etwas fragen. Du hattest Dich mir entfremdet, Günther, aber ich weih nicht, ob ich mich täusche, wenn ich glaube, daß Du jetzt wieder zu mir kommst." Ihre rotgeränderten Augen wurden vor Rührung feucht, und zwei kleine, nervöse rote Flecken traten auf den ein- gefallenen Backen hervor. Diese kleine abgearbeitete Frau, die im täglichen Leben ihr eignes Ich ziemlich hochstellte, fühlte einen großen, fast lähmenden Respekt vor ihrem gelehrten Sohn mit dem meist so strengen Blick. „Kleines Mütterchen," sagte er freundlich,„ich habe noch für nianches um Verzeihung zu bitten." „Nein, nein, das meinte ich nicht, mein guter Junge, aber siehst Du, ich— ich möchte wissen, ob ich Dir nicht nütz- lich sein und Dir das Leben angenehm machen kann. Ich habe viel über die Sache nachgedacht, schon seitdem Deine Ver- lobung mit Alna zurückgegangen ist. Vorher hattest Du sie, und ich dachte natürlich. Du würdest es so gut bekommen, daß es Dir ganz gleichgültig wäre, wo ich bliebe, jetzt aber wird es mir so schwer. Dich hier allein zurückzulassen, denn siehst Du, wenn Du auch noch so männlich bist, wird es Dir doch manchmal öde vorkommen ohne Elternheim. Das ist doch ein warmes Nest, mein Junge, und wenn Du ivillst, bleibe ich gern bei Dir. Ich kann ja nur wenig für Dich thun, aber lieb haben kann ich Dich, und etwas ist das denn doch auch." Sie demütigte sich und kroch zusammen, als bäte sie um eine Gnade. Schmerz und Scham stieg in Günther auf, als er in dies reiche, große Mutterherz blickte, das sich mit seiner Liebe aufzudrängen fürchtete. Er beugte sich tief über die welke, zitternde Hand, die noch immer auf seinen Knien lag, seiner Mutter Hand, und küßte sie ehrfurchtsvoll. „Ich danke Dir, liebe Mutter," sagte er mit einer Stimme, die er nicht einmal von Rührung frei zu machen suchte, „danke Dir, daß Du mich noch so lieb haben kannst, Mutter, aber ich will nicht, daß Du Dich meinetwegen aufopferst. Ich habe Dir nichts zu bieten, Mutter, aber bei Sven wirst Du ein sorgenfreies Leben führen." „Glaubst Du das, Kind, wenn ich weiß, wie es Dir geht? Nein, mein lieber Junge, Du verstehst Dich nicht auf die Gefühle einer Mutter, wenn Du so sprichst. Freilich bin ich ein altes, nutzloses Wrack, aber noch komme ich mit. Und Dn sollst sehen,»vir können es uns so billig einrichten, viel billiger als wenn Du in den teuren Restaurants essen müßtest. Du bewohnst das Zimmer, und ich schlafe in der Küche, es braucht ja niemand zu wissen, wie wir es eingerichtet haben. Wenn Du Dich dann müde gearbeitet hast und vielleicht noch ein Weilchen mit Deiner alten Mutter plaudern Ivillst, so hast Du sie nicht in einem andern Weltteil, sondern sie sitzt bei Dir." „Aber Sven, was wird der sagen und alle die andern? Ich werde natürlich als rücksichtsloser Egoist dastehen." „Hm, laß sie reden!" Frau Lejer schüttelte so überlegen mit dem Kopfe, als ob sie nie in ihrem Leben nach einer solchen Bagatelle geftagt hätte.„Sie müssen doch einsehen, daß es schwer ist für solche alte Frau, aus ihrer Gewohnheit herauszukommen und in ein fremdes Land zu ziehen." „Aber das war doch sonst nicht Deine Meinung, Mutter." „Nein, weil ich da glaubte, daß Sven meiner am meisten bedürste." Es war keine allgemein verständliche, klare Logik in dieser Antwort, doch war es die einzige, welche Frau Luise geben konnte. Sie enthielt eine Ansicht ohne theoretische Beweis- führung, die jedoch in der Praxis Hunderte von Müttern durchgemacht haben, instinktiv stehen und fallen sie auf ihrem Posten, wo der Kampf für die Kinder am heftigsten tobt; ihre Waffen gegen die Schläge des Schicksals sind ein Gebet und stets offene Arme, die das Kind, wenn es verwundet ist oder im Tode, umschließen sollen. So wurde also das Programm dahin geändert, daß Dora allein reisen sollte. Erwartungsvoll sah sie der bevor- stehenden Veränderung entgegen und nichts schien sie davon zurückzuschrecken. Als sie auf Abschiedsbesuch bei Hedwins war, sagte Laura spitz: „Was willst Du, Dora, die Du so bange vor jeder Arbeit bist, da draußen, da wird kein Ueberfluß an Ver- gnügungen sein." „Nein, das wird es wohl nicht, aber die sind hier ja auch nur sehr spärlich gesäet," versetzte Dora,„und ich will meine Kräfte erproben. Ich will meinen Anteil am lebendigen Leben haben, Laura, und geht es nicht auf die eine Weise, so muß es auf eine andre gehen. Ich habe ein Gefühl, als möchte ich am Schicksal rütteln, es auf und nieder wenden und sehen, ob es nur Nieten für mich hat." „Nun, es müssen sich doch die meisten darein finden," sagte Karin bitter; sie war noch kurzsichtiger geworden als vordem und neigte den Kopf dicht über die Probeschrist, welche sie für die Schule anzufertigen hatte. „Ich gedenke mich nicht so leicht darein zu finden," rief Dora aus,„wir werden wohl erst miteinander ringen, die ungerechte Frau und ich." „Phrasen," fiel Laura trocken ein.„Du bist noch so jung, das ist das Ganze." „Ja, das bin ich! Jung und stark I" Dora erhob sich und reckte ihre jetzt voll entwickelte, schöne Gestalt, sie warf den Kopf zurück wie ein feuriges Pferd, das zum Sprunge bereit steht, und in ihren Augen blitzte es. „Gott segne Dich, liebes Kind," sagte Fkau Hedwin, als Dora, sich verneigend, jetzt Abschied von ihr nahm,„ob Du einmal wieder nach Schweden kommst, kann man jetzt Wohl noch nicht wissen, aber jedenfalls bin ich dann nicht mehr. Ich glaube, es geht bald mit mir zu Ende. Daniel wird nicht lange mehr auf mich zu warten brauchen. Adieu, mein Kind, Du nimmst viel Sonnenlicht mit Dir, wenn Du von uns gehst." Laura und Karin wollten noch an den Zug kommen und nahmen darum nicht so feierlichen Abschied. Am folgenden Abend standen alle nächsten Verwandten und Bekannten auf dem Perron des Ccntralbahnhofes ver- sammelt, um Dora Lebewohl zu sagen. Sie sank von einem Arm in den andern, am längsten hielten doch die Mutter und Marie Luise sie fest. Günther machte ihnen ihr Recht nicht streitig; er stand in einiger Entfernung von den andern und trocknete sich verstohlen die Thränen, die sich ihm un- aufhörlich in die Augen drängten. Er konnte sich nicht er- inner» seit seiner Kindheit je geweint zu haben, jetzt aber saßen ihm die Thränen wie ein dicker, brennender Knoten im Halse. Die langen Minute», welche einer Abreise vorangehen — lang, weil man die Rührung zu beherrschen sucht, die überhand zu nehmen und die letzten Abschiedsworte zu hindern droht— waren jetzt vorüber. Dora hatte zum letztennial alle die Ihren geküßt und stand jetzt auf der Plattforiu des Eisen- bahuwageus. Heiße Thräuen glänzten in ihren Augen, und die großen, salzigen Tropfen rannen ihr unaufhaltsam die Wangen herunter, sie lächelte aber doch, kindlich jung und frisch, als sie immer wieder den Zurückbleibenden zunickte. Schnaufend setzte sich die Lokomotive in Bewegung. Es wurde dunkel vor Doras Augen, als der Zug aus der Halle fuhr, und ihr Herz klopfte heftig vor Furcht, Ungewißheit, Veklemnnlug. Eine Sekunde lang stand sie angstvoll ringend mit der Furcht vor dem Unbekannten, doch als sie die vielen Taschentücher in der Luft flattern sah, die ihr den allerletzten Abschiedsgniß zuwinkten, wurde sie plötzlich von dem schwellenden, abenteuerlusügen Mut gepackt, wie ihn der fühlt, der jung und stark zum erstenmal seine Schwingen stei zu kühnem Flug entfalten soll, und alle Abschiedsbouquets hoch durch die Luft schwenkend, rief sie mit einer Stimme, die wie der Frühliugsxuf einer Lerche klang l„Auf Wiedersehen l"— (Nachdruck verboten.) Die(Vlandfcbureu In geographischen Linien umgrenzt stellt sich daZ Land der Mandschu als ein Rechteck dar, deffcn nördliche und östliche Seite auf einer Strecke von über 2230 Kilometer längs des Amur- und Ussuri - flusies das russische Gebiet, dessen südöstliche und südliche Linie Korea und die verschiedenen Buchten des gelben Meeres entlang läuft, und welches im Westen durch den alten Pallisadenzaun und das Chingangebirge gegen die Mongolei hin abgeschlossen wird. Es zählt beinahe noch einmal so viel Quadratlilometcr als das Deutsche Reich. Im ganzen ist die Mandschurei ein Gebirgsland; die Haupt- gebirgx sind der große Chingan im Westen und der Schan-bo-schan im Südosten. Weniger bedeutend sind der Liau-tung-Rückcn auf der Halbinsel gleichen Namens, der Giringgcbirgszug und der kleine Chingan. Durchzogen ist sie von einem rechten Nebenflüsse des Amur, dem Sungari, dessen hauptsächlichster linker Nebenfluh der Nami ist. Im Süden ergießt sich der Liau-ho in den Meerbusen von Liautung. Längs der Flüsse ziehen sich Ebenen hin, von denen man
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20 (12.11.1903) 222
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