Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 37.
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Sonntag, den 21. Februar.
( Nachdruck verboten.)
Elther Waters.
Wie
Noman von George Moore . „ Absichtlich!?" rief entrüstet der Kleine Teufel". wir noch' ne Viertelmeile vom Ziel waren, ließ ich Silberschwanz plößlich den Zügel, ohne daß„ Ginger" es merkte, und die ganzen letzten fünfzig Meter war ich ihm um' ne halbe es Länge voraus.„ Ginger" reitet eben nicht besser als alle die andren feinen Herrenreiter."
" Seht Ihr," sagte Mr. Swindles, er verträgt eher eine Ohrfeige vom Küchenmädchen, als die Idee, daß ein Gentleman ihn beim Rennen schlagen könnte. Wenn es noch sein Kollege Tinman wäre, hätte es nichts zu bedeuten was, Kleiner Teufel"?"
„ Das soll mir feiner sagen," entgegenete Mr. Leopold, , daß Bayleaf auf eine Meile geschlagen werden kann also muß da irgend ein Unterschied im Gewicht gewesen sein. Außerdem, glaub' ich, ging die Probe bloß auf dreiviertel Meile die Meile war geflumfert."
1904
Vom Leben wußte sie nichts als das, was sie selbst erfahren hatte. Von Schauspielen des Leidens und der Leidenschaften kannte sie nur die, die in der Bibel erzählt wurden. Der Roman in der illustrierten Zeitschrift, dem Family Reader", war die erste Darstellung des Lebens, die sie kennen lernte, und was darin erzählt und gethan wurde, erregte und bewegte sie wie noch nie zuvor etwas. Die Schauspielerin, die Heldin dieser Geschichte, gestand Norris, daß sie ihn liebe. Sie befanden sich auf einem Balkon, der Himmel über ihnen war blau, der Mond schien, die warmen Düfte von Reseda und Rosen drangen vom Garten zu ihnen empor. Der Mann trug einen Frackanzug und Brillantknöpfe im Vorhemd, die Schauspielerin hatte runde, weiße Arme. Schon vor Jahren hatten sie einander geliebt, und die seltsamsten Dinge waren passiert, um sie wieder zusammenzubringen; fast gegen ihren Willen gefesselt, konnte Esther nicht anders als zuhören. Als das Kapitel aber beendet war, zwang sie das anerzogene Puritanergefühl, etwas dagegen zu sagen.
„ Es ist doch sicher eine Sünde, solche Geschichten zu lesen," sagte sie.
Sarah sah sie erstaunt an. Grover erwiderte: ,, Wozu sitzen Sie eigentlich noch hier? Hat Mrs. Latch denn gar keine Beschäftigung für Sie?"
Und Sarah, die plößlich zum Bewußtsein der Situation erwachte, fagte:
"
" Ich sollte meinen," warf Mr. Swindles dagegen ein, ,, daß die Pferde genau abgewogen sind. Und wenn der Silberschwanz bei dem Gewicht den Bayleaf schlagen konnte, dann wird ihm auf Goodwood so leicht feiner beifominent." ,, Auf Ihrer letzten Stelle hat man Ihnen wohl nicht erVorwärts gelehnt, die Arme auf den Tisch gestützt, große laubt, Romane zu lesen? Das waren gewiß so... eflige, Stüde Säfe auf den Spitzen ihrer Messer, horchten die Mädchen fromme Lente?" und der Jockey zu, wie Mr. Leopold und Mr. Swindles die Die Sache hätte hiermit beendet sein können, wenn Chancen diskutierten, die ihr Herr hatte, den Stewards Cub- Margarete nicht plöglich erzählt hätte, daß Esther eine ganze Preis mit Silberschwanz zu gewinnen. Kiste voller Bücher besäße.
Aber er läßt sie immer wieder und wieder Probe laufen," rief Mr. Swindles aus, und wie oft hab' ich ihm schon gesagt, er soll das lassen. Was soll das nüßen, hab' ich gesagt. Man läßt feine Pferde so offen Probe laufen, die noch nicht in guter Form sind. Die ganze Strecke wimmelt ja von Aufpassern. Die Hunde lauern ja schon so auf alles, daß man nicht mehr einem Gaul die Mähne streicheln kann, ohne daß es morgen in den Zeitungen steht. Wenn ich könnte, wie ich wollte, ich würde der Gesellschaft zeigen"
Mr. Swindles goß rajch sein Bier himmter und setzte das Glas so hart auf den Tisch, als wollte er einen der Spione niederschlagen. Alles schwieg eine Weile, dann sagte Mr. Leopold:
Kommen Sie in mein Zimmer, wir wollen dort eine Pfeife zusammen rauchen. Mr. Arthur wird wohl herunter kommen, vielleicht fagt er uns, welch' ein Gewicht er heute morgen geritten hat."
,, Sie alter, schlauer Fuchs, Sie!" sagte Mr. Swindles, erhob sich und wischte seine glattrasierten Lippen mit dem Handrücken ab.„ Sie wollen uns doch nicht weismachen, daß Šie von nichts wissen, was? Wollen Sie uns bielleicht einreden, daß der Alte" Ihnen nicht jedes Wort erzählt, wenn Sie ihm morgens sein heißes Wasser auf sein Zimmer bringen?"
Mr. Leopold ließ ein leises Lachen ertönen und ging dann mit sehr geheimnisvoller Miene Mr. Swindles voran aus dem Zimmer.
Esther sah ihnen in großer Verwirrung nach. Sie hatte von Rennplätzen stets nur gehört, daß es schandbare Orte feien, auf denen Männer ruiniert würden, und man hatte ihr gesagt, daß Wetten eine Sünde sei; in diesem Hause aber schien man an gar nichts andres zu denken. Nein, das war fein Aufenthalt für ein chriftlich erzogenes Mädchen!
Wir wollen wieder ein bißchen im Roman lesen," sagte Margarete. Sie haben ja schon die nene Nummer. Das letzte war, wie er die Opernsängerin bitten will, mit ihm zu entfliehen."
Sarah zog eine illustrierte Zeitung aus der Tasche und begann laut vorzulesen.
-
III.
Esther gehörte zur Brüdergemeinde von Plymouth. In ihrer Kirche wenn man das Haus, in dem ihr Gottesdienst stattfand, überhaupt so nennen fonnte gab es weder Heiligenbilder noch Gewänder, noch Musik, noch selbst eine Anregung der Einbildungskraft durch vorgeschriebene Gebete.
„ Die Bücher möcht' ich sehen," sagte Sarah." Ich wette, es sind alles Gebetbücher."
meine
,, Sie können zu mir sagen, was Sie wollen Religion aber dürfen Sie mir nicht angreifen." " Ihre Religion angreifen? Das thue ich doch gar nicht. Ich sage nur, daß ich glaube, Sie haben noch nie ein andres Buch als ein Gebetbuch gelesen."
„ Wir gebrauchen gar feine Gebetbücher."
Was für Bücher haben Sie denn sonst gelesen?" Esther zögerte, ihre Miene verriet sie, und Sarah, die die Wahrheit vermutete, sagte schnell:
" Ich glaube, daß Sie überhaupt nicht lesen können! Ich wette zwei Pence, daß Sie nicht eine Zeile hier in diesem Blatte lejen können."
Esther schob die dargereichte Zeitung zurück und verließ das Zimmer, Kummer und Demütigung im Herzen. Woodview und alles, was dazu gehört, wurde ihr unerträglich, und ohne danach zu fragen, daß sich die Köchin darüber beklagen könnte, lief sie auf ihr Zimmer hinauf und schloß sich ein. Warum, warum, fragte sie sich leidenschaftlich, machte es ihnen allen Vergnügen, sie so zu quälen? War es denn ihre Schuld, daß sie nicht lesen gelernt hatte? Da waren die Bücher, die sie um ihrer Mutter willen so liebte, die Bücher, die solche Schande über sie gebracht hatten. Nicht einmal ihre Titel konnte sie lesen, und das Bewußtsein ihrer Unwissenheit lastete schwer auf ihrer Brust.
"
Die Bibliothek war bunt genug. Da war„ Peter Parleys Stalender"," Freundliche Erinnerungen an fremde Länder", Die Kinder der Abtei"," Onkel Toms Hütte", Lambs„ Erzählungen nach Shakespeares Dramen", ein„ Kochbuch" Rodas Mission der Liebe"," Die heilige Schrift" und die englische Kirchenagende.
"
Sie drehte die Bücher in ihrer Hand hin und her und dachte, welche Geheimnisse diese ihr unverständlichen Drud typen wohl enthalten könnten. Buchstaben waren für sie ein ebenso großes Geheimnis wie die Sterne.
Esther Waters stammte aus Barnstaple .
Sie war nach den strengen Gesetzen der Plymouther Brüdergemeinde erzogen worden, und ihre frühesten Erinnerungen bezogen sich fast nur auf Gebete und das Bild eines schlichten, friedlichen Familienlebens. Dies Leben hatte gedauert, bis sie zehn Jahre alt war; dann starb ihr Vater. Er war Stubenmaler gewesen und war in früher Jugend schon durch schlechte Gesellschaft zum Trunk verleitet worden.