Erstaunt schaue ich mich jetzt nach dem lebenden Fragezeichen um, auch sie ist sanft entschlummert und nicht so eifrig über ihren großen Henkelkorb hin, als ob sie mit der Frau Kantorin spräche. Ein altes, liebernstes Ehepaar. Ein Händler, der es sich bequem gemacht hat und der dem neben ihm sizenden Türken in der hohen roten Müße und dem dunklen, hübschen Gesicht auf seine Frage, eb er französisch sprechen könne, durch immer lauteres Sprechen die deutsche Sprache verständlich zu machen suchte, offenbar von dem Gedanken befeelt, daß der fremde Mann, mit dem er sich ganz gern, unterhalten möchte, ihn verstände, wenn er langsam und laut Wort für Wort spricht.

Ein paar junge Mädchen, in der Mitte des Wagens ein großer Reisekorb und die bunten Decken des türkischen Mannes, der noch nicht vom Schlaf befallen ist, aber unverwandt auf seine Decken starrt.

Und dann, ganz in die Ede gedrückt, vor dem friedlichen, schlummernden Bilde zurückweichend, das Elend; das graue, zitternde, entblößte Elend. Ein bleiches, junges Polenweib, auf deren Schoz sich ein fleines Wesen von Zeit zu Zeit wie im Stampfe windet. Aber es stößt feinen Schrei aus und die junge Mutter meint auch nicht; jezt guckt sie auf, unsre Augen treffen fich und ich schaudere sujauten. Co viel Glent, jo viel perzzerreißenden Jammer habe ich noch nie im Leben gesehen, wie aus den Augen dieses flaglofen Weibes spricht, und doch habe ich schon so viel Elend geschaut. Leise trete ich herzu; ich verstehe kein Bolnisch, fie fein Deutsch  , aber ich sche das Kindchen an und dann wieder die Mutter und dann streichle ich ihre harten verarbeiteten Hände, ich kann ja nicht anders trösten, gebe ihr ein paar Stückchen Obst und Kuchen für das Kind. Wie leises Leuchten gleitet es bei meiner Berührung über das verhärmte Gesicht, fie sieht mich wieder an und die Augen sprechen: Hab* Lant für Dein Mitleid."

Stunden sind verflossen, ich trete ans Fenster. Der Zug eilt noch immer durch die dunkle, leuchtende Herbstnacht. Der dide Cala der Lokomotive wälzt sich schwer und erstickend über die Wagenteihen hin, über alle Abteile, unheildrohend, finster, und er weicht nicht. Die Räder des Zuges faufen, von der Dampfkraft da vorne gezogen, vorwärts, immer fort, der Ursprungsquelle des schwarzen auches nach; aber sie kommen nicht zum Ziel, es iſt wie em Spiel ven Dämonen, welches den Zug in rasender Eile vor­

wärts reißt.

Bäume und Sträucher heben sich in dunklen Umrissen von der Nacht ab, über uns leuchten noch die Sterne, aber ganz fern unten ani Horizonte ist se on ein lichter, zartrofiger Schein; der Morgen graut.

Ein kurzer Pfiff, ein Stampfen, Stöhnen da vorn, der Zug hält, zum so und so vielten Male während der nächtlichen Fahrt. Das junge Weib da drüben ist mit ihrem Kindchen auch ein bischen eingeschlummert.

Ich bin am Ziele. Aufatment verlasse ich das Coupé, eine herbe, würzige Luft umfängt mich, die dumpfe Schwere weicht von Leib und Seele. Und dann eine Fußwanderung durch taufrische.