Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 228.

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Sonntag, den 22. November.

( Nachdruck verboten.)

Das Verbrechen des Arztes.

Roman von J. H. Rosny.

Autorisierte Uebertragung von M. v. Berthof. Also würde es doch einen Geschädigten geben, ein oder mehrere lebende Wesen, die der Diebstahl von Guy Herbeline zu Schaden brachte!

Ein Hoffnungsstrahl durchfuhr ihn, es war vielleicht nur eines jener blöden Vermächtnisse, in denen sich alte Jung­gesellen gefallen, eine jener unnüßen Schenkungen, die sich so oft gegen den Willen des Erblassers gestalten.

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Also sehen wir uns das Ding näher an!" Seine Hand zitterte jetzt. Er öffnete das Couvert so hastig, daß er den Inhalt beinahe zerrissen hätte. Voll Wut und Verzweiflung las er:

" Ich Endesunterfertigter Charles Auguste Barthélemy Plessis, wohnhaft zu Paris 71, Rue de Penthièvre, erkläre hiermit, daß ich all mein wo immer befindliches Hab und Gut der Jeanne Marguerite Dufrêne, geboren zu Caen am 18. Februar 1884, Tochter des Jacques Pierre Dufrêne und der Marie Alice, geborene Berney, vermachte, in dankbarer Erinnerung an die Freundschaft, die mich mit ihrem mütter­lichen Großvater Gustave Berney verband. Geschrieben zu Paris , den 26. April 1896."

Diesem Testament war eine Notiz beigefügt folgenden Inhalts: Jeanne Marguerite Dufrêne lebt gegenwärtig bei ihrem Vater, Rue de Chaussetterie 30, zu Mantes ( Seine- et­Dises). Paris , 26. April 1896."

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Was nun die beiden andren Dokumente betrifft, so war das eine ein Geburtszeugnis der Jeanne Marguerite Dufrêne, das andre eine Art fleiner Stammtafel, die folgendermaßen Lautete: Gustave Berney und Charlotte Deschamps, ver­mählt den 22. März 1853; Marie Alice Berney, Tochter des Gustave Berney und der Charlotte Deschamps, geboren den 12. Februar 1861; Jacques Pierre Dufrêne und Marie Alice Berney, vermählt den 7. April 1883; Jeanne Marguerite Dufrêne, Tochter des Jacques Pierre Dufrêne und der Marie Alice Berney, geboren zu Caen den 18. Februar 1884."

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Es ist klar," dachte Herbeline ganz niedergeschlagen, ,, der alte Mann glaubte und gewiß mit Recht daß er Der wahre Vater von Marie Alice Bernen sei und folgerichtig Der Großvater von Jeanne Marguerite Dufrêne. Ich habe also in ihr nicht etwa eine gleichgültige Erbin, sondern wirklich und wahrhaft die einzige, die dem Geschlechte der Plessis ent­stammt, beraubt. Jest will ich mir die Briefe ansehen."

1903

junge Mädchen wachen, ich werde wenigstens die Hälfte dieses Geldes auf sichere Zinsen legen und in einigen Jahren, wenn alles vollständig vergessen, für alle Zeit begraben sein wird, dann erfülle ich meine Pflicht!"

Er wiederholte meine Pflicht" und lächelte dabei sarkastisch.

Wenn ich einmal wirklich reich werde, dann kann ich am Ende noch das Ganze gutmachen. Dazu gehört die Ruhe des Abwartens. Jetzt aber gilt es entweder den Erfolg oder den Revolver!"

Als er die Banknoten in Bündeln sorgfältig geordnet hatte, häufte er sie auf und fragte sich, ob er sie verstecken müsse.

Er betrachtete abwechselnd die Möbel, den Plafond, den Kamin, während er dabei an alle möglichen Ammenmärchen und au Kriminalromane dachte. Alles schien ihm überflüssig. Durch die Gelegenheit zum erstenmal zum Verbrecher ge­worden und in allen Schlichen unerfahren, wäre es allzu naiv, anzunehmen, er könne die Polizei irreführen. Alles, was er irgendwie ersinnen könnte, hatte in den Trditionen der Polizeigeschichte gewiß schon seinen Platz gefunden. Vielleicht wäre der einfachste Borgang, dessen sich die Wilden und die Bauern bedienten, gerade der sicherste? Wie, wenn er den Schatz vergrübe! Aber da lief er wieder Gefahr, bei seiner Arbeit überrascht zu werden.

" Ich will die Banknoten ganz einfach in meinen Geld­schrank legen," beschloß er.

Und das that er auch. Dann sah er nach der Uhr: schon nah. Nun also, jetzt heißt es endlich schlafen gehen. ,, Noch nicht einmal 1 Uhr und ich glaubte, der Tag sei Aber in dem Zustande, in dem ich mich befinde, wälze ich mich doch nur von einer Seite auf die andre. Also eine Portion Brom ." Er trank eine Portion Brom hinunter und schlief ganz gut.

2.

blid des Schwankens fam er plöglich zum Bewußtsein seiner Aber das Erwachen war furchtbar. Nach einem Augen­That, die wieder in ihm auflebte und aus ihm einen neuen Menschen machte, etwas ganz Verschiedenes von dem, was er seit seiner Kindheit gewesen war. So lange er im Bette in das thätige Leben hineinzustürzen verzehrte ihn die war ihm fehlte der Mut, sich wieder mit einem Sprunge Verzweiflung. Er sah sich festgenommen, des Diebstahls über­führt, verurteilt, und das schien ihm unausbleiblich. Diese Strifis dauerte lange, sie war entsetzlich. Durch eine jener seltsamen Stockungen der Gedanken, die bei großer Gemüts­bewegung gar nicht selten sind, hatte er die Möglichkeit des dessen; es war eine unglaubliche Erleichterung. Selbstmordes vollständig vergessen. Jezt erinnerte er sich

noch mehr. Er fühlte sich sogar entschlossener als am Abend Als er aufgestanden war, verschärfte sich diese Empfindung

vorher.

hinunter und sah sich seinen Einlauf an. Und während er Er kleidete sich hastig an, stürzte eine Tasse heißen Kaffee die Visiten, die er zu machen hatte, notierte, sagte er sich:

Er überflog die Liebesbriefe, die alle mit dem Namen Charlotte" unterzeichnet waren und konstatierte, daß sie un­gefähr einen Zeitraum von drei Jahren umschlossen, der erste bom 9. Oktober 1857, der letzte vom 23. August 1860. That fächlich war in keinem derselben Charlottes Schwangerschaft erwähnt oder auch nur angedeutet. Es waren unklare, un bestimmte Briefe, ohne Details, in Zeiten der Trennung ge schrieben. Troßdem zweifelte Guy keinen Augenblick, daß feine Annahme richtig sei. Und der Furcht vor der Entdeckung jeheit, der auf ein Brett gebunden auf den Wellen treibt. ,, Acht Tage lang muß ich mich als Schiffbrüchigen an­gesellten sich jetzt ganz konkrete Gewissensbisse, ganz bestimmte, Der Wind trägt mich entweder zum rettenden Strand oder flar empfundene Gewissensbiffe, die selbst die Hoffnung, ich zerschelle am Felsen. Aber handeln darf ich nicht." Straflos auszugehen, nicht beschwichtigen konnte.

Alles fann noch gutgemacht werden! Wenn ich erklären würde, von dem Verstorbenen den Auftrag erhalten zu haben, wenn ich das Testament zurückgebe mit der ganzen, oder wenigstens mit einem Teil der geraubten Summe, dann würde man mir sicher glauben...!

Sicher?

Es giebt keine Sicherheit bei den Gerichten. Und über­bies, kann ich mich auf meine Saltblütigkeit verlassen? Stann ich nicht irgend eine Dummheit machen? Würde ich mir im Berhör nicht wiedersprechen? Wer weiß, welche Falle mir ein Nichter stellen könnte.

Nein, es ist unmöglich! Das Schicksal muß seinen Lauf baben. Jetzt giebt es fein Zurück mehr, und den zugefügten Schaden muß ich persönlich gut machen. Ich werde über dieses

er sich Rue de Penthièvre ein. Er machte seine Krankenbesuche. Um halb 11 Uhr fand er sich Rue de Penthièvre ein.

Herr Doktor," sagte der Hausbesorger, ich habe die Anzeige gemacht, habe alles ausgesagt, was ich vor Ihrem Besuch gesehen habe. Es scheint, daß das Gericht eine Auf­nahme machen wird

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Vei diesen Worten fühlte Herbeline, wie sein Herz sich auf­bäumte. Er glaubte, zu erbleichen.

"

Doch mit ruhiger Stimme fuhr der Hausbesorger fort: Mir scheint es so, als wäre die Thür nicht von selber aufgegangen. Wenn man gestohlen hat, so wird's nichts Be­fonderes gewesen sein. Die ganze Bude ist keine vier Sous wert. Nach den Gerichtskosten wird nicht Salz aufs Brot übrig bleiben. Mit Verlamb, Herr Doktor, das ist ja lauter