fühlt es sich doch mächtig angezogen durch diese geheimnisvolle Eigen- art. Will jemand einen solchen Gebrauch hoher Kunst zwangsweise tierhindern, so mißfällt uns auch dies; allein es ist doch wenigstens ein künstlerisch begreiflicher Standpunkt. Die Einschränkung jedoch ledig- lich zu Gunsten der einen Opernkasse und eines kleinen, vornehm- thuenden Publikums zu machen: dies ist nicht einmal soweit zu verzeihen. Wie sehr das Publikum auch schon durch die Musik Richard Wagners   angezogen wird, und mit welchem Behagen es gleichsam auf den Wellen dieser Tonfolgen und Harmonian schwimmt, sieht man wohl in jedem sogenannten Wagner-Konzert. Unsre popu­lären philharmonischen Konzerte wissen damit nach wie vor zu rechnen. Unter dem(anscheinend nur provisorischen) Kapellmeister Otto Marienhagen wurde die alte Tradition fortgeführt, womöglich mit noch mehr Erfolg als früher. Der Dirigent machte den Eindruck eines soliden Könnens; wie weit etwas höheres in ihm steckt, wird doch wohl erst die Folge lehren. Es ist für uns auch wahrlich nicht leicht, ein solches Programm mit grausam heraus- gerissenen Opernstücken längere Zeit hindurch anzuhören. Neulich verließen wir ein solches Konzert um so rascher, als uns ein söge- nannter populärer Valladen-Abend von Herrmann Gura lockte, dem Sohne des allbekannten Opern- und Konzertsängers. So gering die Aehnlichkeiten zwischen Richard Wagner   und dem Balladen- komponisten Karl Loewe   sind, so treffen doch die Eindrücke, die das Publikum von beiden Komponisten bekommt, schon darin überein, daß es sich auf den einschmeichelnden Melodien Loewes auch so an- genehm schwimmen läßt, wie auf jenen Wellen Wagners. Dazu tritt dann freilich noch die Kraft in der musikalischen Darstellung von Höhepunkten eines Vorganges, die bei Löwe aus semer Melodien- reinheit heraus und über sie hinauswächst. Es war eben eine Zeit, in welcher ein Komponist schon viel leistete, wenn er neben dem süßen Sang auch noch gut zu charakterisieren verstand, während die Ueber- Windung dieser selbst noch einem Schummm eignen Halbheit doch erst der späteren Zeit angehört. Wie trabmäßig komponiert nicht Löwe den Anfang der Uhlandschen BalladeHarald"; und wie tief er- schütternd führt er uns nicht die Höhepunkte in Herders  Edward" vorl Hermann Gura ist seines Vaters würdig. Er wird zwar vielleicht nicht zu jener eigentümlichen Vornehmheit und tiefen Wärme ansteigen, die uns den Vater so sympathisch gemacht haben; und einige derbe Nuancen der Klangfarbe sind den Vokalen seines Ge- sangcs immerhin eigen. Im übrigen aber liegt in seiner Sangcskunst so viele gute Technik und Frische und charakterisierende Kraft, daß seine enthusiastische Aufnahme beim Publikum gerechtfertigt erschien. Die Wahl von Balladen Löwes für diesen Abend war gegeben durch die Erinnerung cm seinen 35jährigen Todestag(gestorben am 20. April 1869.) Wir möchten nun aber doch gegenüber dem ziemlich ausgedehnten Löwe-Kultus, einem Seitenstück zum Lorhing- Kultus, auf den anscheinend fast vergessenen Balladen-Komponisten MartinPlüddemann hinweisen. Am 29. September d. I. würde der fünfzigste Geburtstag dieses bereits vor sieben Jahren verstorbenen Komponisten sein; eine günstige Gelegenheit, sich des Künstlers wieder zu erinnen, der durch seine markante Einfachheit nicht nur den Kennern, smidern auch weiten Kreisen Genüsse bereiten kann. Es ist viel Streit um die Bedeutung dieses Mannes gewesen; zu einer solchen Vernachlässigung, wie bisher, liegt aber durchaus kein Grund vor. Ohnehin leben wir ja fast nur von Ausgrabungen. Das Theater des W e st e n s" hat vor kurzem wieder eine Operette von Offenbach   hervorgezogen, diePrinzessin von Trapezunt", die seiner Zeit in Paris   und bei uns viel Beifall und längere Beliebtheit gefunden hatte. Der Komponist zeigt sich hier mindestens ebenso, wie in andren seiner Werke als ein großer Könner, der dem Publikum oder dem Erfolg oder einer Nachlässigkeit zu Liebe mit seinem Können leichtfertig, oberflächlich umgeht. Das dabei immer noch eine Fülle des Melodiösesten herauskommt, läßt sich denken; und daß die Geschichte von der armen Artistenfamilie, die plötzlich zu Reichtum und zu einer tödlichen Langweile gelangt, sowie von dem Duodezfürsten, dessen Sohn die Jugendstreiche des Vaters auf Grund aufgefundener Papiere ganz genau wiederholt, viel Amüsement ergiebt, läßt sich denken. Von den Darstellern in jenem Theater brauchen wir Lina Doninger, Reinhold Well- Hof und Adolf Ziegler   nur nennen, mn an ihre schon öfter erwähnte Tüchtigkeit kurzweg zu erinnern. Doch auch andre Sänger haben speciell in der Darstellung jener Artistenfamilie glückliches ge- leistet: Ludmilla Gaston, Josef Pohl und Georg Conrad, sowie insbesondere Josefine Grünwald, die ihre Rolle nicht nur äußerlich gut, sondern auch recht innerlich durch- führte. Etwas anders stellte Berta von Martinowska jenen jungen Prinzen dar. Der Regie von Julius Greven- b e r g sowie der musikalischen Leitung von Max Roth seien ihre Verdienst« noch besonders anerkannt. Was sollen wir nun aber zur Miß Isidora Duncan sagend Ueber diese Tänzerin ist, was lediglich ihre Tanzkunst be- trifft, das Urteil ja bereits so gut wie überall gefällt worden. Uns bleibt nur noch ein Wort darüber vorbehalten, welche musikalische Bcdeuhmg ihre sogenannten Tanz-Idyllen besitzen. In dem Ab- schiedskonzert, das die Künstlerin vor kurzem gab, konnten wir mit Befriedigung sehen, daß es ihre Ansicht ist, den Gehalt musikalischer Stücke in die Tanzsprache zu übertragen. Ebenso aber mußten wir einsehen, daß außer dieser guten Absicht und einer liebenswürdigen Grazie in den Bewegungen kaum etwas geleistet ist, das musikalisch besonders in Betracht kommen würde. Wir wissen heute endlich, daß die drei Sprachiveisen der redenden Künste, also die Dichtkunfs, die Tonkunst und die Tanzkunst, ihre Werke aus Elementen auf- bauen, die einander in diesen drei Sprachen sehr nahe entsprechen. Die Geste in der Geberdensprache, der Satzteil in der Wortspracha und das Motiv in der Tonsprache sind darauf angelegt, daß eines dem andern in überzeugender Weise parallel gehen kann. Die Kunst- form der Oper beruht ja gerade darauf, falls sie nicht wider ihr Wesen behandelt wird. Nun möchte man erwarten, daß unsre an Reform- absichten reiche Künstlerin die Uebereinstimmung zwischen musikali- schem Motiv und mimischer Geste noch höher treiben werde, als es uns bisher geläufig ist. Gerade daran aber läßt sie es durchaus fehlen. So allgemeine Uebereinstimmungen, wie ein freudiger oder trauriger Ausdruck, Versinnlichungen von Schrecken, Hoffnung und dergleichen mehr, genügen doch dazu nicht. Was die Künstlerin zu dem einen Musikstück tanzte, würde sie im großen ganzen auch zu andren Musikstücken tanzen können. Es lohnt sich für uns deshalb kaum der Mühe, auf die Proben von älterer Musik einzugehen, die sie sich damals zu ihren Produktionen ausgesucht hatte. Nur das eine sei hervorgehoben, daß es vorwiegend Stücke von Komvonisten eines mehr deklamatorischen als ariosen Stiles waren. Die An- gaben unterrichteten aber allzuwenig über die Stücke und über die modernen Retouchierrmgen, die anscheinend dabei gemacht worden waren. Manches andre Musikstück könnte man gut mit einem recht verächtlichen Ausdruck bezeichnen; und daß der Kapellmeister des un- sichtbaren Orchesters sich keine Mühe zu einer plastischen Gestaltung gab, läßt wiederum vermuten, daß es auch der Künstlerin nicht um ein Eingehen auf die Intimitäten der Musik zu thun war. lZon irgend einerRenaissance des Musiks", von der die Künstlerin in ihrem anscheinend sehr unbeholfenen, wahrscheinlich aber sehr be- holfenen Abschieds-Speech sprach, scheint ebenso wie die beabsichtigte Renaissance des Tanzes doch erst auf etwas Künstlerischeres warten zu sollen, als auf diesen liebenswürdigen halben Naturalismus. Um in einer wirklich ernsten Weise auf vergangene Musik zurückgreifen zu können, dazu brauchen wir vor allem eine Fort» setzung der bisherigen sehr ernsthaften, aber noch lange nicht zu- reichenden Bestrebungen, das vorhandene Material der Musik- litteratur besser zugänglich zu machen. Man ahnt kaum, was sich alles von musikalischen Handschriften nicht nur in den größten Bibliotheken, wie München   und Berlin  , sondern auch in andren, wie Augsburg  , Breslau  , Dresden  , Hamburg  , Leipzig   und selbst in Schul- bibliotheken, wie der Ratsschulbibliothek zu Zwickau  , findet; die großen ausländischen Bibliotheken, wie Bologna  , London  , Wien   und andre, nicht zu vergessen. Bei der immer noch ungenügenden Auf- merksamkeit auf das Bibliothekwcscn fehlt es auch meistens an ge» nügender Katalogisierung dieser Musikbestände. Einigen Ersatz dafür bieten die wertvollen Werke von Negistrierarbeiten, die der Musikforscher Robert Eitner   seit 1872 gemacht hat. nachdem ihm bereits 1863 die Gründung der verdienstvollenGesellschaft für Musikforschung" gelungen war, die uns seit 1369 durch ihreMonars- hefte für Musikgeschichte" und dann durchs ihrePublikationen älterer Musikwerke" zahlreiche Schätze erschlossen hat. Hierher ge- hört auch noch das vielgebrauchteHandbuch der musikalischen Litteratur", das seit 1897 von K. Fr. Whistling, später von Adolf Hofmeister   herausgegeben und seit 1352 durchJahresberichte" fort- gesetzt wurde. So zweifelhaft man gegen den Wert angeblich voll- ständiger Bibliographien sein darf, wo es sich um undeutlich begrenzte Gebiete handelt, so lebhaft kann man für sie eintreten, wo der Vorteil genau bestimmter Grenzen die Arbeit klarer macht. Für die Musik- litteratur ist dies jedenfalls soweit zu behaupten, wie es sich um Musikalien selber handelt; dagegen wird das Gebiet der Schriften über Musik abermals unter der Unsicherheit leiden, welche der- artigen Arbeiten man noch einrechnen soll, welche nicht. Nun ist eben ein gewaltiges Werk im Zuge, das in ungefähr zwei Bänden die ge- samte bisherige Litteratur über Musik verzeichnen will(also eine Aufgabe, der wir etwas zweifelhaft gegenüberstehen), und das nicht nur in ungefähr fünf Bänden alle vor dem modernen Buchhandel liegenden Musikalien, sondern auch in ungefähr achtzehn Bänden alle noch innerhalb dieses Handels liegenden Musikalien verzeichnen will (also eine weit mehr von Deutlichkeit begünstigte Aufgabe): ein Univcrsalhandbuch der Musiklitteratur". Die redaktionelle Ober- leitung führte Professor Hugo R i e m a n n. bis er. wie wir eben hören, davon zurückgetreten ist vielleicht wegen der Opposition des Verlagsorgans gegen die Bewegung für Konzerttantiemen, viel- leicht auch wegen sonstiger Störungen der sachlichen durch eine ge-. schäftliche Seite. Der Verlag ist eine eigne Gesellschaft in Wien  . Es wird von einem Kostenaufwand von mehr als 499 999 M. ge­sprochen; und wir möchten voraussagen, daß auch dies zu einer solchen Aufgabe nicht reichen dürfte, wenn sie wirklich vollständig werden soll. Sehr interessant sind die Berichte des Verlages über die bisherigen Vorarbeiten, insbesondere über die Umfragen an Be- teiligte über die zweckmäßigste Registrierweisc, über die Erfolge mittels der Hilfe auswärtiger Vertreter sowie über die Mißerfolgs durch ein getäuschtes Vertrauen auf das Auswärtige Amt der öst- reichisch-ungcmschen Monarchie und dergleichen mehr. EigneMusik- litterarische Blätter"(seit Januar 1994) sollen über die Entwicklung des Unternehmens, dessen erster Band eigentlich schon zum jetzigen Erscheinen bestimmt war, berichten und sollen zahlreiche einschlägige Gegenstände behandeln. Es läßt sich denken, daß wir einem solchen Unternehmen im Princip unsre Sympathien entgegenbringen; hoffent- lich wird ein häufig übersehener Litteraturzweig, die Litteratur des musikalischen Unterrichtes, nicht vernachlässigt werden.