Nnterhaltungsblatt des Vorwärts Nr. 109. Sonntag, den 7. Juni. 1903. (Nachdruck verboten.) '0 Das Geld» Roman von Emile Zola . Es war Karoline gelungen, Saccards Hände zu ergreifen, ängstlich schmiegte sie sich an ihn. „Nein, nein!.schweigen Sie, Sie flößen mir Angst ein!" Wider ihren Willen stieg aus der Tiefe ihres Entsetzens die Bewunderung höher und höher. In dieser elenden, kahlen Zelle, die verriegelt und von der lebendigen Welt abgesondert war, stieg jäh die Empfindung einer überquellenden Kraft in ihr auf, zeigte sich der gleißende Schimmer des Lebens, die uiwerwüstliche Hoffnung, die zähe Ausdauer des gegen den Tod ringenden Menschen. In ihrem Herzen fand sie schon keinen Zorn mehr, keinen Abscheu vor den begangenen Freveln. Hatte sie nach dem von Saccard heraufbeschworenen heillosen Unglück den Mann nicht verdammt? Hatte sie nicht die gerechte Züchtigting für ihn herbeigefleht, den Tod in Ein- samkeit und Verachtung? Und von alledem blieb jetzt nur ihr Haß des Bösen und ihr Mitleid für alle Leiden übrig. Wie eine unbewußte treibende Kraft gewann Saccard die alte Herrschaft wieder, und sie ließ es willig geschehen, wie man das Joch einer unabwendbaren Naturgcwalt still duldend erträgt. Mochte dies auch bloß eine weibliche Schwäche sein, sie überließ sich derselben mit Wonnegefühl, sie überließ sich der ungessillten Sehnsucht nach Mutterfreuden, dem un- säglichen Bedürfnis nach Liebe, welches trotz der fehlenden Achtung und trotz ihrer durch Lebenserfahrungen geprüften Vernunft ihr diese Liebe zu Saccard eingeflößt hatte. „Alles ist ja aus," wiederholte sie nochmals, ohne seine Hände aus den ihrigen zu lassen.„Können Sie sich denn nicht beruhigen und endlich ausruhen?" Als er sich dann auf die'Zehen erhob, um auf die weißen Locken, die in üppiger Jugendfülle ihr Haupt zierten, seine Lippen zu drücken, da hielt sie ihn zurück und fügte mit fester Entschiedenheit und tiefer Trauer hinzu, wobei sie jedes Wort nachdrucksvoll betonte: „Nein, nein! es ist aus, für immer aus... Ich bin froh, Sie ein letztes Mal gesehen zu haben, damit zwischen uns kein Zorn bestehen bleibe. Leben Sie wohl!" Beim Weggehen sah sie ihn in ungeheuchelter Rührung über den Abschied am Tisch stehen, aber schon ordnete er mit instinktiver Bewegung die Papiere wieder, die er in seinem Fieberwahn durcheinander geworfen hatte. Das Zweisous- Sträußchen hatte sich zwischen den Papieren entblättert, er nahm jeden Bogen einzeln auf und streifte mit den Fingern die Rosenblättchen fort. Erst drei Monate später, gegen Mitte Dezember, kam der Prozeß der Banque Universelle endlich zur Verhandlung. Fünf lange Sitzungen füllte er unter sehr reger Neugier aus. Tie Presse hatte um die Katastrophe einen ungeheuren Spektakel gemacht, merkwürdige Geschichten betreffs der Saumseligkeit der Untersuchung waren im Umlauf. Die Darlegung des Thatbcstandes von feiten der Staatsanwalt- fchaft machte großen Eindruck. Es war ein Meisterstück grimmiger Logik, hei welchem die geringsten Einzelheiten mit unerbittlicher Klarheit aneinander gereiht, ausgenützt und ge- deutet waren. Uehrigcns hieß es allgemein, daß das Urteil zum voraus gefällt war. Trotz der in die Augen springenden Redlichkeit Hamelins, trotz der heldenmütigen Haltung Saccards, der die fiinf Tage hindurch der Anklage standhielt, trotz der herrlichen und Aufsehen erregenden Verteidigungs- reden der Anwalte beider Angeklagten wurden diese in der That zu einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren nebst drei- tausend Frank Geldbuße verurteilt. Allem beide waren einen Monat vor der Verhandlung unter Bürgschaft vorläufig frei gelassen worden und somit als„freie Angeklagte" vor Gericht erschienen. Infolgedessen durften sie appellieren und binnen dicrundzwanzig Stunden Frankreich verlassen. Rougon hatte diesen Ausgang verlangt, da er den Verdruß nicht auf sich laden wollte, seinen eignen Bruder im Gefängnis sitzen zu haben. Die Polizei überwachte sogar die Abreise Saccards, der mit dem Nachtschnellzug nach Belgien abfuhr. Am gleichen Tage war Hamelin nach Rom abgereist. Und wieder verrannen drei Monate; die ersten Tage des Aprils waren da, und Frau Karoline befand sich immer noch in Paris , wo die Regelung unentwirrbarer Geschäfte sie zurückhielt. Sie hatte immer noch die kleine Wohnung im Hotel Orviedo inne, dessen Versteigerung Maueranschläge ankündigten. Endlich waren die letzten Schwierigkeiten ge- schlichtet und konnte sie abreisen, zwar ohne Geld in der Tasche, aber auch ohne die geringste Schuld zu hinterlassen. Am folgenden Tage wollte sie Paris den Rücken kehren und nach Rom zu ihrem Bruder reisen, der durch einen Glücksfall eine kleine Anstellung als Ingenieur erlangt hatte. Er hatte ge- schrieben, daß bereits Unterrichtsstunden auf sie warteten. Ihr ganzes Leben war also von vorn anzufangen. Am Vormittag des letzten Tages kam ihr beim Aufstehen der Wunsch, sich nicht zu entfernen, ehe sie den Versuch ge- macht hätte, über Victor Erkundigungen einzuziehen. Bis jetzt waren alle Nachforschungen nutzlos geblieben, aber sie er- iniierte sich des Versprechens der Mschain und sagte sich, vielleicht habe diese etwas erfahren. Es war leicht, bei ihr nachzufragen, wenn sie sich gegen vier Uhr zu Busch begab. Zuerst wies sie den Gedanken weit von sich. Wozu auch? War denn nicht alles tot und begraben? Dann aber empfand sie einen wirklichen Schmerz, wie um eines verstorbenen Kindes willen, auf dessen Grab sie vor der Abreise keine Blumen gelegt hätte. So begab sie sich um vier Uhr nach der Rue Feydeau . Die beiden Thören nach dem Hausgang standen offen, in der dunklen Küche hörte man Wasser heftig kochen, während drüben in dem engen Zimmerchen die M6chain in Büschs Lehnstuhl saß, inmitten eines Hanfens Papier vergraben, welche sie in ungeheuer dicken Bündeln aus ihrer Leder- tasche zog. „So! Sie sind's, meine gute Dame! Sie kommen in einem sehr bösen Augenblick. Herr Sigismund liegt im Sterben, und der arme Herr Busch verliert förmlich den Kopf, Er hat seinen Bruder so gerne! Er läuft nur wie ein Wahn- sinniger umher und ist jetzt wieder fort, um einen Arzt zu holen... Sie sehen, ich muß mich seiner Geschäfte annehmen, denn seit acht Tagen hat er nicht einmal ein einziges Papier gekauft oder nur die Nase in einen Schuldschein gesteckt. Zum Glück habe ich vorhin einen Fischzug gemacht, o, einen seinen Fischzug, der ihn ein bißchen in seinem Kummer trösten wird, den guten Mann, sobald er die Bernunft wieder erlangt hat." Tief ergriffen vergaß Frau Karoline, daß sie Victors wegen gekommen war: denn in den Papieren, welche die Mschain mit vollen Händen aus ihrer Ledertasche zerrte, hatte sie die Aktien der Ilniverselle erkannt. Die alte Tasche strotzte davon, sie zog immer noch mehr heraus und wurde in ihrer Freude mitteilsam.... „Da schauen Sie! Alles habe ich für zweihundertund- fünfzig Frank bekommen; es sind mindestens fünftausend Stück da, das macht also ein Sou pro Stück... He? Ein Sou für Aktien, die auf dreitausend Frank gestanden sind. Jetzt sind sie fast auf den Papierwert gesunken, ja wohl, Wurst- Papier... Trotz alledem sind sie etwas mehr wert, wir schlagen sie mindestens für zehn Sous wieder los, weil sie bei Bankrotten ziemlich gesucht sind. Sie begreifen, die Papiere haben einen so guten Ruf gehabt, daß sie immer noch bei Passiven sich ganz schön ausnehmen; es gilt für sehr fein, als Opfer der Katastrophe sich hinzustellen... Kurz, ich habe nnt ganz ungewöhnlichein Glück die Grube aufgespürt, in welcher diese ganze Partie seit der Börsenschlacht schlummerte, einen alten Schlachthausrest, den ein mangelhaft unterrichteter Dummkopf mir für ein Bettelgeld hingeworfen hat. Sie können sich denken, wie ich darüber hergefalleil bin!� O, ich habe nicht viel Ilmstände gemacht, sondern schleunigst den ganzen Plunder zusammengerafft!" Im lauten Ausbruch ihrer Freude glich sie einem gierigen Raubvogel von den Schlachtfeldern der Finanz, wie ihre kurzen Krallen in diesen Leichen wühlten, in diesen schon vergilbten und einen Moderduft aushauchenden entwerteten Aktien. Jetzt drang aus dem Nebenzimmer, dessen Thüre eben- falls weit offen stand, der Klang einer gedämpften, auf-
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20 (7.6.1903) 109
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