Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 39.

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Mittwoch, den 24. Februar.

( Nachdruck verboten.)

Efther Waters.

Roman von George Moore .

1904

das Zimmer verlassen zu können, aber sie hatte nicht den Mut dazu; und während sie noch voller Angst und Aufregung darüber nachsann, rief ihr Mrs. Barfield schon zu, weiter­zulesen. Tief beschämt über die Blöße, die sie sich nun geben mußte, ließ sie den Kopf hängen, und als Mrs. Barfield ihr noch einmal sagte, weiterzulesen, schüttelte sie den Kopf. ,, Können Sie nicht lesen, Esther?" hörte sie eine gütige Stimme fragen, und der Klang dieser Stimme schien die ge­waltsam zurückgedrängten Empfindungen plöglich freizugeben, so daß das Mädchen, anstatt zu antworten, in ein leidenschaft­liches Weinen ausbrach. Sie litt unsäglich und empfand jett nur noch dieses Leiden, bis eine gütige Hand sie faßte und aus dem Zimmer führte. Und diese Hand war es auch, welche die Bitterfeit aus ihrem Herzen hinwegwischte, die darin aufgequollen war, als sie das Kichern der andren Mädchen vernommen hatte. Es wurde Mrs. Barfield nicht leicht, sie zum Sprechen zu bringen. Aber schon die ersten Worte, welche Esther äußerte, zeigten ihrer Herrin, daß auf dem Herzen dieses Mädchens weit mehr lastete, als sie in wenigen Momenten erzählen konnte.

Mrs. Barfield entschloß sich, die Sache gründlich zu untersuchen, und zwar sofort. Sie schickte die andern Mädchen hinaus und ging mit Esther in das Bibliothekzimmer zurück. Esther sagte ihrer Herrin alles; wie unendlich viel sie für Mrs. Latch arbeiten mußte, wie die andern Dienstboten fie verspotteten und verfolgten wegen ihrer Frömmigkeit. Während der Unterhaltung fiel auch eine Anspielung auf die Rennpferde, und Esther sah bei dieser Gelegenheit einen Aus­druck von Kummer auf Mrs. Barfields Antlitz.

Mrs. Barfield oder, wie man sie nannte, die Heilige", gehörte gleich Esther der Sekte an, die unter dem Namen der Plymouthbrüder bekannt war. Sie war die Tochter eines Pächters des alten Squires gewesen, eines sehr alten Mannes Namens Elliot. Dieser Elliot hatte sein Lebenlang auf einer armseligen Farm verbracht, war mit niemand befreundet und hatte sich stets mit allen tüchtig herumgeschlagen, namentlich mit dem Squire und den armen Holzdieben. Noch jetzt sah man ihn mitunter auf den Bergen spazieren gehen, in einem Tangen, schwarzen, fest zugeknöpften Rock und einem tief über das dünne graue Gesicht herabgezogenen weichen Filzhut. Die hübsche Fanny Elliot hatte das Herz des Squires gewonnen, als er sie zum erstenmal sah; von da an fand er stets einen Vorwand, um nach dieser Farm zu reiten; man jah ihn oft, sehr oft den Weg dahin nehmen, aber bevor Miß Elliot ver­sprach, Mrs. Barfield zu werden, mußte der Squire ihr ver­sprechen, der Brüderschaft beizutreten und niemals wieder zu wetten. Die jetzigen Mitglieder der Familie Barfield er­klärten, daß diese Heirat den socialen Ruin der Familie be­deutete, aber weniger beteiligte Zuschauer nannten es eine sehr passende Heirat, denn sie hatten nicht vergessen, wie faum drei Generationen zurück die Barfields nichts andres gewefen waren, als Fuhrhalter; erst die vorige Generation war in den Rang der besseren Familien emporgestiegen, und ihre " Ich will Sie Lesen lehren, Esther," sagte sie. Jeden Feinde und Neider behaupteten, daß sie in dieser Generation Sonntag nach unsrer Bibelstunde, wenn die andern fort sind, schon auf ihr ursprüngliches Niveau zurückgesunken wären. werde ich Sie eine halbe Stunde unterrichten; es ist nicht Der Squire hielt eine Zeitlang sein Versprechen. Die schwer; Sie werden es bald lernen." Rennpferde verschwanden aus den Ställen von Woodview, Und von nun an widmete Mrs. Barfield wirklich jeden und erst nach der Geburt seiner beiden Kinder geschah es, Sonntagnachmittag eine halbe Stunde dem Unterricht ihres daß er eines seiner Jagdpferde in einem Steeplechaserennen Küchenmädchens. Diese halben Stunden waren wie helle mitlaufen ließ von da an dauerte es gar nicht lange und der Sonnenblicke in den langen Arbeitswochen des Dienst­Rennstall in Woodview war wieder voll. Es gab Thränen, mädchens; lag ein solcher Sonnenblic kaum hinter ihr, so Streit und Zant, aber die Zeit verlangt Stonzessionen von sah sie schon den kommenden vor sich schimmern. Aber obwohl einem jeden. Mrs. Barfield zanfte sich nicht mehr mit ihrem fie einen ganz guten Verstand besaß, machte Esther keine Manne wegen seiner Rennpferde, wofür er sie wiederum nicht schnellen Fortschritte, und all ihr Fleiß und ihr Wunsch, zu mehr an der Ausübung ihrer religiöjen Pflichten hindern lernen, schienen ihr kaum zu helfen. Mrs. Barfield war er­durfte. Sie konnte zu ihren religiösen Versammlungen gehen, staunt über die Langsamkeit in den Fortschritten ihrer wann sie wollte, und die Bibel lesen, wann und wo es ihr Schülerin und schrieb es ihrer eignen Unfähigkeit im Unter­gefiel. richten und der kurzen Zeit, die sie dem Unterricht nur widmen konnte, zu. Esthers Unfähigkeit, Silben zusammenzusetzen und Worte zu begreifen, war auffallend. Es war seltsam, wie alles, was gedruckt oder geschrieben war, sie nur zu ver­wirren schien.

IV.

Zu ihren Gewohnheiten gehörte es, die weiblichen Dienst­boten jeden Sonntagnachmittag eine halbe Stunde im Bibliothekzimmer zu versammeln und ihnen das Leben Jefu zu erklären. Mrs. Barfields Güte leuchtete förmlich aus ihrem kleinen ovalen Gesicht hervor. Ihr rötlichblondes Haar wurde am Scheitel schon dünn und sie trug es glatt hinter die Esthers Stellung in Woodview war nun eine ganz sichere Chren zurückgestrichen, so wie man es auf aften Bildern sieht. geworden. Die übrigen Dienstboten erkannten die Thatsache Obwohl sie fast fünfzig Jahre zählte, war ihre Gestalt fast an, aber gewannen sie darum nicht lieber. Mrs. Latch so schlank wie die eines jungen Mädchens. Esther fühlte sich hinderte sie nach wie vor, so viel sie konnte, etwas von ihr zu durch ihren religiösen Glauben zu ihr hingezogen, und wenn lernen, nur wagte sie nicht, fie auch jetzt noch überanzuſtrengen. beim Beten ihre Blicke einander begegneten, begrüßten sie sich Von Mr. Leopold sah sie fast so wenig wie von den Herr­in dem Gefühl tiejinnerster Uebereinstimmung. Eine ganze schaften oben, nur im Korridor begegnete sie ihm mitunter, Welt von Freude begann sich jetzt in Esthers Herz hinein- sonst saß er meist in seinem kleinen Büffettzimmer. Dorthin zustehlen. Sie wußte jetzt, daß sie nicht länger allein und begab sich Ginger" sehr oft, um zu rauchen, und durch die einsam unter Fremden war, sie wußte, daß sie und ihre Herrin halb offen stehende Thür konnte Esther seine dünne Figur durch ein starkes Band verbunden waren. Der Anblick Mrs. sehen, die auf dem Tische saß und mit den Beinen schaukelte. Barfields erfüllte sie mit Erinnerungen an ihre fromm vern der Stüche bildete Mr. Leopolds tiefes Wissen ein un­lebte Kinderzeit; sie sah sich wieder wie damals in dem alten erschöpfliches Thema der Bewunderung. Seine Erinnerungen Trödelladen, wie sie sich da in einer Atmotsphäre von an die Rennen von vor mehr denn dreißig Jahren inter­Frömmigkeit und Beten bewegte, wie sie die herrliche fromme effierten alle. Er hatte all die früheren berühmten Renn­Geschichte wieder und wieder hörte und wie sie in dem Glauben pferde gekannt, die der Alte" besessen, trainiert und geritten an diese Geschichte herangewachsen war. Glückselig be- hatte, und wußte Dußende von Anekdoten über die Pferde antwortete sie die Fragen, die ihre Herrin an sie richtete, und und ihre Besizer zu erzählen. Gingers" Antlig beschattete erfreute jene durch ihre gründliche Kenntnis des heiligen sich stets, wenn seines Vaters Reitkunst gelobt wurde, und Buches. Aber Mrs. Barfield hatte die Sitte eingeführt, die wenn er alsdann das Büffettzimmer verließ, kicherte Swindles Mädchen abwechselnd einige Verse aus dem Neuen Testament in sich hinein. Laut vorlesen zu lassen, und Esther fühlte, daß man ihr nun Wenn ich Ginger" ärgern will, sage ich immer nur: ihr Geheimnis bald entreißen würde. Eines Tages hatte Ah! Niemals wird es wieder einen Gentleman- Jod*) geben, Sarah einen Vers gelesen und Mrs. Barfield hafte ihn er der so famos reitet, wie der Alte" in seiner besten Zeit!" flärt; jetzt las Margarete; während Esther zuhörte, dachte sie mach, ob sie nicht Strankheit vorschützen sollte, um schnell

*) Herrenreiter.