Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 50.

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Das Geld.

Donnerstag, den 12. März.

( Nachdruck verboten.)

Roman von Emile Zola  .

Bisher hatte Frau Karoline keine Gelegenheit gehabt, mit der Gräfin und ihrer Tochter zu sprechen. Sie kannte schließlich die geheimsten Einzelheiten ihres täglichen Lebens und gerade die, welche sie vor der ganzen Welt zu verbergen glaubten. Bis jetzt war es erst zum Wechseln von Blicken gekommen, von jenen Blicken, in denen man hinterher eine rasche Aufwallung von Mitgefühl empfindet. Die Fürstin Orviedo sollte die Frauen zusammenbringen. Sie hatte den Gedanken gehabt, für ihr Kinderheim eine Art Aufsichtskommission zu schaffen, aus zehn Damen bestehend, die zweimal monatlich sich ver­sammelten, das Haus gründlich besichtigten und alle, Dienst zweige einer Prüfung unterzogen. Da sich die Fürstin die Auswahl der Damen vorbehalten hatte, so hatte sie in erster Reihe auch die Gräfin Beauvilliers bezeichnet, eine ihrer guten Freundinnen von ehemals, die, seitdem fie völlig zurückgezogen lebte, einfach eine Nachbarin geworden war. Bald darauf hatte diese Aufsichtskommission ihren Schriftführer unerwartet verloren. Saccard, der noch in der Verwaltung der Anstalt die oberste Leitung inne hatte, war auf den Einfall gekommen, Frau Karoline als einen musterhaften Schriftführer zu empfehlen, wie man nirgends einen finden könnte. Die Arbeit war in der That ziemlich mühevoll; es gab viele Schreibereien, sogar hauswirtschaftliche Sorgen, welche den übrigen Damen etwas zuwider waren.

Schon in den ersten Tagen sollte sich Frau Karoline als eine wunderbare Hausmutter entpuppen, die vermöge ihres umgestillten Durstes nach Mutterfreuden und ihrer ver­zweiflungsvollen Liebe zur Kinderwelt alsbald in werkthätiger Zärtlichkeit für alle jene armen Wesen entflammt war, die man aus der Pariser   Gosse zu retten sich bemühte. Bei der letzten Ausschußsigung war sie demnach mit der Gräfin Beau­villiers zusammengetroffen; diese aber hatte nur einen fühlen Gruß an sie gerichtet, um ihre heimliche Verlegenheit zu ver­bergen, in der Empfindung, sie habe in Frau Staroline einen Zeugen ihres Elends vor sich. Seitdem grüßten sich beide Damen, so oft ihre Augen sich trafen und es ohne gar zu große Unhöflichkeit nicht anging, einander nicht zu kennen. Eines Tages, während Hamelin einen Plan nach neuen Berechnungen berichtigte und Saccard über seine Schultern hinweg in die Arbeit sah, stand Frau Karoline wie gewöhnlich im großen Zeichenzimmer am Fenster und sah der Gräfin und ihrer Tochter zu, die im Garten ihren gewohnten Spaziergang machten. An diesem Morgen hatten beide Damen so erbärm liche Schuhe an den Füßen, daß sie von einer Lumpen sammlerin in einem Kehrichthaufen nicht aufgelesen worden

wären.

O, diese armen Frauen!" murmelte sie. Wie schrecklich und herzzerreißend muß diese Komödie von Lurus fein, zu welcher sie sich verpflichtet glauben!"

Dann trat sie hinter den Fenstervorhang zurück, damit die Mutter sie nicht wahrnehme und noch schmerzlicher darunter litte, sich so belauscht zu wissen. Sie selbst war in den letzten drei Wochen ruhiger geworden, seitdem sie jeden Morgen an diesem Fenster sich vergaß. Der große Schmerz über ihre Ver­einsamung schlummerte ein; es war, als ob sie angesichts des fremden Ungemachs das eigne mutiger auf sich nehme, jenen Zusammensturz ihres ganzen Lebens, wie sie geglaubt hatte. Hin und wieder merkte sie verwundert, daß sie wieder Lachen konnte.

Noch einen Augenblick schaute sie in tiefes Träumen ver­loren den beiden Frauen in dem von Moos überwucherten Garten nach; dann drehte sie sich nach Saccard um.

,, Sagen Sie mir doch," begann sie lebhaft, warum ich nicht traurig sein kann?... Nein, es hält nie an, es hat nie angehalten, ich kann nicht traurig sein, was mir auch zustoßen mag! Ist das Selbstsucht? Fürwahr, ich glaube es nicht. Das wäre zu unschön, und zudem, wenn ich auch fröhlich bin, bricht mir immer das Herz beim Anblick des geringsten fremden Leides. Neimen Sie sich das zusammen! Ich bin Lustig und könnte dabei über alle Unglücklichen weinen, die vorbeigehen, wenn ich mich nicht zurückhielte, wohl wissend,

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daß das kleinste Stückchen Brot ihnen viel lieber wäre als meine nutzlosen Thränen."

Bei diesen Worten brach sie in ihr herzliches, muterfülltes Lachen aus, ein tapferes Weib, welches thätiges Handeln ge­schwäßigem Mitleid vorzieht!

,, Gott   weiß trotzdem," fuhr sie fort, daß ich Ursache gehabt habe, an allem zu verzweifeln. O, bis jetzt hat mich das Glück nicht verhätschelt. Nach meiner Heirat habe ich in jener Hölle, in welche ich geraten war, beschimpft und miß­handelt wurde, eine Zeitlang geglaubt, es bliebe mir nichts mehr übrig, als ins Wasser zu springen. Ich bin nicht hinein­gesprungen! Vierzehn Tage später jubelte mein Herz auf, von unermeßlicher Hoffnung geschwellt, als ich mit meinem Bruder nach dem Orient abreiste... Nach unsrer Rückkehr nach Paris  habe ich in der höchsten Not schreckliche Nächte zugebracht, in denen ich uns beide über unsren schönen Plänen verhungern sah. Wir sind nicht verhungert, und ich habe wieder an­gefangen, von großen Dingen zu träumen, von glückbringenden Dingen, über die ich manchmal selber lachen mußte... Legt­hin, als jener schreckliche Schlag über mich kam, von dem ich noch nicht zu sprechen wage, war mein Herz wie entwurzelt. Ja, ich habe thatsächlich gefühlt, daß es nicht mehr schlug, und glaubte da, es sei gänzlich aus und vorbei mit mir. Aber, im Gegenteil, da faßt mich die Lebenslust aufs neue; heute scherze ich, morgen werde ich hoffen, und ich werde wieder leben wollen, immerdar leben. Wie merkwürdig, daß man nicht längere Zeit traurig sein tann!" Saccard zuckte lachend die Achseln.

,, Ach was! Sie sind wie alle Leute, so ist eben das Leben." ,, Glauben Sie?" rief sie erstaunt aus; mir kommt es vor, als gäbe es traurige, niemals. fröhliche Menschen, die sich vor lauter Schwarzfeherei das Leben unmöglich machen. Ich gebe ich zwar feiner Täuschung hin über das Liebliche und Schöne, was mir das Leben bietet. Es ist zu hart für mich gewesen, ich habe es schon aus zu großer Nähe gesehen, überall und unverhüllt; es ist fluchwürdig, das Leben, wenn es nicht gemein ist. Aber was ist dagegen zu thun? Ich habe es ein­mal lieb, ohne zu wissen warum. Mag um mich her alles in Gefahr schweben und krachend zusammenstürzen, ich stehe trotz­dem schon am folgenden Tag voll froher Zuversicht auf den Ruinen... Oftmals habe ich gedacht, mein Fall sei im Kleinen derjenige der Menschheit, die allerdings in grauen­haftem Elend lebt, aber durch jedes junge Geschlecht wieder fräftig aufgefrischt wird. Auf jedes Leid, das mich nieder­drückt, folgt gleichsam eine neue Jugend, ein verheißungsvoller Frühling, der mich erwärmt und mir den Mut hebt. Dies ist so sehr wahr, daß, wenn ich nach schwerem Leid auf die Straße, ins Tageslicht hinaustrete, ich sofort wieder zu leben beginne, zu hoffen, glücklich zu sein. Das Alter hat auch keine Macht über mich, ich bin naiv genug, alt zu werden, ohne es zu merken. Sehen Sie, ich habe viel zu viel gelesen für eine Frau und weiß nicht mehr, wohin ich gehe, ebenso wenig übrigens, wie die ganze weite Welt es weiß. Jndessen kommt es mir unwillkürlich vor, als ob ich), als ob ivir alle etwas sehr Schönem und ungetrübt Heiterem entgegen gingen."

Am Schlusse der Rede hatte sie einen scherzenden Ton angeschlagen, um ihre Rührung und Hoffnung zu verbergen, während ihr Bruder voll dankbarer Verehrung zu ihr aufblickte.

Du!" erklärte er, Du bist den Katastrophen ge­wachsen, Du bist die verkörperte Liebe zum Leben!" In diese täglichen Morgenplaudereien war allmählich eine Wenn sich Frau fieberhafte Erregung hineingekommen. Staroline dieser natürlichen und mit ihrer Gesundheit innig verknüpften Fröhlichkeit wieder zuwandte, so rührte dies von dem Mute her, welchen Saccard ins Haus brachte mit seiner feurigen Rührigkeit in großen Geschäften. Die Sache war fest beschlossen, man wollte die vielbesprochene Mappe ausbeuten. Unter den grellen Lauten seiner Stimme fam in alles neues Leben und übertriebene Thätigkeit hinein. Zuerst wollte man sich des mittelländischen Meeres bemächtigen, man eroberte es vermittelst der Compagnie Générale der vereinigten Dampf­bote"; dann zählte er die Häfen aller Küstenländer auf, in denen man Dampferstationen errichten wollte, und mischte unklare klassische Erinnerungen in seine Spekulanten­begeisterung hinein. Er pries jenes Meer, das einzige, welches