Esther erstickte fast an ihren Worten._-„Mein Kind!" rief William. Er stand da wie vomSchlage getroffen. Esther aber ließ ihn stehen und fchliipfterasch an ihm vornber ins Haus hinein. Einen Augenblickschien es fast, als wollte er ihr folgen. Aber dann überlegteer sich die Sache. Er zögerte eine kleine Weile und ging dannlangsam fort in der Richtung nach der Eisenbahnstation hin.„Seien Sie nicht böse, Fräulein, daß ich Sie habe wartenlassen," sagte Esther zn ihrer Herrin.„Aber ich hatte unter-Wegs ein Unglück und mußte zurückkommen, um einen andernKrug zu holen."„Was für ein Unglück, Esther?"„Ich paßte nicht ordentlich auf, Fräulein! Ich sah einemarmen Droschkenpferd zn, das solche Mühe hatte, vorwärtszu kommen. Da rannte ich mit einem Vorübergehenden zu-sammen und ließ in meinem Schreck darüber den Biertrugfallen."„Wie kam denn das, daß Sie so erschraken? KanntenSie den Vorübergehenden?"Esther stand da, mit dem Rücken zu ihrer Herrin hin, amBüffett beschäftigt. Und da es Miß Rice scheinen wollte, alsfei ihrem Mädchen etwas Ernsthaftes Passiert, sagte sie nichtsweiter und aß schweigend ihr Mittag.Eine halbe Stunde später kam Esther ins Arbeitszimmerihrer Herrin und brachte den Thee. Sie trug den kleinenBambustisch herbei und sehte ihn dicht neben ihre Herrin hin,und während sie dies that, brachte die Ruhe im Zimmer, dasstille, friedliche Licht der einsamen Lampe, der Ausdruck derRuhe und Zufriedenheit auf Miß Rices Antlitz ihr unwillkiir-lich mit noch verstärkter Gewalt ihr eignes Mißgeschick, denKummer, die Verzweiflung, die Unruhe und Leidenschaftlich-keit ihres eignen ganzen Lebens vor Augen.Noch nie hatte sich ihr die Ueberzeugung so fest auf-gedrängt, daß das Unglück ihr steter Begleiter durchs Lebensein werde.Sie dachte an all das Unglück, das sie schon gehabt hatte,und wunderte sich, wie es ihr überhaupt möglich gewesen war,es zu ertragen. Nun hatte sie eine kurze Weile Ruhe undFrieden gehabt, und jetzt sollte ihr schon wieder alles vernichtetwerden.Fred war auf vierzehn Tage zu seinen Eltern hinaus-gefahren. Noch elf oder zwölf Tage würde sie also in Sicher-heit sein, nachher aber— was konnte nachher aber nicht allespassieren? Ihr sicherer Instinkt belehrte sie, daß, obwohl Fredüber ihren Fehltritt leicht hinweggegangen war, solange ernicht wußte, wer der Vater ihres Kindes feß er sie vielleichtdoch nicht mehr würde heiraten wollen, wenn William daraufbeharrte, ihr nachzulaufen.Oh, wenn sie nur an jenem Abend gerade nicht aus-gegangen wäre, oder doch nicht gerade zu jener Stunde!Sie wäre William dann vielleicht niemals begegnet. Inihrer Gegend wohnte er jedenfalls nicht, sonst hätte sie ihnauch früher schon treffen müssen. Aber vielleicht war er ebenerst dorthin gezogen.Das wäre das Schlimmste von allem. Aber nein, nein,es war ein purer Zufall gewesen! Wenn das Bier, welchessie im Hause hatte», einen oder zwei Tage länger vorgehalten,oder ein oder zwei Tage früher zu Ende gewesen wäre, so wäresie William vielleicht niemals begegnet!—Nun aber konnte sie ihm nicht mehr entgehen! Er ver-brachte die ganzen Tage fast in der Straße»nd wartete aufsie. Ging sie aus, um etwas zu besorgen, so folgte er ihr hinund zunick und wartete auf sie. Und dann flüsterte er ihrallerhand zu. Sie sei hübscher denn je, sie sollte doch auf ihnhören,— er hätte nie eine andre geliebt, und er wollte sichscheiden lassen und sie heiraten und ihr Kind zu sich nehmen.Esther gab ihm keine Antwort, aber ihr Zorn schäumreauf bei seinen letzten Worten: I h r K i n d! Er meinte damitseines und das ihre! Aber wie könnte denn Jackie jemalssein Kind werden?!War es denn nicht sie ganz allein gewesen, die für chngearbeitet und ihn erzogen hatte? Und sie dachte so wenigan Williams Vaterschaft, als wäre das Kind vom Himmelherab direkt in ihre Arme gefallen. Eines Abends, als sieden Tisch deckte, drohte ihr Schmerz sie beinahe zu über-wältigen. Rasch und, wie sie glaubte, unbemerkt wischte sieeine Thräne aus ihren Augen hinweg. Aber Miß Rice hattedie Bewegung bemerkt, und in ihrer gütigen, leisen lind wohl-klingenden Weise sagte sie:„Esther, es will niir scheinen, als ob Sie Kummer hätten?Kann ich Ihnen denn nicht helfen?"„Nein, Fräulein, nein! Es ist nichts! Es wird gleichwieder gut sein."Aber trotz der mutigen Worte konnte sie ein Schluchzenin ihrer Kehle nicht unterdrücken.„Sagen Sie mir doch, was Ihnen fehlt, Esther! Selbstwenn ich Ihnen vielleicht nicht helfen kann, es erleichtert dochdas Herz, wenn man über sein Unglück sprechen darf. IhremKinde fehlt doch nichts?"„Nein, Fräulein, nein! Gott sei Dank! Dem Inngengeht es gut. Mit ihm hat es nichts zu thun, das heißt"—mit einer furchtbaren Anstrengung drängle sie die Thränenzurück—„o wie dumm aber von mir! Unser Mittagessenwird ja kalt!"«Ich will mich gewiß nicht in Ihr Vertrauen drängen',,Esther. Aber Sie wissen doch, daß—"„Ja, Fräulein, ich weiß, daß Sie die Güte selber sind«Aber für mich kann keiner was thun. Ich muß es eben er-tragen. Sie fragten mich, ob es etwas mit meinem Kinde zuthun hat? Nun ja, gewiß, es ist nichts mehr und nichtsweniger, als daß ich seinen Vater wieder getroffen habe."„Aber, Esther, das ist doch kein Grund, traurig zu sein.Ich hätte geglaubt, im Gegenteil, das müßte Sie frenen."„Ja— es ist nur natürlich, daß Sie so denke»,Fräulein. Die, die das Unglück nicht keime», denken stetsanders als die andern! Sehen Sie. Fräulein, es ist nun fastneun Jahre her, daß ich ihn nicht gesehen habe. Und in diesenneun Jahren Hab' ich s o viel gelitten und durchgemacht, s aviel— o, keiner wird jemals wissen, wieviel! Ge-arbeitet habe ich wie ein Sklave und gehungert und solcheSorgen gehabt— und nun, wo endlich das Schliinmste hintermir liegt, da kommt er ruhig daher und verlangt, daß ich ihnheiraten soll, wenn er von seiner Frau geschieden sein wird."(Fortsetzung folgt.j(Nachdruck verboten.)k)eimkekr.Von Karl Busse.Das HauS am See war festlich erleuchtet. Mit dem Mend-Schnellzug war unerwarteter Besuch eingetroffen.Das Mädchen hatte gezögert, ihn einzulassen. Da hatte derjunge Mann sie beiseite geschoben.„Bin ich so fremd hier geworden? Ist mein Vater noch nichthier?"Und ohne den Paletot abzulegen, hatte er die Glasthiir zumnächsten Zimmer geöffnet.Es war dunkel darin, aber er fand sich zurecht. Tief atmendblickte er auf den See hinaus. Hier hatte er als Kind gespielt.Drüben, auf der Promenade, wo an Sommerabcndcn die jungenMädchen Arm in Arm lustwandelte», war er den Nachbarstöchternnachgestrichen. Die Lehrer hatten ihn immer einen„Luftikus" ge-nannt.Da schallten Schritte im Nebenzimme". Sie zögerten. Dannward rasch ein Kopf hineingesteckt.„'n Abend, Grcthe I"Ein Schrei:„Richard!" Und da lag ihm das ganze Mädel amHalse. Wie Schwesterarme umklammern können I Tausend Fragen.... DaS sprudelte nur so heraus!„Wo kommst Du her? Laß'Dich doch'mal ansehen! Was ist denn passiert? Weiß eS dennPapa schon? Und Lisbeth... ach, ich freu' mich ja halb zuSchanden I"„Und Du quirlst wieder," sagte er mit ein wenig mühsamemLächeln.„Ein Quirl muß sich drehen, das ist die alte Geschichte."Es hüpfte alles an ihr. So war sie schon als Kind gewesen.Es war selffam, wie die Familie sich schied. Hier der Vater, dennichts aus seiner Ruhe brachte, und Lisbeth, die blonde Nudel, dieman auch erst vorwärts stoßen mußte. Auf der andren Seite er,Richard, und Grete, die leichten, flinken, die nicht stillstehen konnten.Es mochte das Erbteil der früh verstorbenen Mutter sein, über diemerkwürdig wenig im Hause geredet ward.Es ward am Abend eine ausgedehnte Sitzung. Der alte Zint-graff hatte seinen Sohn scharf angesehen und am Rockknopf gefaßt.„Alles all rix-llt, Junge?"«Natürlich, Papa I"„Dann freut mich Dein Kommen, so überraschend es ist.Osterurlaub?"„Ja."Die Schwestern hatten in der Küche derweil gelocht und gebraten.Aver der Bruder aß wenig. Er goß sich dafür oft das GlaS vollund rauchte eine Cigarre nach der andern.Als Grete ihn mit tausend Fragen bestürmte, weshalb er übereinundeinviertel Jahr nicht zu Hause gewesen sei, ob er keinen Koffermitgebracht habe, wie er in der Großstadt lebe, ob er nicht anSHeiraten denke, wehrte er ab.„Morgen. Kinder— da könnt Ihr fragen nach Herzenslust.Heut' laßt mich zufrieden."