Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 73.
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Mittwoch, den 13. April.
1904
„ Ah ha; da seid Ihr ja endlich; der Zug hat wohl Ver
( Nachdrud verboten.) spätung gehabt?"
Elther Waters.
,, Nein; nächsten Sonntag gehe ich nach Dulwich, mein Kind besuchen," bekam Fred von Esther zur Antwort. Können Sie nicht nach der Bibelstunde dorthin gehen?" ,, Nein, denn ich kann nicht vor- und nachmittags
gehen."
,, Darf ich Sie begleiten?"
"
Dies ist Esther, Vater."
Sie sollten den Tag im Hause von Freds Eltern verbringen, und Esther war schon neugierig, wie es dort aussehen würde. Sie sollte Freds Schwestern und auch seine Brüder fennen lernen. Diese aber interessierten sie weniger; sie mußte bloß an seine Mutter denken. Fred hatte seiner Mutter viel von Esther erzählt. Als sie von Jackies Eristenz gehört hatte, aus- war sie zuerst natürlich sehr traurig gewesen; aber als sie Esthers ganze Geschichte vernommen hatte, hatte sie gesagt: ,, Wir sind alle der Versuchung ausgesetzt, und wenn Deine Esther wirklich bereut und Gott um Vergebung gebeten hat,
Ja. Bis Sie gehen, ist unsre Bibelstunde zu Ende; ich so müssen auch wir ihr vergeben." könnte Sie an der Station treffen."
,, Wenn Sie wollen!"
Während sie zusammen heimgingen, erzähite Either Fred die Geschichte ihres Unglücks. Er bezeugte das tiefste Interesse und viel Mitgefühl für sie.
Ich liebe Sie, Esther. Es ist nicht schwer, denen zu vergeben, die wir lieben!" sagte er.
Sie sind sehr gut; ich hätte nie geglaubt, daß es so gute Männer geben könnte."
Sie stand da, ihre Hand lag schon auf der Thürklinke, sie blickte in sein Gesicht, und in diesem Augenblick hatte sie bei nahe das Gefühl, ihn zu lieben.
XXIV.
Mrs. Humphreys, eine ältliche Frau, die zwei Häuser weiter in derselben Straße die Wirtschaft eines Junggesellen führte, besuchte Esther mitunter zur Theestunde und begann bald von Fred zu sprechen und ihn einen sehr netten jungen Mann zu nennen, der wohl im stande wäre, eine Frau glücklich zu machen. Ehster hörte sie ruhig an, ging dabei in der Küche hin und her, antwortete aber kaum mit einer Silbe. Plöglich erzählte sie Mrs. Humphreys eines Tages, daß Fred sie nach Dulwich begleitet habe und daß er und Jackie einander riesig gefallen hätten.
Ach was," schrie die würdige Dame, na, es ist ja nett, zu hören, daß diese frommen Menschen nicht ganz so hartherzig sind, wie man meistens glaubt."
"
Mrs. Humphreys war der Meinung, daß Esther von nun an beginnen sollte, sich Jackies Tante zu nennen. ,, Es glaubt's ja allerdings keiner," sagte sie, aber es Klingt doch reputierlicher, und ich glaube, Mr. Parsons würde das als eine persönliche Aufmerksamkeit gegen ihn ansehen." Esther gab feine Antwort darauf, aber sie mußte noch viel über diese Worte nachdenken. Vielleicht wäre es in der That besser, wenn Jackie sie nicht mehr Mütterchen" nannte, sondern statt dessen„ Tante".
Aber nein, nein, sie hätte das nicht ertragen können. Wenn Fred sie haben wollte, mußte er sie ganz so nehmen, wie sie war, oder gar nicht.
Sie famen jegt sehr gut miteinander aus, und er verdiente schönes Geld, dreißig Schilling die Woche. Sie war achtundzwanzig Jahre alt; wenn sie überhaupt heiraten wollte, begann es die höchste Zeit zu werden.
Eines Tages bat Fred sie, mit ihm hinauszufahren nach Kent, um sie feinen Eltern vorzustellen.
Es war dies im Oktober, und während der Zug langsam aus der Station herausdampfte, sagte sie:
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Wie wird bloß die liebe, gute Seele dort später ohne mich fertig werden?"
O bitte, und wie soll ich ohne Dich fertig werden?" Esther lachte.
Ach, ein Mann! Der vergißt sein liebes Jch niemals!" „ Aber meine Alten werden doch wissen wollen, wann es mun sein wird; was soll ich ihnen denn sagen?"
,, Ueber ein Jahr von jetzt; das ist früh genug. Wer weiß, ob Du mich dann überhaupt noch wirst haben wollen!" Sagen wir doch nächstes Frühjahr, Esther!"
Der Zug hielt.
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,, Da ist Bater; er ist mit dem Wagen gekommen. Vater!" rief er. Er hört uns nicht," sagte er zu Esther, er ist in der legten Zeit ein bißchen schwerhörig geworden. Water!" rief er noch einmal,
Troßdem aber war Esther nicht ganz ruhig und bedauerte fast, daß sie eingewilligt hatte, sich Freds Familie vorstellen zu lassen, bevor sie seine Frau geworden war; nun aber war's zu spät, daran zu denken; das war schon das kleine, alte Haus. Fred wies mit dem Finger darauf, und die alte, graue Mähre, die den Stall witterte, trabte vergnügt den Hügel hinauf. Vor einem niederen Gartenzaun machten sie Halt. Herbstrosen standen steif und halb verdorrt da in dem kleinen Garten, und die eine Seite des Hauses war von einer hellfarbigen Schling. pflanze so überwuchert, daß es fast aussah, als wäre das Haus in einen farmeſfinroten Mantel gehüllt. Der alte Vater führte Pferd und Ma en in den Stall hinein, und Fred und Esther gingen den tieinen, mit roten Ziegelsteinen ausgelegten Gartenweg zum Hause hinauf und traten ein. Während sie durch die Küche gingen, stellte Fred Esther seinen beiden Schwestern, Mary und Lily, vor. Beide waren beim Kochen beschäftigt. Mutter ist in der guten Stube," sagte Mary,„ sie erwartet Euch schon."
Am Fenster in einem breiten hölzernen Lehnstuhl saß eine große, etwa sechzigjährige Frau in schwarzem Kleide. Zu beiden Seiten ihres hageren, weißen Gefichts hingen ihr zwei Storfzieherlocken herab, die ihr auf den ersten Blick ein etwas komisches Aussehen verliehen, aber als sie sich nun erhob und ihren Sohne mit ausgestreckten Händen entgegenfam, um ihn 3 begrüßen, da ich sie nichts eniger als tomisch oder licherlich aus, denn ihr ganzes Gesicht strahlte vor Freude, und ihr Willkommengruß flang wie ein Segenswunsch.
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,, Ah, mein lieber Fred, wie geht es Dir? Ich freue mich fehr. Dich zu sehen. Das ist schön von Dir, daß Du zu uns herauskommst. Komm, set Dich hierher!"
,, Mutter, dies ist Esther!"
„ Guten Tag, Esther und wie geht es Dir? Auch von Dir ist es lieb und freundlich, hierher zu kommen; ich freue mich sehr, Dich zu sehen. Komm, lege Deine Sachen ab, mein Kind, und setz Dich hierher zu mir!"
Sie bestand darauf, Esther selbst Hut und Mantel abzunehmen, legte die Sachen aufs Sofa und holte eigenhändig Stühle für beide herbei.
Rommt, setzt Euch und erzählt mir etwas! Ich komme ja nicht mehr viel heraus, aber ich habe meine Kinder gerne un mich. Hierher setze Dich, Esther."
Dann wandte sie sich zu ihrem Sohne. „ Nun erzähle mir, Fred, wie es Dir die ganze Zeit über gegangen ist! Wohnst Du immer noch in Hackney?"
" Jawohl, Mutter; aber wenn wir verheiratet sind, wollen wir uns in Mortlake ein Häuschen mieten. Dort wird es Esther besser gefallen als in Hackney, es ist dort hübscher und ländlicher.'
„ Ah, und Du liebst das Ländliche wohl auch immer noch? Mortlake liegt am Fluß, nicht wahr? Würde es Euch dort nicht zu feucht sein?"
" Ich glaube nicht, Mutter, und die Häuschen dort sind sehr niedlich. Ich glaube, es wird uns in Mortlake gefallen. Ich habe auch viele Bekannte dort, mehr als fünfzig, die jeden Sonntag zusammenkommen. Auch in politischer Hinsicht ist dori viel zu thun. Ich weiß, Mutter, Dur liebst die Politik nicht, aber wir Männer müssen uns damit abgeben; die Zeiten sind derart, daß jeder Mann thun muß, was er kann."
„ Mein Sohn! Solange wir Gott in unserm Herzen tragen, ist alles, was wir thun, wohlgethan. Aber Ihr habt eine lange Fahrt hinter Euch; Ihr müßt eine Erfrischung be