— 8' und namentlich leichtbeschwingten Technik, sondern auch in der Ent- schicdcnheit und Gestaltung seines Spiels, namentlich aber in der durch keinerlei Nachlässigkeiten getrübten Sorgfältigkeit und Feinheit bis ins kleinste hinein. Noch höher jedoch möchten wir den Vorzug schätzen, das; er über einen groszcn Reichtum von Nuancen der Stärke seines Spiels verfügt; insbesondere findet man ein solches Piano thatsächlich selten. Nun sind wir aber mit dem Heldentum zu Ende. Von einer wirklichen Bereicherung der modernen Musik, von etwas wie einer neuen Offenbarung, von irgend welchen inneren Tiefen und Nöten, die sich eine eigne Kunstsprache erzwingen, kann hier nicht die Rede sein. Das Gesagte versteht sich natürlich immer nur mit der Einschränkung, daß man vor einem vielleicht zwölfjährigen Jungen steht, der mit viel weniger schon unsre Achtung verdienen würde. Allein wenn irgend jemand auf der einen Seite so außerordentliches leistet, so ist ein eben nur ordentliches Leisten auf einer andren Seite um so charakteristischer. Wie wir hören, hat der Junge niemals eine Wunderkindpresse, aber auch noch keinen tiefer gehenden musi- kaiischen Unterricht erhalten. Das Technische scheint ihm sozusagen beinahe ganz von selber gekommen zu sein und das übrige ihn nicht bedrängt zu haben. Es liegt hier doch, trotz aller Wunderkindschaft, eine Analogie zu der Lage der gewöhnlichen Musikkinder bor . Man treibt mehr Technik als Musik. Das thun aber nicht nur die Pfuscher, Dilettanten und Handwerker, sondern einigermaßen auch vornehme Künstler und Kunstlehrcr. Vor uns liegt ein ncueS Hilfsmittel der Musikbildung, die „T h e o r c t i s ch- p r a k t i s ch e Klavierschule" von Karl Zu schneid lGr.-Lichterfeldc, Ehr. Friedrich Vieweg; 2 Teile). Das Werk ist samt dem„Methodischen Leitfaden für den Klavier- Unterricht" von demselben Verfasser(ebenda) eine der erfreulichsten Erscheinungen in der sonst nicht eben sehr angenehmen Studien- littcratur. Für die speziellen Zwecke der Klavierbildung steht es auf der Höhe der modernen Methodik und wird für manche durch eine größere Einfachheit vielleicht sogar praktischer sein, als die Klavier- schule von Hugo Riemann , die uns im übrigen weitaus das verdienst- vollste Werk dieser Art zu sein scheint. Indem wir betonen, daß es sich eben speziell um den Klavierunterricht handelt, bedauern wir zugleich auch, daß das Werk Zuschncids in die Versuchung führt, mit einem solchen Klavierunterricht den wirklichen Musikunterricht für er- schöpft zu halten. Das bißchen Unterweisung in Theorie, das dieser Schule mitgegeben ist. genügt eben nicht. Dazu kommt noch, daß unsres Erachtens auch manches zur Technik im höheren Sinne des Wortes Gehörige nicht früh genug vorgebracht wird. In der um- strittenen Frage, ob das eigentlich Künstlerische überhaupt lehrbar sei, läßt sich eine Entscheidung auf praktischem Wege schon dadurch annähern, daß man das Mechanische im Unterricht von vornherein auch aus seine spätere Verwendung im künstlerischen Dienste hin anlegt. Beispielsweise legt Schreiber dieses mehr als der Verfasser jener Klavierschule Gewicht auf baldige Uebungen im Gebrauch vcr- schieden« Stärkegrade, ja sogar speziell auf Tonwiederholung mit solchen, während Zuschncid all dieS erst später bringt. Dies also nur Andeutungen des Mancherlei, das über ein solches Werk vom speciellen Fachstandpunkt zu sagen wäre; jedenfalls liegt eine Leistung vor, aus der auch weitere Kreise über manches Ausklärung bekommen könnten. Die der Klavierschule bcigegebenen Mahnworte an die Eltern usw. mögen wohl beherzigt werden, und selbst das Verzeichnis der über das Werk erschienenen günstigen Kritilen ist dadurch interessant, daß die Kritiker in wirklich fachkundiger Weise die eigenartigen Verdienste Zuschneids deutlich hervorgehoben haben. Neben den Wunderkindern vergessen wir leicht der„Wunder- alten", und neben den Unvollkommcnheiten, für welche ein Kind nichts kann, Nnvollkommenheiten der Aeltercn, für welche diese sehr wohl etwas können. Auch Mendelssohn war ein Wunderkind, manche seiner Leistungen für damals Wunderwerke und für heute Meisterwerke, vieles andre aber für heute kaum mehr gut zu ertragen. Dies wurde uns ganz besonders klar, als am Montag, den 2. November, der Stern sche Gesangverein unter Professor Friedrich Gernsheim wieder einmal den Mendelssohnschen„P a u l u S" zur Aufführung brachte. Heute noch können d i e Partien dieses Werkes, in denen es sich um den Ausdruck einer jubelnden Freude an der schönen Welt und an erfreulichem Schicksal handelt, auch dem Hörer Freude b«eitcn. Im übrigen jedoch werden wir bald am Ende unsres Interesses für derartige süße und äußerliche Darstellungen gewichtiger Gegenstände sein. Gar erst, wenn die Aufführung nur eben anständig und animiert ist. Das genügt heute nicht mehr. Außerdem fehlt es immer wiederum an zureichenden Oratorien- Solisten. Herr Jos. M e s s ch a e r t ist ein solcher. Herr von Zur-Mühlen kann viel, treibt aber mit seinem Können Unfug. Sängerinnen, wie Frau Marie Blanck-Peters und Fräulein Marie Ries mögen für weniger schwere Aufgaben ganz wohl am Platze sein. Wenn derlei Werke nicht mit der für heute höchstmöglichen Kunst herausgearbeitet werden, so möchte man von den wunderlichen Alten lieber nichts mehr hören.—.«z. Kleines feiillleton. sc. Ein fünfzigjähriges Wunderjubiläum. Der internationale Klerikalismus hat unverantwortlicherweise daS Jahr verstreichen lassen, ohne die Jubelfeier eines erbaulichen Borganges zu begehen, feit dem im September ein halbes Jahrhundert verflossen war. Das 9— ist um so befremdend«, als der Sachverhalt die ungläubigen Thomasse Lügen straft, die an keine Wunder glauben wollen, weil nach ihrem beschränkten Laienverstand heutzutage keine geschehen. Nun, im September 1853 ist ein großes Wunder geschehen, das der Papst selber— Pius IX. seligen Angedenkens— beglaubigt hat. Waren da an einem heißen Vormittag zwei Hirtenkinder, Maximin Girand und Melanie Mathieu, auf einem Berge der fran- zösischen Alpen, la Salette in d« Dauphin«, eingcschlasen. Plötzlich geweckt, sehen sie eine Dame vor sich, die als Kopfbedeckung einen Zuckerhut trägt. Ein weißes Gewand, worin Zange und Hammer eingestickt, ein Gürtel, der mit Rosen geschmückt war, und weiße Schleifenschuhe waren ihre Kleidung. „Ich bin die heilige Jungfrau," sagte die Dame zu den Kindern, „es wird zu viel getanzt, die Messe wird nicht oft genug besucht, die Fasten werden nicht gehalten. Geht das so fort, so werden die Kartoffeln, die schon krank sind, ganz verderben. Wer Getreide hat, der säe es nicht; denn die Würmer werden es fressen. Eine große Hungersnot und allgemeine Sterblichkeit steht bevor. Die Menschen sollen, wenn sie sich nicht bald bekehren, durch den Hunger zur Buße gebracht werden. Thun sie aber rechtzeitig Buße, so werben sich die Steine in Getreide verwandeln, und man wird Kartoffeln ernten, ohne sie gepflanzt zu haben." Nach diesen wundersamen Weissagungen, die sich merkwürdiger- weise nicht erfüllt haben, vertraute die Jungftau den Kindern noch ein„wichtiges Geheimnis" an und verschwand. Die mit der Er- scheinunq Beglückten erzählten ihrem Pfarrer die Sache, der meldet sie an seinen Bischof, bald macht das große Wunder allenthalben die Runde und findet Glauben bei den Frommen im Lande. Eine zur Untersuchung des Sachverhalts eingesetzte Kommission vcr- hielt sich allerdings skeptisch; sie muß aus blinden Heiden bestanden haben. Dies wirkte aber weiter nicht störend. Aergerlich war freilich, daß eins der Kinder einmal seine Erzählung widerrief, daß es unmöglich war. die Aussagen beider in Einklang zu bringen— von wegen nmsscnhafter Widersprüche. Der Uebelftand ward nun beseitigt, indem man die beiden Auserwählten einem Kloster über- gab, wo sie unter der Obhut der Nonnen bald lernten, ihre Ge- schichte mit allen Details übereinstimmend zu erzählen. wie sie im Auszug oben wiedergegeben ist. Demgemäß lvard sie nun durch Briefe der Kinder, die ihnen ein Priester diktierte, an den heiligen Vater berichtet. Auch in Rom machten wieder Zweifel- süchnge ihren Einfluß geltend. Aber Pius IX. gab dem frommen Kinderglauben recht und erteilte die Erlaubnis zu Wallfahrten nach la Salette. Der Bischof von Grenoble posaunte nun das Wunder mit vollen Backen aus, richtete ihm zu Ehren einen besonderen Gottes- dienst ein und ließ den geweihten Fleck durch einen Altar bezeichnen. Hier war inzwischen eine heilkräftige Quelle hervorgebrochen, deren Wasser alle Krankheiten wunderbar' heilte und schnell, in Flaschen abgefüllt, zu einem glänzenden Geschäft wurde. Die nötige Reklame für das fromme Unternehmen machten die französischen Kollegen des Bischofs von Grenoble , indem sie in ihren Diözesen über die Erscheinung unsrer lieben Frau von la Salette predigen ließen. Unter dem zweiten Kaiserreich hatten die Schwarzen gute Zeiten: sie sollten sich ihrer doch dankbar erinnern und die Jubiläen feiern, wie sie fallen.— k. Alte Reklamekünste. Auch die neuesten Reklamemittel der Pariser Blätter, die mit Preisrätsellösen und Schatzsuchen alle Welt in Bewegung setzen, sind—„schon dagewesen" I Das behauptet wenigstens Ernest Blum in einem sehr lustigen Kapitel seines „Journal d'un Vaudevilliste".„Seitdem zwei Pariser Tages- zeitungen den großen Wettbewerb eröffnet haben", schreibt er,„an dem ihre Leser und auch andre Leute sich beteiligen und eine große Summe gewinnen können, bietet Paris einen sonderbaren Anblick. In den Familien trifft man imr noch alte und junge Leute, die Getteidekörner zählen. Auf den Straßen verkaufen die erfinderischen Camclots die fertige Lösung des Rätsels für 1l) Centimes; die guten Leute geben für 2 SouS' also etwas, was ihnen selbst Millionen bringen könnte... Ich muß aber feststellen, daß diese Idee, wie die Mehrzahl der modernen Ideen nicht neu ist. Vor fünfzig Jahren kam ein genialer Stestaurateur darauf ein goldenes Fünftranfftück in eine Wurst zu stopfen. Wer die gute Wurst erwischte, behielt das Geld und bekam die Wurst umsonst. Natürlich drängte sich die Menge zu ihm. und er verkaufte mehr Würste, als alle Schweine der Welt zusammen liefern konnten. Er erwarb schnell ein Vermögen und zog sich als reicher Mann zurück. Gewiß ist von dem bescheidenen Fünffrankstück zu den Millionen von jetzt ein großer Schritt, aber der Keim der Idee war doch da. Und ficher war es angenehmer, Würste essen als Körner zählen zu müssen.... Auch eine kleine, von Lireux geleitete Zeitung,� die einige Zeit unter Ludwig Philipp erschien, hatte eine ähnliche Idee. Ein unglücklicher Kassenbote hatte bei seinen Gängen eine Brieftasche mit 20000 Fr. Inhalt verloren. In seiner Angst versprach er in einem Inserat auf der vierten Seite der Zeitungen dem ehrlichen Finder eine mehr als anständige Belohnung. Die besagte Zeitung bemächtigte sich der Sache und machte bekannt, daß sie aus Interesse für den Verlierer dem Finder die Hälfte der verlorenen Summe aus eigner Tasche zahlen würde. Natürlich suchte auch damals ganz Paris . Aber die schlaue kleine Zeitung wußte wohl, was sie that; sie sagte sich, daß der Finder einer Brieftasche mit 20000 Frank Inhalt sich sicher nicht mit der Hälfte begnügen werde, wenn er das Ganze haben konnte. Die Thatsachen gaben diesem Skepticismus
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20 (10.11.1903) 220
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