Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 66.

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Freitag, den 1. April.

( Nachdruck verboten.)

Efther Waters.

Roman von George Moore  .

Diese Nacht mußte Esther nun jedenfalls im Armenhause verbringen, und was dann?

Lund

1904

und sie glaubte schon, daß mum etwas Wunderbares passieren würde. Er aber machte ihr mur ein Kompliment über ihren Mut und ging weiter. Da merkte sie, daß es ihm nicht ge­fallen hatte, eine traurige Geschichte anzuhören. Nun kam ein Strolch und setzte sich zu ihr auf die Bank.

uns fortjagen von hier. Aber eigentlich ist's mir egal; es ist ,, Gleich," sagte er, wird ein Schußmann kommen und regnen, und ich habe einen so schrecklichen Husten." doch zu kalt, um hier zu schlafen; ich glaube, es wird bald

Sie wußte es nicht. Sie konnte auch ihre Gedanken nicht festhalten, und wieder irrte sie planlos in den Straßen umher. Endlich blieb sie auf einer Brücke stehen, sah den dunklen erbitten? Aber das war noch so weit, so weit! Sie glaubte Sollte sie sich ein Obdach für die Nacht bei Mrs. Jones Abendhimmel an mit seinen silbernen Sternen, und das gar nicht, daß sie überhaupt im stande wäre, noch so weit zu mächtige Wasser, das da unter ihr, zu ihren Füßen unabläjjig geben. Und wenn Mrs. Jones vielleicht fortgezogen wäre, wogte und plätscherte. Sie wußte nicht mehr, was thun, was was sollte sie dann thun? Schließlich das Armenhaus in denken. Sollte sie wirklich in dieser sternenhellen, großen, jener Gegend war um nichts besser als das Armenhaus in reichen Stadt mit ihrem Kinde elend sterben? zu Grunde dieser Gegend! Und ein Nachtquartier, was würde ihr denn gehen? Und warum, warum? Es blieb ihr jetzt nur noch auch das viel nützen? Mrs. Jones konnte sie nicht umsonst das Armenhaus! Aber dieser Gedanke war ihr so schrecklich; bei sich behalten, und sie konnte sich auch kein zweites Mal nach mitunter glaubte sie, daß sie wahnsinnig würde; mit Gewalt einer Stelle als Amme umsehen; denn das Hospital würde sie hielt sie endlich ihre Gedanken zusammen und fragte fich, nicht wieder empfehlen. Wieder begannen ihre Gedanken sich warum sie denn nicht ins Armenhaus gehen wolle, wenigstens nach allen Windrichtungen hin zu zerstreuen. Sie mußte für diese Nacht. Um ihretwillen wäre es ihr egal gewejen, plöglich an ihren Vater denken, an ihre Brüder und Schwestern, aber um ihres Kindes willen; mit ihm ging fie so ungern die nach Australien   gefahren waren. Ob die wohl dort an dahin. Doch schließlich, wenn es Gottes Wille war, so mußte gefommen waren? Und ob sie an sie dachten und ob--? sie sich fügen. Aber selbst dieser Trost vermochte sie nicht zu Die im Mondenschein daliegende große Stadt starrte ihr überzeugen, und wieder wanderte sie planlos auf der Brücke auf und nieder. Es war eine falte Nacht; sie widelte ihr Baby eisig ins Antlig, und sie und ihr Kind waren auf dem Wege fest in ihr Tuch ein und versuchte noch einmal sich zu über zum Armenhaus! Wer hätte je geglaubt, daß sie so tief sinken. würde! Sie und ihr Knabe würden Bettler werden! Ihr reden, das Obdach des Armenhauses anzunehmen. Alles, was Blick fiel auf den Strolch neben ihr. Er war eingeschlafen; sie hier sah, erschien ihr fremd und so seltsam! Die blaffe er kannte gewiß das Innere des Armenhauses gut. Sollte glasige Scheibe des Mondes da hoch oben am Himmel, die sie ihn fragen, wie es dort wäre? Auch er besaß wohl keinen vielen Lichter, die Goldstücken gleich vom Ufer ins Wasser zu Freund in der weiten Welt. Sonst würde er nicht hier am fallen schienen, und wieder mußte sie denken: das Armenhaus, falten Flußufer schlafen. Er konnte ihr wenigstens den Weg das Armenhaus! Was hatte sie verbrochen, um ein so bitteres nach dem Armenhause zeigen. Sollte sie ihn danach fragen? Schicksal zu verdienen? Und vor allem, was hatte das un- Aber der arme Mann schlief, und wenn man schlief, war man schuldige Kind verbrochen? Sie hatte das Gefühl, daß, wen glücklich. Nein, sie wollte ihn nicht wecken. Der Vollmond fie erst einmal das Armenhaus betreten hatte, sie für immer hoch oben am Simmel, die steinerne, starre, große Stadt, die dort bleiben und für immer gebrandmarkt sein würde. Dann waren sie und ihr Kind für ewige Zeiten Bettler. Aber was glasige, endlos dahinrollende Fläche des Wassers, alles das zusammen machte sie fast schwindlig und sie hatte plötzlich sonst, was sonst? Was kann ich denn sonst thun? fragte sie zuſammen machte sie fast schwindlig sich noch einmal verwirrt und setzte sich müde auf eine der nur noch den einen Wunsch, die Augen zu schließen und mit dem Mond und mit dem dahinrollenden Wasser fortgetragen zu werden, weit fort aus dieser Welt.

Bänke nieder.

Ein junger Mann in Gesellschaftstoilette ging an ihr vorüber und betrachtete sie. Der Gedanke schoß ihr durch den Kopf, ihm nachzulaufen und ihm ihre Geschichte vorzutragen. Warum häte er ihr denn nicht helfen sollen? Es wäre ibm gewiß ein leichtes gewesen; vielleicht, vielleicht thäte er's! Aber bevor sie sich noch entschließen konnte, ihn anzureden, hatte er schon eine Droschke bestiegen und war davongefahren. Sie blickte zu den Fenstern der großen Hotels hinauf und dachte an die vielen, vielen reichen Leute, die dort wohnten und denen es ein leichtes sein würde, sie vor dem Armenhause zu bewahren. Hinter diesen Fenstern klopfte gewiß mehr als ein gütiges Herz, welches ihr gern geholfen hätte, wenn sie sich ihm hätte offenbaren können. Aber da lag eben die Schwierig keit; sie konnte doch keinen anreden und ihm ihre Geschichte er zählen; und keiner konnte von selbst das Elend ahnen, welches sie erduldete; und sie war außerdem ja auch noch so unwissend, so ungebildet, sie hätte sich gar nicht einmal verständlich zu machen gewußt. Man würde sie für eine gewöhnliche Bettlerin gehalten haben.

Nein, nein; nirgends konnte sie Hilfe finden als eben nur im Armenhause! Ja, dort mußte sie hin! Der Gedanke an ihr furchtbares Elend würgte sie fast, und auf der Höhe der Verzweiflung angelangt, schoß ihr einmal, ein einziges Mal der Gedanke durch den Kopf, ob sie doch nicht besser daran gethan hätte, ihr Kind bei Mrs. Spires zu lassen. Wozu sollte denn der arme, kleine Kerl auch leben?

Ein zweiter junger Mann im Gesellschaftsanzug kam ihr entgegen. Er sah so glücklich, so behäbig aus, er ging mit solch langen, elastischen Schritten einher. Er blieb vor ihr stehen und fragte sie, ob sie spazieren ginge.

,, Nein, mein Herr! Ich bin im Freien, weil ich nicht weiß, wohin ich gehen soll.'

Wie kommt denn das?"

Und er setzte sich neben sie nieder, und sie erzählte ihm die ganze Geschichte von ihrem Elend. Er hörte sie gütig an,

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Ihr Baby wurde immer schwerer im Arme. Der Strolch. der jetzt in seiner zusammengekrümmten Stellung nur noch aussah wie ein Bündel Lumpen, schlief fest. Sie aber konnte nicht schlafen. Eine verspätete Droschte eilte an ihr vorüber, und sie horchte den Tritten der Pferdehufe und dem Klappern der Räder zu, bis auch diese Laute verstummt waren. Die Stille um sie herum wurde jest fast hörbar, bis sie endlich von dem gemessenen, lauten Schritt des Schutzmannes, der seine Runde machte, unterbrochen ward. Esther erhob sich und ging ihm entgegen. Sie fragte ihn nach dem Wege zum Lambeth­Armenhause. Und als sie dann fortschritt in der Gegend nach Westminster zu, hörte sie, wie er mit harten Worten den schlafenden Strolch weckte und ihm barsch befahl, weiter. zugehen.

XX.

Diejenigen Leute, die sich ihre Dienstboten aus dem Armenhause holten, wollten nie mehr als vierzehn Pfund pro Jahr geben, und damit konnte sie nicht die Pension für ihr Kind bezahlen. Die Vorsteherin war ihre Freundin geworden. Sie that, was sie konnte, aber das Gebot lautete immer: Vierzehn Pfund, mehr können wir nicht geben." Endlich bot ein Kaufmann in Chelsea   sechzehn Pfund pro Jahr, und gleichzeitig machte die Vorsteherin Esther mit einer Mrs. Lewis bekannt, einer einsamen Witwe, die sich bereit erklärte, für fünf Schilling pro Woche das Kind in Pflege zu nehmen. So blieben Esther drei Pfund pro Jahr für ihre Kleidung übrig, drei Pfund pro Jahr für sich selbst.

Welch ein unerhörtes Glück!

Der Laden des Kaufmanns stand sehr vorteilhaft an einer Straßenecke. Die Wohnung befand sich über dem Laden, und der Eingang zum Laden war im Kings Road.

Die Familie Bingley bestand ausnahmslos aus häßlichen, harten Menschen, die sowohl aus ihren Stunden wie aus ihren Dienstboten das Menschenmögliche herauszupressen wußten.