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Der drehte sich auf seinem Stuhl herum: Also Sle- hm­wie war doch der Name?" Nagel,"

Richtig. Nagel. Ja." Der Chef strich sich den Bart und ließ die Blicke über die Gestalt des Angekommenen schweifen. Also hören Sie mal. Ihr Schreiben hat mir gefallen. Sie können sich denken, daß ich meinen Grund habe, wenn ich Sie aus diesem Haufen her­aussuchte." Er ties auf einen Stoß Briefe. Es find sechs­undneunzig Bewerbungen eingelaufen. Sechsundneunzig!" Er wiederholte es betont. Sie sind gelernter Handwerker, nicht? Ja, sehen Sie, das würde mir insofern gut paffen, als öfter fleine Re paraturen vorzunehmen sind im Haufe. Die könnten Sie so nebenbei mitmachen."

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" Ach so." Nagel richtete sich auf. Dann müßt' sich aber auch der Lohn danach richten. Der Chef hob schnell die Augen, trommelte auf die Tischplatte und sagte scharf: Die Bedingungen stelle ich! Vor allem würde ich von Ihnen ein bescheidenes Benehmen fordern, ferner Pünktlichkeit, Treue, Gehorsam. Und nicht zulegt- Ordnung und Saubers feit!" Er erhob sich und bohrte seinen Blick in den weißen Kragen des Bewerbers." In dem letzteren Punkte scheinen Sie mir nicht sehr genau zu sein, wie?"

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Es regnet." Nagel faßte unwillkürlich an den Hals. Ich hatte fein Geld zum Fahren."

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So?" Der Chef musterte ihn scharf. Wenn Sie glauben, mich durch Armseligkeit zu bestimmen, irren Sie sich."

" Ich war lange außer Arbeit."

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Dann wundert mich nur, daß Sie noch Bedingungen stellen möchten. Aber davon nachher. Sie wissen doch, daß auch Ihre Frau in der Reinigung des Hauses thätig sein müßte. Ihr Aeußeres scheint mir nun gar nicht empfehlenswert nach dieser Richtung."

Meine Frau ist' n Tag über beschäftigt." Nagel würgte der Kragen. Und die Hand, welche den Schirm hielt, zitterte.

Hm". Der Chef strich sich wieder den Bart und beaugenscheinigte aufs genaueste den Bewerber. Wie?" Sein Blid blieb auf der fleinen Pfütze haften, die sich am Fußboden gebildet hatte. Können Sie Ihren Schirm nicht draußen lassen? Außerdem: Mann! Sie tommen mit zerrissenen Stiefeln hierher?"

Nagel sah erschrocken nieder. Am linken Fuß hatte sich das Oberleder von den Sohlen gelöst; ein breiter Spalt flaffte, und das Wasser rieselte heraus. Es ist unterwegs gekommen," flüsterte Nagel unwillkürlich.

| Ach was 1 Ausreden! Sie haben keinen Ordnungssinn, das ist alles. Und Ihrer Frau geht's anscheinend nicht beffer. Also: wir tönnen nicht zusammen arbeiten. Basta!"

Nagel zögerte noch, suchte nach Worten.

Der Chef trat auf ihn zu:" Thut mir leid, lieber Freund! Schaffen Sie sich erst mal anständiges Zeug an und ganze Schuhe. Und dann sprechen Sie wieder vor." Er schob ihn zur Thür hinaus.

Nagel kam nicht wieder.

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Kleines feuilleton.

ee. Das Wunderkind. Sie trug ein weißes Mäntelchen mit Schivan besetzt und einen großen, weißen Hut mit Straußfedern, sie hatte rotbraune Glacéhandschuhe an. Als sie das Mäntelchen ausgezogen, kam ein firschrotes Sammetkleid zum Vorschein.

Wie eine Kleine Klöterpuppe stand fie da, steif, hölzern, auf Draht gezogen, als fürchtete fie, irgendwo anzustoßen. Die Kleinen Cousins und Cousinen starrten sie an wie ein Meerwunder; sie gab die Blicke übrigens ebenso erstaunt zurück. Mit einem sehr gering­schätzigen Blick maß fie Gretens schlichtes Wolfleid und Wallys einfache Shirtingschürze. Walters ausgewachsene Jackenärmel er­regten offenbar ihre allerhöchste Verachtung.

Sie zog das Näschen hoch.

Nein, und so fein hast Du Dich gemacht, Trudchen!" staunte Tante Martha.

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Na, wir gehen doch zum Besuch," sagte Trudchens Mama, die sich inzwischen auch aus ihrem Mantel herausgeschält hatte.

Tante Martha seufzte leicht und streifte mit einem halben Blick ,, ihre drei". Dann stieß sie die Vorderthür auf:" Nun tretet nur näher, Ihr seid so spät gekommen, wir sind schon beim Abend­effen. Da ist meine Schwiegermutter und Grete. Ihr kennt Euch ja."

Ja fie fannten sich und begrüßten sich sehr herzlich. Trudchen sollte das Händchen geben; sie machte aber eine Ver­beugung, einen richtigen Tanzstundentnig. Die Tanten lachten: Wie eine Dame."

" Ja, sie ist ganz und gar eine kleine Dame," lächelte Trudchens Mama voll Stolz, das sagt auch jeder, sie ist gar nicht wie ein Kind, sie hat so feine Manieren."

" Hm, ja," meinte die Schwiegermutter. Es lag sehr viel in diesem Hm, ja".

Tante Martha nahm Trudchens Hand: Na, mun fomm, feh' Blick ihre Drei". Dann stieß sie die Vorderthür auf:" Nun tretet Stullen und ein Teller Aepfel . Nun lang' zul"

Sie sette sich selbst nieder an den großen Tisch.

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Lang' zu, Trudchen," wiederholte Wally die Aufforderung ihrer Mutter. Sie vertrat am Kindertisch die Hausfrau und schob der fleinen Cousine die Stullenschüssel hin: Na, nimm doch!"

Trudchen jah auf die Schüssel und warf einen Blick über den Tisch. Dann nahm sie eine Stulle. Sie biß aber nicht fröhlich ein, wie die andren, fie legte sie wieder auf den Tisch.

" Hast Du keinen Hunger, Trudchen? Ih doch!" " Ach!" Trudchen lächelte ein undefinierbares Lächeln und drehte die Stulle in der Hand.

Die Cousinen und Cousins sahen sie an und wußten nicht recht, was anfangen. Ein jähes Verstummen tam über die lustige Kinders schar.

Mama erzählte:" Ja, Trudchen hat wirklich feine Manieren, das sagt Am großen Tisch ging es dafür desto lauter her. Trudchens jeder. Sie nimmt sich alles so an. Sie ist so flug für ihre sechs Jahre. Na, nun geht sie in' ne Privatschule. Da bekommt sie feinen Umgang. Da ist nicht solch Schub- Muff wie in der Volks= fchule. Da Volksschule ist auch nicht bloß Schub- Muff. Meine Sechse gehen Cousine Grete fuhr auf, in dev auch in die Volksschule

Na, erlaub' mal

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" Ja, meine bringen auch keine schlechten Manieren mit," meinte Tante Martha.

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" Sie sind aber doch mit besseren Kindern zusammen," beharrte Trudchens Mama. Was denkt Ihr denn, was Trudchen für Um gang hat? Ihre beste Freundin ist' ne Geheimratstochter und bei Bankier Mohringers hat sie mit in den lebenden Bildern ge= standen, weil sie nämlich solch schönes Kind ist. Herr Mohringer hat neulich erst zu mir gesagt, solch schönes Kind giebt es überhaupt nicht wieder. Nicht wahr, Trudchen, das hat er doch gesagt? " Ja, nickte Trudchen hoheitsvoll. Er hat gesagt, ich hätte so blaue Augen."

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,, Na, die haben andre Kinder auch." Cousine Grete sagte es etwas spizig." Das würde ich doch überhaupt das Kind nicht hören lassen, Du. ,, Nein, wirklich nicht," stimmte die Schwiegermutter bei. " Warum denn nicht?" Trudchens Mama that sehr verwundert. Das hört sie ja überhaupt überall. Die fällt doch auf, wo sie hinkommt." " Mich sehen alle Leute an," rühmte Trudchen. Sie tam jetzt offenbar in Stimmung.

Schwiegermutter ironisch. " Na ja, Du putzt sie nun auch immer sehr heraus," meinte die

Cousine Grete nickte." Ja wie' ne Eisenbahnschaffners­Tochter sieht sie wirklich nicht aus."

es nur könnten, dann würden sie ihre auch nicht mit ausgewachsenen " Na, warum soll ich denn sie nicht gut anziehen, wenn andre Jacken laufen lassen." Trudchens Mama wurde gleichfalls bissig. " Ja, sei zufrieden, daß Du nur eine hast," wiederholte Tante Martha begütigend.

" Und überhaupt ist Trudchen auch so schön," fuhr die Mama fort, sie hat bei Mohringers als Amor gestanden, da hatte sie gar nichts an und war doch schön. Alle Welt hat gestaunt, wie schön fie ist." Aber, Käthe, das Kind hört ja her!" verwies die Schivicgers

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mutter.

" Nun, laß sie doch hören." Trudchens Mama kam in Eifer. Das schadet ihr nichts. Die ist so flug. Die versteht alles in der Schule. Die Lehrerin sagt auch, sie ist das flügste Kind in der ganzen Klasse. Darum hat sie aber auch so feinen Umgang und wird bei so feinen Leuten eingeladen."

" Das reine Wunderkind," sagte Tante Grete.

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Aus der wird mal was bei dieser guten Erziehung," nickte die Schiviegermutter.

Soll das etwa Hohn sein?" Trudchens Mama fuhr auf. .Aber bewahre! Nein doch!"

" Das möchte ich mir auch verbeten haben! Ich erziehe mein Kind auf das beste!"

" Das sagen wir ja aber auch."

Aber was hat denn Trudchen?" fragte da auf einmal Tante Martha. Bist Du frank, Trudchen? Du bibberst ja so?" " Ja, was ist denn, Trudchen? Frierst Du?"

Alles drängte sich um Trudchen. Die Kinder licherten. " Trudchen, so rede doch nur."

Aber Trudchen redete nicht. Sie legte den Kopf an Mamas Brust und begann höchst unvornehm zu heulen. Ich... ich ich. hab' nicht... weil Herren am Tisch waren... hab' ich's nicht sagen wollen."

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Was ist? Was hast Du nicht. ivas war?" Die Tanten machten erstaunte Mienen. Das Kichern der Kinder wurde immer lauter. Dann platte plößlich Walter heraus: Du, Mama, sie hat sich nämlich was in die Ho... huch, nein feine Stimme starb in einem hellen Gelächter.

Und alle Tanten hatten verstanden und alle Tanten lachten mit. Aber Trudchens Mama fuhr auf, wie eine Rasende: Und da lacht Ihr? Da lacht Ihr das arme Kind noch aus? Sie hat nichts sagen wollen, weil Herren am Tische waren. Sie sieht die Jungens für Herren an. Das hat sie so gelernt in ihren femen Häusern. Und Ihr lacht das arme Kind noch aus?"