Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 49.
16]
Mittwoch, den 9. März.
( Nachdruck verboten.)
Esther Waters.
" Ich will Euch was sagen," sagte William, hütet lieber Eure Zungen; wenn die oben von solchen Redensarten was erfahren, könntet Ihr wohl bald Eure Stellen hier verlieren und solche wie hier finden sich so leicht nicht wieder." Meine Stelle verlieren!" fagte Sarah
was mach' ich mir daraus! Machen Sie sich nur keine Sorge um mich, ich werde schon immer wieder' ne andre Stelle finden. Aber da wir doch nun mal dabei sind, kann ich Ihnen sagen, daß Sie viel näher daran sind, Ihre Stellung zu verlieren, als ich die meine."
William zögerte und schien nach einer Antwort zu suchen. Inzwischen geboten Mrs. Latch und Mr. Leopold Schweigen.
Die Jockeyjungen grinsten vor Vergnügen, Sarah sah ärgerlich drein, Mr. Swindles und Mr. Leopold machten nachdenkliche Gesichter. Die älteren Dienstboten hatten das Gefühl, daß die Sache sich nicht auf das Bedientenzimmer beschränken, sondern sicherlich noch an demselben Abend im " Roten Löwen" wiederholt werden und am Morgen darauf womöglich das Stadtgespräch bilden würde.
*
Am folgenden Tage sah Esther etwa um vier Uhr Mrs. Barfield, Miß Mary und Peggy über den Hof dem Garten zuschreiten, und als sie bald darauf nach dem Holzschuppen ging, fab fie Peggy eiligen Schrittes und vorsichtig unter dem Schutz des dichten immergrünen Gesträuches aus dem Garten zurüdfommen und in das Haus hineinschlüpfen.
Sofort eilte Esther in die Küche zurück und wartete auf den Klang der Salonglocke. Sie brauchte nicht lange zu warten, die Glocke ertönte, aber so schwach, daß Esther sich fagte:
Sie hat sie kaum berührt, das ist ein verabredetes Signal, er hat sicher schon darauf gewartet, und die andern sollten es nicht hören."
Sie mußte an das viele, viele Geld denken, das, wie sie gehört hatte, die junge Dame besaß, und an die schönen Kleider, welche sie stets trug. Wie konnte sie dagegen ankämpfen wollen? Sie, mit ihrem armseligen Kattunkleide und ihrem Dienstbotenlohn! Nein, jetzt wird er sie sicherlich nie wieder ansehen. Aber o, wie böse und wie gottlos war dies doch alles! Wie konnte eine, die so viel schon hatte, von einer, die so wenig besaß, noch etwas stehlen? Ja, es war sehr grausam und sehr gottlos, und es würde sicher weder für fie, noch für ihn gut enden, davon war sie überzeugt; denn Gott strafte die Bösen immer. Sie wußte, daß William Peggy nicht liebte, und es war eine Sünde und Schande von ihm nach dem, was er ihr versprochen hatte, nach dem, was zwischen ihnen beiden passiert war.
Nie hätte sie geglaubt, daß er so falsch sein könnte; und plötzlich flammte ein glühender Haß auf das Mädchen, die ihn ihr geraubt hatte, in ihrem Herzen auf. Jetzt faß er ficherlich an ihrer Seite im Salon. Da, wo er hingegangen war, durfte sie ihm nicht folgen. Er war hinaufgegangen zu großen, reichen Leuten, die ihre Tage in Faulheit und in Sünde verlebten, die die ganzen Tage über aßen und tranken und spielten und wetteten und an gar nichts andres dachten und sich von Mitmenschen bedienen ließen, die ihnen gehorchen und jeden Wunsch erfüllen mußten. Sie wußte sehr wohl, daß diese reichen Leute ihre Dienstboten als untergeordnete Geschöpfe betrachteten. Aber warum? War sie nicht aus dem gleichen Fleisch und Blut gemacht wie jene? Peggy trug ein Schönes Kleid und sie ein schlechtes, aber darum war jene doch nichts Besseres als sie. Wenn man ihr das Kleid wegnahm, war sie nichts andres als sie, eine Frau gerade wie sie auch. Sie schritt durch die grüne Thür hindurch den breiten Korridor entlang. Endlich befand sie sich am Fuße der mächtigen, glatt polierten eichenen Treppe, die von einem großen ,. buntfarbigen Fenster. erhellt wurde, zu dessen beiden Seiten marmorne Statuen aufgestellt waren. Auf
1904
dem ersten Treppenabsak standen Säulen und blaue Vasen, und gestickte Vorhänge hingen vor den Fenstern. Wie int Traume sah das Mädchen alle diese Sachen, wie im Traume sah sie die Menge von hellen Thüren und konnte sich zuerst nicht entscheiden, welche von den vielen wohl die Salonthür sein mochte, hinter der. in eben diesem Augenblick William, zwischen den goldenen Möbeln und weichen Teppichen in der warmen, parfümierten Luft, den Worten des gottlosen Weibes lauschte, die ihn von ihr gelockt und ihr geraubt hatte.
Plötzlich, ohne daß sie es erwartete, öffnete sich eine Thür und William trat heraus; als er Esther erblickte, wußte er zuerst nicht, ob er sich zurückziehen oder herauskommen sollte. Dann flog ein gemischter Ausdruck von Zorn und Furcht über sein Antlit, er trat ihr rasch entgegen und sagte:
„ Was machst Du denn hier?" Und dann mit veränderter Stimme: Das ist gegen die Hausordnung, Du weißt es doch." " Ich will die da drin sehen," erwiderte Esther.
Weiter nichts? Willst Du ihr vielleicht auch etwas fagen? Na, das erlaube ich nun mal nicht; was soll denn das heißen, daß Du mir hier nachläufft und auflauerst?"
" Ich habe ihr etwas zu sagen."
„ Darüber wollen wir in der Küche miteinander reden," erwiderte William, packte sie bei den Schultern und zwang sie so, vor ihm her zu marschieren. Sie sah, wie die junge Dame, ihr Taschentuch vor dem Gesicht, rasch die zweite Treppe hinauflief. Esther machte eine Bewegung, als ob sie ihr folgen wollte, aber William hielt sie davon zurück. Sie wandte sich um, riß sich von ihm los, ging den Korridor hinab und betrat die Küche. Ihr Gesicht war totenbleich, ihre furzen, kräftigen Arme hingen zitternd herab, und William sah, daß er sie jetzt vor allen Dingen nicht in Zorn bringen durfte.
„ Nun hör mal zu, Esther," sagte er,„ Du solltest mir verteufelt dankbar sein, daß ich Dich verhindert habe, etwas Blödsinniges anzustellen."
Esthers Augenlider zitterten und ihre Augen wurden ganz groß Zorn, aber sie konnte zuerst nicht sprechen. Wenn un Miß Margarete" fuhr William fort. „ Geh fort von mir! Geh fort!" schrie sie.
Die glänzende Klinge eines großen, scharfen Messers auf dem Küchentisch fiel ihr in die Augen; vor ihren Blicken wurde alles rot, sie ergriff das Messer und rannte damit auf William zu. William wich eilig zurück, und Mrs. Latch fiel ihr in den Arm. Esther schrie laut auf und warf das Messer nach ihm; sie hatte die Wand getroffen, dort fiel es mit lautem Selirren zu Boden. Sie riß sich von Mrs. Latch los und wollte das Messer von neuem ergreifen. In diesem Augenblick aber verließen sie ihre Kräfte und sie fiel ohnmächtig zurück.
„ Was hast Du denn dem Mädchen gethan?" fragte Mrs. Latch.
„ Nichts, Mutter! Wir haben uns eben ein bißchen gezanft, das ist alles. Sie ist eifersüchtig, weil ich mit Sarah spazieren gehe."
„ Das ist nicht wahr. Ich kann Dir die Lüge vom Gesicht ablesen; ein braves Mädchen greift nicht zum Messer, bevor ein Mann sie halb wahnsinnig gemacht hat."
"
So ist's recht; nimm nur immer Partei gegen Deinen Sohn! Wenn Du mir nicht glauben willst, kannst Du sie ja selber fragen."
Er wandte sich auf dem Absatz um und ging zur Küche hinaus und auf den Hof. Mrs. Latch sah ihm nach, wie er in den Hof hinab und den Ställen zuschritt; dann wusch sie Esthers. Antlig mit kaltem Wasser, und als diese die Augen öffnete, blickte sie die alte Frau fragend an und begriff zuerst gar nicht, was passiert war.
-
„ Na, geht's Ihnen nun besser, mein Kind?" O ja, aber aber was dann kehrte ihr die Erinnerung zurück. Ist er fort? Hab' ich ihn getroffen? Ich erinnere mich jetzt, daß ich"
,, Nein, Sie haben ihn nicht getroffen."
" Ich will ihn nie wiedersehen! Nie wieder! Ich muß wahnsinnig gewesen sein; ich wußte gar nicht mehr, was ich that.
erzählen."
Sie können mir ein andres Mal die ganze Geschichte ,, Sagen Sie mir nur, wo er ist. Ich muß das wissen." " Ich glaube, er ist nach dem Stall gegangen, aber Sie