Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 229.
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Dienstag, den 24. November.
( Nachdruck verboten.)
Das Verbrechen des Arztes.
Roman von J. H. Rosny.
Autorisierte Uebertragung von M. v. Berthof. Madeleine schien ganz begeistert, ein wahrer Enthusiasmus, jene glühende Parteinahme, die der weiblichen Seele so eigen ist, belebte ihr Antlitz.
Sie haben also Vertrauen zu mir?" fragte er mit einer Art Befangenheit.
„ Ein unbegrenztes Vertrauen!" rief sie lebhaft aus. ,, Wenn ich die Wahl hätte zwischen Ihrer Ansicht und der unsrer berühmtesten Aerzte, ich würde keinen Augenblick zögern, Ihnen zu folgen."
Sie schwieg errötend, während er vor Vergnügen erbebte. Etwas unendlich Liebliches war geschehen; die süße Kraft, die bis zu der Menschheit letzten Tagen die Leiden und den Tod vergessen machen wird, hatte sich fühlbar gemacht. Vielleicht liebte ihn dieses schöne Mädchen noch nicht, aber sicherlich war er der Mann nach ihrem Herzen. Ein einziges Wort, und dieses schwankende, unsichere Herz wurde sein! Bei dieseni Gedanken fühlte er sich selbst von dem Liebestaunel ergriffen. zitternd, berauscht, bereit, alle möglichen Glücksbilder mit diesen strahlenden Augen, diesen schönen Wimpern, diesem zart geschnittenen Rund der Wangen , diefem kleinen, sinn lichen Mund, der gleichzeitig an die frischen, roten Frühlings blumen und an die rosigen Muscheln auf dem Grunde des Meeres erinnerte, in denen auf Perlmuttergrund die feuchte Perle rubt, zu verbinden. Wie berauschend war schon das Knistern ihrer Gewänder, dieses leise Rauschen der Stoffe, in denen die Schauer der Natur zu walten schienen, alle jene auserlesenen Geräusche der Blätter, des Grases, der Flügel, des schmelzenden Schnees!
Wieder begleitete sie ihn bis an die Thür und ihr Hände druck dauerte einige Sefunden länger, während sie einander unsicher ansahen, jedes seiner selbst und des andren noch nicht Ganz sicher.
„ Sie wird mein! Sie wird mein!" sagte er sich, während er die Treppe hinabstürmte.
Aber gerade die Energie, mit der er diesen Gedanken ausdachte, brachte die ganze Unruhe zurück. Die Bilder wirbelten durcheinander. Die hellen Augen und die feinen Linien um Madeleines Kinn vermischten sich mit dem ganzen Trödel" von Plessis. Er sah flägliche, mißtrauische Erscheinungen, die all diese Kleinigkeiten in die Hand nahmen, Schubladen aufzogen, inventarisierten. Ein einziger genauer Hinweis und alles war verloren. Dann würde dieses reizende junge Geschöpf nie in seinen Armen ruhen.
" Ja, aber jetzt habe ich doch wenigstens eine Aussicht, Gestern um diese Zeit war von so etwas gar nicht die Rede. Alles in affem genommen, habe ich das Richtige gethan. Ja... aber... wie verhält es sich mit Jeanne- Marguerite Dufrêne?"
Er verbrachte den ganzen Tag in rastloser Beschäftigung. Glücklich, sich selbst zu entfliehen, war er nie eingehender in feiner Diagnose gewesen, nie vorsichtiger und gewissenhafter in der Wahl seiner Arzucien.
Um halb sieben fand er sich wieder bei Madame Monteaur ein. War der Zufall ihm günstig gewesen, oder war die Stranke dem Einfluß des Serums besonders zugänglich: sie war fast vergnügt.
" Ich habe zwei Stück Pepton geschluckt, habe ein Ei, ciwas geröstetes Brot und etwas grüne Erbsen gegessen."
„ Das ist mehr, als ich zu hoffen wagte," sagte er. Er fühlte ihr den Puls, dann ausfultierte er die alte Dame. Wie er es erwartet hatte, konnte er das Verschwinden jener Geräusche der Blutleere in der Gegend des Herzens und des Halfes fonstatieren. Aber troßdem konnte, da die Schwäche fehr groß gewesen war, die Wirkung rasch zurückgehen. Wenn Madame Monteaux noch heute etwas zu essen vermochte, dann war er der Meinung, daß sie eine gute Nacht haben würde. Er sagte:
1903
Ich wünschte, Sie würden noch eine kleine Mahlzeit einnehmen, gnädige Frau. Wie wäre es mit einem Ei, einem Salzcake, dann einer Tasse ganz leichten Thees mit sehr viel Zuder?"
" Ich möchte schon," entgegnete sie schüchtern, aber ich werde mehr Kraft dazu haben, wenn Sie dabei bleiben. Jit Ihrer Gegenwart werde ich mich überwinden müssen.
„ Einverstanden," sagte er, ich bin für heute abend ohnehin mit meinen Besuchen fertig.
Aljo sind Sie frei?"
„ Ein Arzt ist niemals frei. So wie ich nach Hause fomme, dann kann man fünf gegen zehn wetten, daß ich) mindestens noch ein- oder zweimal gerufen werde."
,, Sie müssen aber doch dieren?"
Ja, natürlich," sagte er lachend, wenigstens zumeist. ch bin ganz frei von sieben bis halb neun, ab und zu verfüge ich auch über meinen Abend."
Also, wenn Sie sehr nett und lieb sein wollten, dann würden Sie heute abend mit uns dinieren... wir lassen Ihnen Ihre Post herüber holen. Ich bin abergläubisch! Mir scheint, als müßten Sie mir heute ganz besonderes Glück bringen. Sie sind mein Glücksstern, und Madeleine schwört darauf, daß wir in die Aera der Genesung eingetreten sind." 3immer war, wartete er auf den Eintritt des jungen Mädchens. Es beunruhigte ihn, daß er sie nicht zu sehen bekam. Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Es widerstand in ganz merkwürdig, sich seine Post holen zu lassen. Bei seinen vielen Gläubigern mußte er stets auf irgend eine kone promittierende Sendung gefaßt sein. Hauptsächlich aber erfüllte ihn iene dumpfe, undefinierbare Angst vor jenem furcht baren unverhofften, dessen Vorgefühl ihm seit dem frühen Morgen jeden Augenblick das Herz zusammenkrampfte. Aber die Aussicht war zu verlockend. Er suchte einen Ausweg.
Bei dem Namen Madeleine war er erbebt. Seit er int
Zu unserm Beruf," sagte er, muß man immer irgend ein Mißverständnis befürchten. Wenn ich beruhigt bin, werde ich mit um so größerem Vergnügen Ihrer freundlichen Einladung folgen. In fünf Minuten bringt mich mein Wagen nach Hause, in weiteren fünf Minuten habe ich alles nach gesehen, so daß ich in zwanzig Minuten wieder hier sein könnte. Wir werden Sie mit Vergnügen erwarten."
Er zitterte, als er seine Wohnung betrat, heftiger, als er gezittert haben würde, einen Löwenzwinger zu betreten. An der Thür des Vorzimmers verschlug ihm die Vision von Fallen, von dunklen, grausamen Gefahren, den Atem. Diese Furcht gab sich sofort, als er die Thür hinter sich geschlossen hatte, sie stellte sich aber noch eitpfindlicher, noch unerträglicher angesichts seiner Briefe ein. Aber welche Erleichterung, als er sie überflogen hatte! Welche Freude, sie ganz banal und bedeutungslos zu finden! Guy gönnte sich einige Augenblicke, um chvas Toilette zu machen. Die zwanzig Minuten waren faum verstrichen, als er sich schon wieder im Salon der Madame Monteaux einfand.
„ Für heute habe ich gewonnen," sagte er, vorläufig hat vor morgen früh niemand nach mir Verlangen getragen." Also schenken Sie uns Ihren ganzen Abend?" „ Sehr gern, bis zehn Uhr, so schreibt es die ärztliche Wissenschaft vor, muß Madame Monteaur zu Bette gehen." Jeden Abend?"
jeiu.
„ Jawohl."
„ Aber an den Abenden, wo man ausgehen muß?"
"
Dann muß man auch vor Mitternacht wieder zu Hause Auch sollen Sie so wenig als möglich ausgehen, ja ganz und gar nicht, bis eine entschiedene Besserung eintritt." Da haben Sie nichts zu befürchten, lieber Doktor, wir gehen sehr wenig aus!"
Es trat ein furzes Schweigen ein.
Herbeline wurde ungeduldig, weil Madeleine noch immer nicht fam. Unwillkürlich spähte er nach der Glasthür. Endlich erschien sie in einem hellgrauen Crêpe de Chine- Kleid, mit einem Stragen und Revers aus Guipure. Ueber dem rosa Einsatz lag eine weiße Spike. Sie war so frisch, so leicht, so göttlich jung, daß beide, Herbeline sowohl wie die Mutter, fie einen Augenblick ganz entzückt betrachteten.