Rice wartete auf das Papier, und sie verabschiedete sich rasch von Fred. Ihre nächste Begegnung fand auf der Straße statt; Esther ging aus, um frische Eier für das Frühstück ihrer Herrin ein- zuHalen. Von weitem schon sah sie sich jemand entgegenkommen, den sie zu erkennen glaubte; ein magerer, kleiner Mann mit rötlichem Haar, welches sich unter dem Rande seines großen, weichen Filzhutes leicht lockte. Er grüßte und lächelte ihr sanft zu, als er an ihr vorüberging. Mein Gott," dachte sie,das ist ja der aus der Papier  - Handlung. Ich habe ihn kaum erkannt." Am nächsten Abend begegneten sie einander wieder auf der Straße.> Sie war ausgegangen, um ein bißchen Luft zu schöpfen. Und er eilte nach der Bahnstation, um seinen Zug zu erwischen. Sie blieben einen Augenblick stehen und sagten einander guten Tag; und an den drei folgenden Tagen begegnete» sie einander nun um acht Uhr abends fast auf der gleichen stelle. Wir scheinen uns ja fortwährend zu treffen," sagte er. Ja! Nicht wahr? Sic kommen wohl wieder ans Ihrem Geschäft?" Ja, ich verlasse es immer unr acht Uhr." (Fortsetzung folgt.), Oer EilcnbaKmarif der KeUigen Güter. Der preußische Eisenbahnminister hat vor einiger Zeit einen Erlaß verbreilct, demzufolge die Eiscnbahndirektorcn angewiesen wurden, aus eigner Initiative, ohne erst die ministerielle Anregung zu erwarten, schlechte, den staatlichen Interessen schädliche, sowie An- stand und gute Sitte gröblich verletzende Preßerzeugnisse von dem Verkauf in Bahnhofsbuchhandlnngen auszuschließen. Der Erlaß des Herrn Budde geht offenbar von der metaphysisch- tarifmäßigen Erkenntnis des Ministers aus, daß in den Personen- beförderungsgebühren nicht nur der Transport der Leiber, sondern auch der Seelen einbegriffen ist. Wäre dem nicht so, würde nur das Körpergewicht und nicht auch die unsterbliche Seele im Personenbillet bezahlt, dann wäre schlechterdings nicht einzusehen, warum es einen Unterschied zwischen Personen- tind Gütertarifen giebt. Die Seelenfracht bedingt die verschiedene Wertung, und mit dem Leib wird zugleich das seelische Gepäck heiliger Güter befördert. Als solches Verkehrsinstitut zur Beförderung nicht nur der irdischen, sondern auch der himmlischen Güter kann sich die Bahnverwaltung allerdings wohl nicht der Pflicht entziehen, auch über das Seelenheil der Reisenden zu wachen, und da, einem beharrlichen Gerücht zu- folge, die Seele viel höher im Preise steht als der Leib, so mag es wenig bedeuten. daß gelegentlich von der Eisenbahn ein paar Änochenbriiche und Kopsampntationcn ausgeführt werden, dagegen wäre es ein unersetzlicher Schaden und eine furchtbare Anklage gegen die Eiscnbahnverwaltung, wenn auch nur eine einzige Seele durch die Schuld des Verantwortlichen Herrn Budde zu Schaden kommen würde. Aber auf der andren Seite läßt sich begreisen, daß die ministerielle Verordnung den Eisenbahndirektoren einige Sorge be- rcitete. Sie erschraken vor der Last der neuen ungewohnten Ver- antwortung, und sie verwandelten sich noch auf ihre alten Tage in schwermütige grübelnde Denker, die mit den ewigen Problemen auf Tod und Leben rangen: Was ist schlecht? Was schädigt die staat- lichen Interessen? Was ist Anstand, waS gute Sitte, und was ver- letzt diese beiden geheimnisvollen Wesen gröblich? Mit den staatlichen Interessen wurde man noch Verhältnis- mäßig leicht fertig. Es war klar, daß jedes Preßerzeugnis ohne weiteres schlecht war, das den Monarchen angriff, das Heer verleumdete, die Kirche kränkte, die Autorität unterminierte, Minister verhöhnte oder gar die Eisenbahnverwaltung kritisierte. Nebstdem durften natürlich die ewigen Institute der Ehe, des Eigen- tum und der Gesinde-Ordnung in keiner Weise angetastet werden, die Klassen nicht verhetzt und die Reichen nicht geschmäht werden. Auf diesem Gebiete ist sich jeder Eisenbahndirektor klar, hatte man doch schon seit jeher deshalb alle socialdemokratischen Preßerzeugnisse, denSimplicissimus  , das französische   WitzblattLe Rire  " und ähn­liche Organe der Verderbnis und der staatlichen Jnteressenschädigung für sämtliche Bahnhofs-Buchhandluugen verboten. Aber nun kam der Anstand und die gute Sitte hinzu! War das nicht über die Kraft eiueS königlich preußischen Eisenbahndirektors? Besonders lebhaft ging die Sache einem Manne im Kopf herum, der irgendwo in den Ostmarken die ger- manische Kultur im Bereich seines Direktionsbezirks verbreitete. Niemandem wurde ein Billet verkaust, der es auf polnisch verlangte und dadurch die Interessen des Staates schädigte. In den Betriebs- Werkstätten wurde jeder unbarmherzig entlassen, der auch nur einen Halbvetter hatte, der mit einem Mitglied einer freien Gewerkschaft befreundet war. Bei den öffentlichen Wahlen mußten sie Mann für Mann antreten und dem Kandidaten des Eisenbab munisters ihre Stimmen geben. Wer aber bei geheimen Wahlen einen andren wählte, der wurde alsbald ermittelt und gleichfalls hinausgeworfen. Den Bahnhofs-Buchhandlungen hatte er auch längst seine be- sondere Aufnierksamkeit geschenkt. Socialdcmokratische und polnische Preßerzeugnisse werden ausgeschlossen. Darüber hinaus versuchte er in positiver Wirksamkeit die schlechte Litteratur durch gute zu verdrängen. Auf seine Anweisung versahen die Bahnhofs- Buch- Händler die ballenweise in Broschürenform vorrätig gehaltenen Socialistenreden Bülows und Eisenbahnreden Buddes mit feuer- roten Leibbinden, auf denen mit Riesenthpen ausgerufen wurde: Pikant! Sensationell 1" Verlangte ein zur Unsittlichkeit neigender Reisender Novellen von Maupassant  , so fragte ihn der Ver- käufer zunächst allemal, ob er nicht lieber jenepikanten" Schriften nehmen wolle. Leider hatten diese Bemühungen bisher wenig Erfolg. Die jetzige Verordnung des Ministers versetzte den strebsamen und pflichteiftigen Eisenbahndirektor in eine außerordentliche Auf- regung. Das seelische sittliche Schicksal seines ganzen Bezirks war plötzlich auf seine Schultern gelegt. Die Ansprüche, die an seine Kraft gestellt wurden, befeuerten aber lediglich seinen Ehrgeiz. Er wollte den Ostmarken zeigen, was ein Preußischer Beamter zu leisten vermochte. Zunächst ließ er sich die gesamten Preßerzeugnisse der Bahn- hofs-Buchhandlnngen zur Prüfung ausliefern. In der Zwischenzeit mußten sie sich mit dem Verschleiß der Bülow- und Budde-Sieden sowie von Kurs- und Gesangbüchern begnügen. Der Eisenbahn- Direktor aber las nun Tag und Nacht. In dem Bezirk häuften sich die Entgleisungeir und Zusammen- stöße, jeden Tag wurden ein paar Bremser zerdrückt, die Zustände unter den Beamten und Arbeiten» wurden so schlimm, daß selbst die Zugführer an einen Streik dachten und die Bahnhofs-Vorsteher ver- stöhlen denWeckruf der Eisenbahner" lasen. Der Bezirks-Direktor aber verhielt sich gleichmütig. Was kam es auf solche materiellen Schädigungen an! Das Seelenheil stand in Frage. Das Seelen- heil war in seine Hand gegeben. Dieser erhabenen Aufgabe mußte er sich ganz und gar widmen. Und er las, las, las ein Don Ouichote der Eisenbahn. Je mehr er aber las. um so schwieriger wurde seine Aufgabe. Bald hatte er jedes Urteil verloren. Einen Tag fand er alles an- stößig, einen andern gar nichts. Wo gab es einen festen, untrüglichen Maßstab für Anstand und gute Sitte? Er bemerkte, daß die Romanschreiber mit Vorliebe Entkleidungs- scenen schilderten.Die Baronin warf hastig den pastellblauen, mit Hermelin verbrämten Theatcrmaiitcl ab." Zweifellos, das war noch im Bezirk seiner Direktion zulässig. Dann hieß es jedoch:Sie zog den unsagbar feinen und kleinen Stiefel aus und tchlüpste mit den in resedagrünen Seidcnstrümpfchen steckenden Füßchen in Purpur- farbene, goldgestickte Pantöffelchen." Verstieß das nicht offenbar gröblich gegen Anstand und gute Sitte? Keine anständige Frau, geschweige denn eine Baronin, zieht sich vor Fremden die Schuhe aus, und er, der Eisenbahn  -Direktor, war doch Zeuge dieser Handlung, ohne mit der Baronin verheiratet zu sein. Allerdings konnte die Baronin doch unmöglich wissen, daß er sie bei dem Schuh- Wechsel beobachtete. Oder er fand folgende Stelle:Die Selbstmörderin wurde schnell entkleidet und der junge Arzt bemühte sich, sie ins Leben zurückzurufen." Das war doch eigentlich nur wissenschaftlich und sittlich erlaubt. Indessen, der Arzt war jung und es stellte sich heraus, daß die entkleidete Selbstmörderin keineswegs tot war. War das nun gute Sitte oder nicht? Besondere Schwierigkeiten bereitete ihn» das Kußwesen.Der Lieutenant küßte das süße Mädchen auf die winzige rosige Ohr- muschel." Niemals hatte der Eisenbahn-Direktor seine Frau auf die Ohrmuschel geküßt. Die Ehe aber war die hohe Schule des Anstands. Die ganze Figur seiner Frau war freilich für die gute Sitte gleichsam geboren, und von seinen sonstigen persön- lichen Erfahrungen im Kußwesen war der Direktor verpflichtet, amt- lich keine Kenntnis zu nehmen und ihnen keinerlei Einfluß auf feine amtliche Entscheidung über den Anstand der Preßerzeugnisse zu ge- statten. Nach zwei Wochen war der Eisenbahndirektor so unsicher ge- worden, daß er überhaupt keine Urteilsfähigkeit mehr besaß. Er versuchte die Unbefangenheit seiner heranwachsenden Tochter zu Hilfe zu nehmen. Sie studierten die ihnen übergebenen Bücher sehr fleißig und erklärten sie sämtlich für riesig nett. Als sie sich aber mit selt- samem Eifer erboten, dem Papa die ganze Arbeit abzunehmen und alle Schriften zu prüfen, wurde der Eisenbahndirektor stutzig und dachte an das Seelenheil innerhalb seiner Familie. Das Endergebnis war, daß der Eisenbahndirektor zu der resignierten Erkenntnis kam, daß Anstand und gute Sitte höchst relativ seien und daß sich darüber nichts Gewisses ausmachen ließe. Angstvoll sah er die unvermeidlichen Folgen des Erlasses voraus: er war ein Quell ewiger Mißgriffe. Ob er ein Preßerzeugnis erlaubte oder verbot, immer lief er Gefahr, sich eine ministerielle Rüge zuzuziehen. Gab eS denn keinen Ausweg? War denn das Gebiet des Au­ws und der guten Sitte komplizierter als das Eisenbahnwesen? Da hatte man Schnellzüge und Personenzüge, v- und D-Züge, man hatte vier Wagenklassen, Rückfahrkarten, Militär-, Schüler- und Arbeiterkarten, Rundreisebillets, feste und zusammenstellbare, man hatte schließlich unzählige Ortschaften mit Tausenden von Kilometern und