Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 237.

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Freitag, den 4. Dezember.

( Nachdruck verboten.)

Das Verbrechen des Arztes.

Roman von J. H. Rosny.

Autorisierte Uebertragung von M. v. Berthof. Dann aber kam Guy ein andrer Gedanke, der ihn häufig heimsuchte und quälte.

Ich könnte wirklich nach Mantes   gehen. Es ist Zeit, daß ich mir Wort halte, und dann möchte ich wissen...

Rasch ging er nach Hause, überzeugte sich, daß er in zwischen nicht gerufen worden war, und fuhr dann in die Rue de Marigny. Er traf erst nur Madame Monteaur; Madeleine beendete eben ihre Toilette, um auszugehen.

War es die Wirkung der Behandlung oder Zufall, die alte Dame hatte sich seit langer Zeit nicht so wohl gefühlt. Sie schrieb natürlich alles Verdienst daran Herbeline zu. Sie war voll Bewunderung und sehr eingenommen für ihren tünftigen Schwiegersohn.

hatte.

Sie sehen gut aus," sagte er, nachdem er sie untersucht

Ich bin glücklich!" gab sie zur Antwort. Das ist ja ein wahres Wiederaufleben! Mein Leben war ein reines Elend geworden. Mein lieber Zauberer, verlassen Sie

mich nicht!"

" Ich möchte es gar nicht gern," entgegnete er, und doch wird es wohl notwendig werden, daß wir uns trennen. Jetzt ist der Moment, die Kur zu beenden!"

,, Um Gotteswillen, schicken Sie mich nicht weit von sich fort. Ich würde alles Vertrauen verlieren, und das Vertrauen ist doch eine so große Kraft!"

-

Wir wollen sehen. Vor allem wollen wir die Ein­spritzungen durch einen andren Stimulus ersetzen. Wir sind jetzt im Monat April, man muß frische Luft atmen! Da ich nicht zu jenen gehöre, die blindlings an das Meer, das Hoch gebirge oder die Modebäder glauben, so meine ich, daß die Umgebung von Fontainebleau   aber nicht inmitten der Wälder oder von St.- Germain ganz die gewünschte Wirkung hervorbringen könnte. Ich würde Sie dann drei- bis viermal wöchentlich dort besuchen. Man müßte also eine ziemlich hoch­gelegene Behausung finden, umgeben von Wiesen und Gärten. Die großen Bäumen sollen erst in einer Entfernung von 300 Meter anfangen. Fließende Wasser, aber auch nicht in allzu großer Nähe; und ja kein stehendes Wasser. Ich bin übrigens ganz entschlossen, tyrannisch vorzugehen. Sie dürfen nichts mieten, ehe ich nicht mein Gutachten abgegeben habe." Sie wissen also nicht, daß dieses Ideal in Wirklichkeit vorhanden ist, daß Sie eben ganz nach der Natur unfren tleinen Besitz von Belles- Aigues geschildert haben? In andert­halb Stunden- inklusive der Wagenfahrt, die Sie nach der Gare Saint- Lazare   bringt- erreichen Sie unsren Land­aufenthalt, wo Sie der Wagen erwartet und zu uns führt. Hier kommt Madeleine...

Madeleine trat, zum Ausgehen bereit, herein; strahlend und graziös in ihrem Kleid von pastellblauem Tuch, das mit weißem Taffet und sèvresblauer Seide garniert war. Sie errötete vor Vergnügen beim Anblick ihres Bräutigams. Auch ihn durchfuhr es vor Stolz und Liebe. Eine große wissen­schaftliche Entdeckung würde ihm nicht rühmlicher erschienen fein, als die Eroberung dieses herrlichen Geschöpfes.

Welch eine reizende Ueberraschung," sagte sie, ihm die Hand reichend.

,, Du brauchst Dich gar nicht bei ihm zu bedanken," sagte Madame Monteaur lächelnd, er schickt uns aufs Land."

Ist das wahr?" fragte Madeleine mit leichtem Miß­vergnügen im Ton.

Nur in die nächste Nähe. Es ist ein notwendiges Opfer. Ich habe drei Tage gezögert, es auszusprechen, aber die Pflicht gebietet's; es ginge nicht an, Madame Monteaux nicht aufs Rand zu schicken."

Er wandte fein besorgtes Antlig erst Madeleine und dann der Mutter zu und sagte:

Ich habe eine sehr ernste Bitte an Sie beide zu richten. Ohne diese Abreise hätte ich gewartet. Aber ich kann mich

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jener dumpfen Unruhe nicht erwehren, die jede, selbst vor­übergehende Trennung begleitet. Sie müssen mir also beide verzeihen, wenn ich ungeduldig erscheine. Ich beschwöre Sie übrigens, sich mit Ihren Beschlüssen nicht zu überſtürzen und besonders nur nach Ihren ganz persönlichen Wünschen zu handeln."

Sie jagen uns ja einen furchtbaren Schrecken ein," fagte leichten Tones Madame Monteaux.

,, Aber Sie werden mir nicht böse sein?" sprach er fast flehend.

Es ist also doch etwas Schreckliches?" fragte die alte Dame mit einiger Ungeduld.

es möglich wäre, das Datum für unsre Verbindung ungefähr Für mich ist es schrecklich! Ich wollte Sie fragen, ob

festzustellen.

Er schwieg in aufrichtiger Bewegung. Er war einem Impuls gefolgt, der gleichzeitig der Unruhe, von der er eben gesprochen, und andrerseits dem ehrgeizigen und zärtlichen Bedürfnis, fein Schicksal zu sichern und seinen Sieg voll­ständig zu machen, entsprang. Dumpf vermischte sich dieser Gedanke mit dem an den Ausflug nach Mantes  , den er machen wollte, als ob ein Instinkt ihn antrieb, noch bevor der erste Aft vorbei war, an ein Gutmachen, an die Rehabilitierung seiner gesellschaftlichen Stellung zu denken.

Ist es nur das?" sagte Madame Monteaur lachend. ,, Und Sie haben es nicht erraten, daß wir nur auf diese Ihre Anfrage warteten?"

"

,, Wirklich?" sagte er, ganz blaß werdend, Sie wollen also wirklich, daß ich Madeleines   Gatte werde?"

Sie sollten nicht daran zweifeln. Es hätte mir zwei Gründe geben können, um diese Verlobung wieder aufzulösen, das wäre, wenn die Zuneigung meiner Tochter für Sie oder meine persönliche Wertschätzung für Sie abgenommen hätten. Sie wissen aber ganz gut, daß wir Sie mit jedem Tag mehr lieben und achten. So unbeschäftigt nach jeder Richtung und durch nichts gedrängt wie wir es sind, haben wir natürlich auf Ihren Entschluß gewartet, der mit Rücksicht auf Ihre Berufsthätigkeit und Ihre Lage gefaßt werden mußte. Be­stimmen Sie selbst den Zeitpunkt, lieber Freund; uns wird jeder Tag recht sein. Nicht wahr, Madeleine?"

Er ergriff Madame Monteaur' Hand und drückte einen Tangen Kuß   voll dankbarer Zärtlichkeit darauf. Denn in diesem Moment fühlte er wirklich eine warme Zuneigung zu dieser alten, so sanften und schwächlichen Frau. Die Freude, der Stolz und die Gewissensbisse erfüllten sein ganzes Wesen. Er bewunderte an sich die Menschen, die über alles triumphierten, aber er fühlte eine dumpfe Verachtung für die, welche vertrauende Seelen täuschten. Er beschwichtigte sich selber: ich werde nicht entdeckt werden, also erweckt ihnen auch fein Unheil daraus. Und alles übrige ist leberspanntheit.

Gerührt und von sentimentalen Erinnerungen bewegt, legte Madame Monteauy die Hände des jungen Paares in­einander und sagte:

Madeleine, ich glaube das Beste für Dein Glück gewählt zu haben."

-

Das junge Mädchen antwortete nicht. Sie schwelgte in der Fülle ihrer Illusionen. Mit der Fähigkeit, sich alles aufs phantastischte auszuschmücken, die zur Quelle großen Glücks und unheilbaren Elends werden kann, hatte sie ein unendliches Vertrauen zu dem von ihr erwählten Wesen ein Vertrauen, das sehr bald ganz blind, ja sogar fanatisch wurde. Alle Vor­züge Guys erschienen ihr in diesem Lichte gesteigert. Sie hatte ihn unbewußt aller Fehler, die sie am Anfang ihrer Be­fanntschaft instinktiv herausgefühlt hatte, entkleidet, denn eine der Eigentümlichkeiten solcher Naturen ist es, daß sie die ge­wöhnliche Ordnung der Beobachtungen umkehren und so ge­wissermaßen jeden Tag eine richtige Empfindung gegen eine falsche Vorstellung vertauschen. Sie erwiderte anfangs gar nichts auf die Worte ihrer Mutter. Zitternd drückte sie die Hand ihres Verlobten, die schönen Hoffnungen überwältigten sie wie ein Kampf. Dann fühlte er sich von dem Uebermaß ihrer Ergriffenheit wie gebrochen und fant in Thränen auf­gelöst in die Arme ihrer Mutter.

"

Ach ja! Du bist gut... fehr gut! Du schenfst mit ein zweites Mal das Leben!"