unter der Feder hatte. Cr erschien ihr konventionell und der- blaßt neben diesem rauhen, vollen Blatt aus dem wirklichen Leben. Und sie dachte nach, ob sie Wohl im stände sein würde, diesen Stoff zu behandeln. Sie ließ in Gedanken die Namen einiger Dichter, die dazu fähig wären, an sich vorbeizieben; dann wanderten ihre Blicke von dem Bücherichrank zurück zu Esthers Antlitz. „Also Sie werden in einem Wirtshause leben, Esther? Und wollen Sie heute abend schon gehen?" „Ja, Fräulein. Sie sind sehr gütig zu mir gewesen, wirklich sehr; und ich werde Ihnen das nie vergessen. Ich bin sehr glücklich bei Ihnen gewesen und habe mir eigentlich nichts sehnlicher gewünscht, als immer bei Ihnen bleiben zu können." „Ich kann nur sagen, Esther, daß Sie mir ein sehr gutes Mädchen gewesen sind, und daß es mir leid thut, mich von Ihnen zu trennen. Und Sie dürfen nicht vergessen, daß ich stets bereit sein werde, Ihnen zu helfen, soviel ich kann, wenn doch vielleicht nicht alles so gut wird, wie Sie es jetzt hoffen. Ich werde Ihnen stets eine Freundin bleiben. Wann wollen Sie gehen?" „Sowie ich nieine Sachen gepackt habe, Fräulein. Bis das neue Mädchen hier ist, werde ich damit fertig sein. Sie soll um neun Uhr kommen. Da, es klingelt! Da ist sie wohl schon. Adieu, Fräulein." Miß Rice streckte ihr die Hand entgegen. Esther nahm sie, und hierdurch ermutigt sagte sie: „Ich glaube, es giebt keine zweite Dame auf der Welt, die einen so klaren Kopf und ein so warmes Herz hat, wie Sie, Fräulein. Fräulein, wer weiß, wieviel Schweres mir in meinem Leben noch bevorstetzt,— würden Sie mir wohl er- lauben, Sie einmal zu küssen?" Miß Rice antwortete hierauf nichts— sie nickte nur, lind sofort hatte Esther sie in ihre Arme genommen und geküßt. „Seien Sie mir nicht böse, Fräulein, ich konnte nicht anders." „Nein, Esther, ich bin nicht böse." „So, nun muß ich gehen und die Thür öffnen." Esther ging: Miß Rice schritt ruhig wie sonst zu ihrem Schreibtisch hin; aber plötzlich überkam sie mit Macht das volle Bewußtsein der traurigen Einsamkeit ihres Lebens, und fast ohne zu wissen warum, brach sie in Thränen aus. Es war einer jener Augenblicke des überschwenglichen Gefühls, die bei Frauen nichts Seltenes sind. Aber sie hörte ihr neues Mädchen die Treppe heraufkommen und mußte rasch ihre Thräiien trockuen. Bald darauf hörte sie die Schritte des Droschkenkutschers auf der Treppe, der Esthers Sachen hin- untertrug. Sie hörte Esthers Stimme, die ihm beim Tragen behilflich war; hörte, wie sie ihm einschärfte, vorsichtig zu sein und die Kiste nicht abzustoßen. Esther war ihr eine gute, treue Dienerin gewesen, und es that ihr leid, sie zu verlieren. Und auch Esther that es leid, daß nun eine andre. Fremde, die Sorge und Pflege für diese gütige Herrin übernehmen sollte. Aber was konnte sie thun? Sie sollte ja William heiraten. Sie zweifelte keinen Augen- blick daran, daß er sie heiraten würde, und noch war sie kaum zehn Minuten unterwegs, als ihr ganzer Gedankengang sich schon mit ihrem zukünftigen Leben beschäftigte. Dieser so plötzliche Wechsel in ihr erschreckte sie fast selber, und sie entschuldigte sich nur mit dem Gedanken, daß es das einzig Richtige für sie sei, ihrem Jungen seinen Vater zu geben. Und dann mußte sie wieder denken, welch ein schöner, kräftiger Mann ihr William sei, und wie es hinter dem Schanktisch im „Kings Head" ein kleines hübsches Privatzimmerchen für sie geben würde. Sie würde Herrin des ganzen Hauses sein. Und sie würden ein Dienstmädchen halten, einen Schankjungen und vielleicht auch noch ein Schankmädchen. Die Droschke bog um die Ecke des Regent Circus, und mit einem letzten Angstgefühl im Herzen dachte sie, ob sie auch wirklich im stände sein würde, ein solch großes Geschäft, wie das im«Kings Head", zu leiten.— � Es war ein schöner, stiller Septemberabend, und�die schwarze, schiefe Perspektive von Soho sah in den letzten Sonnenstrahlen aus wie mit Gold bekränzt. Es war schon spät, ein leichter Abendnebel erhob sich, und am äußersten Ende der langen Straße sah man die Gestalten der Spaziergänger gleichsam geheimnisvoll und wie in einem blauen Schatten verschwinden. Esther war noch nie zuvor in diesem Teil von London gewesen. Und die ganze Sache hatte so viel des Abenteuer- lichen an sich, daß es dazu diente, ihre Einbildungskraft zu erhöhen, und sie schließlich mit Vergnügen dem Endziele ihrer Fahrt entgegensah. Es schien ihr, als würde die Droschke niemals halten. Endlich aber hielt sie doch, an der Ecke von Dean Street und Old Compton Street, vor einem großen Hause, dem gegenüber ein Droschkenhalteplatz war. Die Droschkenkutscher waren in der Kneipe und tranken. Ein Mann stand draußen und sah nach den Pferden: er erbot sich, Esthers Gepäck hinunter zu nehmen, und als sie ihn fragte, wo sie Mr. Latch finden würde. führte er sie durch eine Seitenthür nach der Private Bar hinein. Er stieß die Thür vor ihr mlf, und Esther sah William dort über den Schanktisch gelehnt dastehen in tiefer Unter- Haltung mit einem kleinen, dünnen Manne. Beide rauchten, beide hatten gefüllte Gläser vor sich stehen, und zwischen ihnen lag die Sportszeitung ausgebreitet. „Aha, da bist Du endlich," sagte William und kam ihr entgegen.„Weißt Du, daß ich Dich schon seit einer Stunde erwarte?" „Ich konnte nicht eher fortgehen, als bis das neue Mädchen gekommen war." „Na, gleichviel, gleichviel! Freut mich, daß Du ge- kommen bist." Esther fühlte die Augen des kleinen, dünnen Mannes prüfend auf sich ruhen. Sie erkannte ihn. Es war John Randal oder, wie sie ihn in Woodview genannt hatten, Mr. Leopold. Mr. Leopold schüttelte Esther die Hand und murmelte: „Ich freue mich, Sie wiederzusehen." Es war das die Begrüßung eines Mannes, der Frauen für ein unerläßliches Ucbel ansieht, und Esther verstand den Ausdruck der ruhigen Verachtung, mit der er William darauf- hin betrachtete. „Kannst nicht ohne sie leben— was?" sagte sein Gesicht einen kurzen Augenblick ganz deutlich. Eine Pause in der Unterhaltung trat ein. William fragte Esther, was sie trinken wolle, und Mr, Leopold zog seine Uhr und sagte, er müsse nun gehen. „Kommen Sie doch morgen Abend'n bißchen cum, wenn Sie Zeit haben." „Sie glauben also nicht, daß Sie nach Newmarket gehen werden?" „Nein, ich glaube nicht, daß ich in diesem Jahre mehr viel wetten werde. Aber kommen Sie doch morgen Zlbend nun. Sie werden mich hier finden. Ich muß nämlich morgen Abend hier sein," sagte er, sich zu Esther wendend.„Ich werde Dir gleich sagen, warum." Dann sagten die beiden Männer einander Adieu. lFortsetzung folgt.) Hus dem Musikleben. In der jüngsten Zeit wurde in unsrer Stadt die Aufmerksamkeit der Musikfreunde besonders durch das Thema einiger architektonischer und administrativer Sorgen in Anspruch genommen. So hieß es z. B.. daß die bekanntlich höchst ungünstigen Verhältnisie in dem Hause der Singakademie durch bessere Anlegung der Garderoben usw. behoben werden sollen. Ferner ist endlich daran gegangen worden, für den Neubau des alten Opernhauses das Nötige herzuschaffen. Außerdem wurde beschrieben, wie jenes dritte Opernhaus gestaltet werden soll, das man auf dem Weinbergswege bauen will: Haupt- sächlich soll hier die gewöhnliche Bauweise der Theater, die mehr für das gegenseitige Spiel des Publikums, als für den Eindruck der Bühnenvorgänge, geschaffen ist, also insbesondere die Umziehung deS Parkettes mit Rängen, einer rein amphitheatralischen Anordnung weichen. Wenn wir nun noch hinzufügen, daß im königl. Opern- theater nach wie vor und trotz der neuen Form der Kartenausgabe über daS Treiben der Billethändler geklagt wird, so scheinen wir uns von unsren musikkritischen Aufgaben recht weit zu entfernen. Und doch handelt es sich hier um Dinge, die ganz tief in daS eigentliche tonkünstlerische Leben eingreifen. Unser Berliner Musikleben ist so exklusiv und anspruchsvoll, wie kaum ein andres. Fehlt es schon fast allenthalben an der äußeren Ruhe und Bequemlichkeit, die für den richtigen Genuß von Kunstwerken ganz entscheidend ist, so bleibt auch noch ein ganz wesentlicher Teil der musikalischen Darbietungen nur den Wenigsten zugänglich. Das Opernbaus besitzt für Berlin das Monopol auf die Wagnerschen Opern. Ein solches Monopol für eine Stadt mag einen Sinn haben wo man in kleineren Verhältnissen einer Verunehrung der Kunst durch unberechenbare Schmierenverhält- nisse vorbeugen will. Die annähernd zwei Millionen Menschen, die sich aus den Einwohnern und Fremden Berlins zusammensetze ck, brauchen schlechtweg mehr als ein einziges Operntheater für Richard Wagner , falls nun schon einmal mit der Ableierung WagnerS im Alltag deS Opernlebens als mit einer Thatsache gerechnet werden mutz. Auch wenn das Publikum die Werke Wagners und namentlich ihren Gegensatz gegen andre Werke nicht zu würdigen versteht, fo
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21 (26.4.1904) 82
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