Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 244.

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Dienstag, den 15. Dezember.

( Nachdrud berboten.)

Das Verbrechen des Arztes.

Roman von J. H. Rosny.

Autorisierte Uebertragung von M. v. Berthof. In wenigen Sprüngen setzte Guy über das Dickicht, das ihm die Aussicht verbarg. In einer Entfernung von fünfzig Schritten erblickte er ein schmutziges, zerlumptes Geschöpf, einen von der Sonne gebräunten dioten, mit einer mächtigen Schafmähne, der Marguerite verfolgte.

Leicht und mit entzückenden Bewegungen, wie man sich die Göttin Artemis   oder die Tochter des Lykaon vorstellt, floh fie. Aber sie stolperte über eine Baumwurzel, und der Blöd­sinnige war nahe daran, sie einzuholen, als Guy, der seinen Lauf nicht unterbrochen hatte, wie ein Blis dahergeschossen kam und mit einem mächtigen Faustschlag den Verfolger zu Boden

schleuderte.

Heberrascht und gebändigt durch den plötzlichen Angriff, nahm der Mensch eine flehende Stellung ein: Hab' mir nur einen fleinen Spaß machen wollen, nichts Schlechtes, gar nichts Schlechtes. Ein guter Junge bin ich, kein böser.

" Fort mit Dir!" rief Guy noch ganz wütend, oder man wird Dich gleich dem Feldhüter übergeben

Der Bagabund ließ es sich nicht zweimal sagen, schlich nach dem Ufer hin und war im Augenblick verschwunden.

Guy wandte sich zu dem jungen Mädchen. Da stand sic vor ihm, bleich, den Busen von jenen leichten Wogen gehoben, dessen Anblick so gefährlich ist, ihre großen Augen voll Ver­trauen, Dankbarkeit und Bewunderung auf Herbeline ge­richtet. Sie versuchte zu lächeln, dann überkam sie ein Zittern, fie wurde noch bleicher und schwankte.

Er hatte uur eben noch die Zeit, sie aufzufangen. Als er den jungen warmen Körper in seinen Armen fühlte, den Duft der üppigen Haare einatmete, erblaßte auch er. Eine Art von Entsegen weitete ihm die Augen. Die ganze Kom­plikation unsrer Gedanken und Gefühle, aller in uns durch Jahrhunderte der Civilisation angehäufter Widerstand können es nicht hindern, daß in jener Epoche unfres Lebens eine einzige Bewegung über unser ganzes Schicksal entscheiden kann. Am Morgen dieses Tages war Guy noch nicht von der Schönheit Marguerites ergriffen gewesen.

Herbeline bewunderte Marguerite aufrichtig, aber ohne jeden Hintergedanken.

1903

Art von Nachgiebigkeit, wie etwas, das gar keine Folgen haben konnte. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er sich so vollkommen ergriffen fühlte. Gewiß, er hatte seine Frau heiß geliebt und begehrt, aber in seine Liebe und in seine Wünsche hatte sich zu viel Berechnung mit eingeschlichen. Madeleine Monteaur war doch immer das reiche junge Mädchen gewesen, sie hatte den Ehrgeiz ebenso sehr wie die Sinne gereizt, fie war ebenso sehr das Ziel des Ehrgeizes wie das der Leidenschaft gewesen. Mit Marguerite erwachte ein reiner Instinkt, ein Fieber der Schönheit und des Begehrens wilder Zärtlichkeit, dem in der Vergangenheit der Gefühle Herbelines nichts andres gleichkam. Seine Jugend, wo that sächlich die Arbeit die Liebe aufzehrte, war eher in Enthaltsam­feit verflossen. Die große Leidenschaft" war an ihm vor­übergegangen wie jene duftenden Ufer, an denen ein Schiff vorüberstreift, ohne an ihnen anzulegen. Und plötzlich fühlte er in seinem Herzen diese wunderbare Sache, die fast wie ein under denjenigen überkommt, der fie in seinen jungen Lebensjahren nicht gekannt hat.

Er hätte entsetzt sein sollen. Er war es auch im aller­erften Anfang gewesen. Dann, nach einem Grundgeset der großen Leidenschaften in ihren Uranfängen, hatte er den Ein­druck einer köstlichen Reinheit. Kein förperlicher Verkehr schien ihm erforderlich, um sich neben Marguerite Dufrêne glücklich zu fühlen. Und da er, bei der völligen Abwesenheit iedes männlichen Elements, auch gar keine Eifersucht, kein aufrührerisches Gefühl empfand, überredete er sich leicht, daß er ohne jede Gefahr die Gefühle würde genießen können, die seine Brust schwellten. Er stellte sich sogar vor, daß in einigen Monaten alles vorbei sein würde, daß er davon zurückkehren würde wie von einem herrlichen und harmlosen Ausflug ins Land der Liebe.

8.

Es war einige Tage später, Herbeline hatte seine Bücher ganz aufgegeben. Im Schatten einer Platane auf der Wiese, in einen Schaufelstuhl hingestreckt, genoß er die Freuden der Stunde. Wenige Schritte von ihm entfernt las Madeleine in einem Buche, noch etwas weiter saß Madame Monteaux ganz vergraben in einem alten Lehnstuhl und unterhielt sich von Zeit zu Zeit mit Marguerite. Es war ein Bild des voll­kommenften Friedens, eines jener schönen Bilder menschlichen Glücks, das der Vorübergehende, der es bei einer Wegbiegung zu Gesicht bekommt, mit einem Seufzer des Neides betrachtet. Und thatsächlich waren diese vier Personen auch sehr glücklich. Guy war es vielleicht noch mehr als die drei andren, obgleich er Anfälle von Beängstigungen hatte, die bei der Leidenschaft nicht ausbleiben, aber die sich zu Anfang in Ekstase auflösen, wie kleine Bäche im großen Flusse verlaufen.

Er hätte sich eher in irgend ein Sammerfäßchen verschaut, als in dieses blendende Geschöpf. Und das hätte so fein ganzes Leben lang bleiben können. Von Jahr zu Jahr--hielt, beobachtete er die Bewegungen des jungen Mädchens. so geht es in der Regel wäre es ihm unmöglicher geworden, fich in sie zu verlieben. Da kam eine Bewegung, die, wenn fie die Zukunft auch noch nicht klar enthüllte, sie doch zum mindesten bedrohte.

Als er Marguerite bewußtlos in feinen Armen auf­gefangen hatte, als er fühlte, wie sie schwerer und schwerer iwurde, und er gezwungen war, fie fester zu umschließen, da hatten dunkle Mächte sich in ihm erhoben. Nun war er nur mehr ein Mann, der eine entzückende Jungfrau in seinen Armen hielt. Der Instinkt hatte binnen zwei Minuten das Denken verscheucht, wie die großen Aequinoftialstürme ein gebrechliches Fahrzeug hinwegfegen. Und doch ermannte er fich, brachte das junge Mädchen wieder zum Bewußtsein, und als er sie verließ, hätte er sich für ganz gefeit halten können, Aber seit den Morgen erfüllte ihn nur ein einziges Bild vollständig. Während er an seinen Schriften arbeitete, fühlte er, wie seine Aufmerksamkeit davoneilte, wie das Wasser einer Quelle durch die Nigen des Erdreiches rieselt. Ein Duft durchströmte hartnädig den Raum: der Duft der üppigen, dunklen Haare, dieser frischen Haut. Alles schien umsonst, jede Beschäftigung leer, jeder Wunsch unvernünftig, der über das junge, ohnmächtige Kind im Schatten der Weiden Hinausging.

Er widersetzte sich, aber vielleicht wegen des festen Ver trauens, das er in seinen Willen hatte, kämpfte er nicht stark genug dagegen an. Er überließ sich dem Eindrud mit einer

Hinter der vorgehaltenen Zeitung, die er in den Händen Marguerite war im Sommer schöner als zu jeder andren Jahreszeit. Ihr matter Teint, der keinem rosigen Hauch sein Leuchten verdankte, schimmerte ebenso sehr im Schatten wie in der Sonne. Wenn ein Sonnenstrahl auf ihren Hals fiel, dann erbebte Guy vor Bewunderung. Wenn sie ihre schwarzen Augen auf den Park richtete, dann fühlte er sich vor Bart­lichkeit vergehen. Er erwartete die Wiederkehr gewisser Be­wegungen mit der Begehrlichkeit eines Kindes und dabei mit einer gewissen mystischen Exaltation. Er fühlte sich fanfter, nachgiebiger als je in seinem Leben. Durch seine wenig altruistische Seele fuhr eine großmütige Hingabe, ein Be­dürfnis, hilfreich zu sein, ein alles umfassendes Wohlwollen. Und er glaubte, nie zuvor mehr Hingabe für Madame Mon­teaug und seine Frau gefühlt zu haben. Es war mit einem Worte cine jener großen Stunden, wo das Wesen den höchsten Grad seiner Vollkommenheit erreicht, eine Stunde, die so merk­würdig mit den größten Verirrungen des Herzens zusammen. fällt, mit aller beginnenden Niedrigkeit, allem Verrat.

Madeleines   Stimme unterbrach seine Betrachtungen. Die junge Frau jagte:

Wie sonderbar! Mir wird auf einmal so falt, als stiinden wir mitten im Winter."

Er drehte sich um, sah sie blaß und hinfällig. Ihre Augen irrten umher. Dann schlossen sie sich. Sie fiel in Ohnmacht. Da war er auch schon an ihrer Seite und stand ihr hilfreich bei. Da sie stets ihr Fläschchen mit Miechsalz bei