Unterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 182.

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Donnerstag, den 17. September.

( Nachdruck verboten.)

Ein gewöhnlicher fall.

Erzählung von W. Korolento.

1.

" In N. sein am 20. Kreisgerichtssigung, Näheres Brief."-Als ich dieses Telegramm des Redakteurs in einem Hotel zweiten Ranges bekam, sah ich zuerst nach dem Fahr­plan und auf die Uhr. Ich hoffte, daß ich den Nachtzug auf der zehn Werst von der Stadt gelegenen Station nicht mehr erreichen würde. Im Kopf erwog ich schon eine geschäftlich lafonische Antwort: Telegramm verspätet. 20. unmöglich. Leider aber sagten Kursbuch und Uhr ganz etwas andres. Ich hatte, um mein geringes Gepäck in Ordnung zu bringen and auf die Station zu fahren, noch gegen drei Stunden Zeit. Das war genug, übergenug.

Es war eine warme Sommernacht, als mich gegen elf Uhr ein schläfriger Kutscher mit seinem schläfrigen Rößlein auf den Vorstadtbahnhof brachte, dessen Lichter schon aus der Ferne blinkten. Ich kam gerade zur rechten Zeit und konnte, schon auf dem Bahnsteig stehend, sehen, wie der beleuchtete Personenzug in immer langsamerem Tempo in die Station einlief. Ein hell erleuchteter Wagen, durch dessen Fenster eine Gesellschaft an einem Tische zu sehen war, hielt direkt vor mir. Ich wollte bereits einsteigen, als ich instinktiv inne­hielt. Etwas fagte mir, daß diese Herren mit aufgekrämpelten Aermeln und Karten in den Händen, zum Kreisgericht ge­hören, das sich zur Sigung nach der Stadt N. begab Ich dachte, daß ich noch genug vom Kreisgericht sehen würde und ging zu einem hinteren Wagen des Zuges. Bevor ich die Platiform des Wagens erreichte, ertönte das erste, das zweite und dritte Glockenzeichen. Die Bremsen knarrten und stöhnten und der Zug war schon in Bewegung, als ich mit meinem wenigen Gepäck in der Hand ein Coupé zweiter Klasse betrat, in dem nur zwei Reisende faßen. Einer von den Politerklappsigen war zum Glück frei und ich machte es mir dort bequem. Ich versuchte, an nichts zu denken, um während der Nacht mein Gehirn von den letzten Maßregeln der Administration" für die vom Brande Betroffenen zu befreien und es zur Aufnahme der Kreisgerichts- Eindrücke her­zurichten..

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Allein ich konnte nicht einschlafen Der Zug war bereits in vollem Gange. Durch das offene Fenster strömte die frische Luft der mondhellen Nacht und ich vermochte einen Teil des Weges zu erkennen: die Spigen der Telegraphen­pfähle, Böschungen, dann und wann eine zitternde kleine Brücke, einen Bach und all das flog vorüber, überflutet von filbernem Mondenlicht und dahingerissen wie von einem rafenden, sich überstürzenden Flusse... Und mit unwillkür­licher Wehmut dachte ich daran, daß ebenso schnell auch mein Leben verrauscht, von einer Brücke zur andren, von Station zu Station, von Ort zu Ort, von einem Brand zu einem Kreisgericht... und daß man davon nichts in dem Zeitungs­berichte schreiben kann, den die Redaktion von mir verlangt. So lag ich im Halbschlaf eine geraume Zeit. Inzwischen sekten meine Mitreisenden im Coupé ihr Gespräch fort, das mir nun nach und nach zum Bewußtsein kam.

" Ja, das ist alles dummes Zeug," sagte der eine von ihnen, der mir gegenüber saß und durchs Fenster schaute Dahin!"

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Nein, sagen Sie das nicht," antwortete ihm der andre mit einem leisen Gähnen.( Ich konnte von ihm nur die in buntgestreiften Hosen steckenden Beine sehen.) Meines Erachtens ist es doch schrecklich... Der Tisch ist doch so zu fagen ein totes Ding und da beginnt er plöglich, einen Ver­stand zu offenbaren... Worte zu flopfen... oder z. B. das, was in der Zeitung steht.

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H

,, Nun, was ist denn in der Zeitung? Ebenfalls Aberglauben.. und wenn wirklich diese Gestalt zum Vor­schein fäme... mit Hörnern und einem Schwanz. Feuer aus dem Munde sprühend... da kommt einem unwillkürlich eine Ballettscene in Erinnerung."

Hierauf schwiegen beide eine Zeitlang und dann fagte der dem Fenster zunächst Sitzende: Nein, in unsrer Zeit ist

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1903

so etwas nicht schrecklich... Erinnern Sie sich bei Tolstoj in Anna Karenina ": Ein ganz gewöhnlicher Muschik, ein Handwerker sagt, während er Eisen schmiedet, etwas auf französisch... Freilich ist das ein wenig merkwürdig. Warum gerade französisch? Ein Muschik... und plötzlich eine fremde Sprache... Dennoch ist nichts Besonderes dabei. aber unter den gegebenen Umständen flößt gerade diese Ber­wirrung des Natürlichen Schrecken ein. Oder z. B. da bei Dostojewski in den Brüder Karamasow"... erinnern Sie sich?"

Was denn? Ich bin ja doch nicht Lehrer der Litteratur. ich bin Väterchen Pawel Semjonitsch, Mathematiklehrer." Ach ja, entschuldigen Sie... Ich will es Ihnen ins Gedächtnis rufen. Bei ihm spielt der Teufel, das heißt, wenn Sie wollen, so eine Art Hallucination, auch eine Rolle... aber so zu sagen ohne alle diese Attribute. Das war, sagt er, irgend ein Herr, oder besser ein russischer Gentleman von einer bestimmten Art, nicht mehr jung, schon mit grauen Haaren und spit zugeschnittenem Bart... Die Wäsche, die lange Krawatte, in Form einer Schärpe, alles, sagte er, war so wie bei etwas gedenhaften Gentlemans, nur die Wäsche war etwas schmutzig und die Krawatte fadenscheinig. Kurz ein recht nobles Aussehen bei einem schwachen Geldbeutel"." Nun, was ist das für ein Teufel? Einfach ein Herumstreicher," sagte der Mathematiker lachend.

Ja eben, das ist es, ein ganz gewöhnlicher Herum­streicher und gerade ist es dies Alltägliche, das den Schrecken einflößt. Eben darum, weil alles bis auf das kleinste Detail gewöhnlich ist. Die Krawatte, das Hemd, der Rock. Du schaust, o du mein Gott, wir alle... wir alle sind doch un gefähr so."

Nun das, das ist Philosophie," sagte wieder der Mathe­

matiker.

Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Der Zug fuhr mit gleichmäßigen Stößen dahin. Der Herr, dem man die Philo­fophie zum Vorwurf gemacht hatte, lehnte sich zum Fenster hinaus und blies den Rauch in die Luft. Ich konnte jetzt sein vom Mond beleuchtetes Gesicht sehen. Breit, mit groben Zügen, im großen und ganzen ohne individuelle Prägung. Auffallend waren nur die tiefen, nachdenklichen Augen und die Stimme. Es lebte darin gleichsam ein Gedanke, der wie ein Splitter im Fleische schmerzte, und nach Lösung verlangte. Es war, als lausche dieser Mensch selbst seiner Rede und der Tiefe seines Fühlens.

" Ja," sagte er nach kurzem Schweigen, ich trat, wissen Sie, auf einer Station an die Lokomotive, der Maschinist ist ein Bekannter von mir... ein chronisch schläfriges Subjekt, muß ich Ihnen sagen, mit geschwollenen Augen."

Ja?" fragte der andre gleichgültig.

Ganz gewiß! Jetzt stellen Sie sich, so zu sagen, das Bild vor. Wir alle schlafen ein. Der Zug ist in vollem Gange und ihn führt ein Mann, in dessen Händen alles ruht und dieser Mann ist vollständig unzurechnungsfähig."

Sein Nachbar wurde auf seinem Blaze unruhig und fagte mit deutlichen Zeichen einer Angst: Ja,... wenn Sie das so auffassen. Wirklich! Hol's der Teufel! Das ist eine Situation!"

Da sehen Sie's Und doch ist es so einfach und ge­wöhnlich. In Petersburg oder irgendwo sitzt ein Mensch in einem Bureau und vor ihm liegen Tabellen. In einer bestimmten Tabelle stehen so und so viele Maschinisten. Ge­halt so viel. Für die durchfahrenen Werste so viel, je nach Strecke und Leistung. Es ist, so zu sagen, eine nütliche, ein. trägliche Ziffer. Das Gehalt dagegen ist eine variable, un­beständige Größe. Nimmt man weniger Maschinisten, ist auch das Gehalt geringer... Sie verstehen! So zu sagen, eine einfache Mathematif, ein freies Spiel der Zahlen, ein Strich in den Tabellen. Was giebt's einfacheres? Und da durch jagen über Felder und durch Thäler genau solche Züge, in genau solchen Mondnächten und von der Lokomotive schauen nach vorwärts halbverschlafene, geschwollene Augen. Viel leicht eine Minute.. Nur eine natürliche Wirkung des Schlafes... und schon schwebt über uns, was das Geheimnis­vollste und Rätselhafteste auf der Welt ist. Nur ein Stoß, ein Krachen und alles kopfüber... ein Stöhnen... ein Schrei...

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