Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 83.

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Mittwoch, den 27. April.

( Nachdruck verboten.)

Esther Waters.

Roman von George Moore . William kam zu Esther zurück und sagte: Na, wie gefällt Dir die Geschichte hier? Gemütlich, wie?" Aber bevor sie noch Zeit gehabt hatte, zu antworten, sprach er rasch weiter.

Weißt Du, daß Du mir schon Glück gebracht hast? Ich habe heute zweihundertfünfzig Pfund gewonnen, und das Geld tommt mir sehr gelegen, denn Jim Stevens das ist nämlich mein Partner hat mir versprochen, die halbe Summe als Anzahlung zu nehmen und für die andre Hälfte einen Wechsel. Da ist er, ich werde Dich mit ihm bekannt machen. Kommen Sie mal rüber, Jim."

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Gleich," sagte ein dider, untersetter Mann, ich muß

nur noch hier zwei Glas Bier abziehen."

Er war in Hemdsärmeln und trocknete sich das Bier von den Händen ab. " Ich will Sie nämlich einer sehr guten Freundin von mir vorstellen; Jim Stevens- Miß Waters."

"

Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen," sagte Jim, und er reichte ihr seine kurze, dicke Hand über den Schanktisch hinüber.

Ich höre, daß Sie und mein Partner hier mir die Ge­schichte abnehmen wollen. Na, Sie können ein gutes Geschäft damit machen. Ein Wirtshaus, das ein gutes Glas aus­schenkt, macht immer' n Geschäft. Was kann ich Ihnen an­bieten, Miß? Wir haben Whisky, der vierzehn Jahre hier in der Flasche daliegt, aber Sie, als Dame, trinken vielleicht lieber ein Gläschen von unserm besten Ungesüßten."

Esther dankte für alles, aber William sagte, sie könnten nicht gehen, bevor sie nicht auf das Gedeihen ihres Geschäfts getrunken hätten.

Also, Miß, Irish oder Scotch? Mr. Latch trinkt immer Scotch."

Da Esther sah, daß sie nicht davonkommen sollte, ohne etwas zu trinken, entschloß sie sich, ein Gläschen von dem Un­gefüßten anzunehmen. Sie stießen über den Schanktisch hinüber miteinander an, und William flüsterte ihr zu: Diese Sorte wird nicht an das Publikum verkauft; dies kommt aus unserm Privatfäßchen. Du hast vielleicht nicht darauf geachtet, daß er die Flasche aus der dritten Reihe links herunter­genommen hat."

In diesem Augenblick kam Esthers Droschkenkutscher herein und fragte, ob er das Gepäck abladen solle.

Nein," sagte William, es soll da bleiben, wo es ist." Ich weiß nicht, ob ich Dir schon gesagt habe, daß ich noch nicht hier wohne," sagte er zu Esther. Mein Partner wohnt vorläufig noch oben; aber er sagt, Ende der Woche kann er schon ausziehen. Ich habe vorläufig eine möblierte Wohnung in der Nähe von Shaftesbury Avenue, also wollen wir die Droschke behalten."

Esther sah ein bißchen enttäuscht aus, aber sie sagte nichts. William offerierte dem Droschkenkutscher ein Gläschen. Er zwinkerte dabei Esther mit den Augen zu und flüsterte: Nicht vergessen, dritte Reihe links."

XXX.

Das Wirtshaus zum Kings Head" war ein einfaches, altmodisches Gebäude. Es war sicherlich zweihundert Jahre alt, und der Schanktisch sah aus, als wäre er förmlich aus der Erde herausgegraben worden. Der Fußboden des Lokals lag einige Zoll tiefer als die Straße, und die Decke war so niedrig, daß ein großer Mann nur mit Mühe aufrecht darin stehen konnte. Das Gastzimmer war auch nicht, wie in den neuen Restaurants, in viele kleine Nischen eingeteilt, sondern hatte deren nur drei. Der Privateingang war in Dean Street; durch diesen kamen mitunter ein paar Swells vom Theater herüber, um Brandy und Soda zu trinken. Der Eingang für das große Publikum, wo die Stehseidel getrunken wurden, war von einer Seitenstraße aus. Ein Privatstübchen für ganz besondere Kunden gab es hier aber nicht, und wenn nur zwölf Personen an dem großen Schanktisch herumstanden, so war es schon gedrängt voll. Mit einem Wort, das Wirtshaus zum

1904

,, Kings Head" war in keiner Weise modern. Nur einen Vor­teil hatte es, es war ein Geschäft mit voller Konzession, und William meinte, wenn sie nur eine Zeitlang Geduld hätten und gute Getränke ausschenkten, so würden sie nach und nach sicher ein solides, gutes Geschäft machen. Ihr früherer Partner hatte ihnen leider dadurch sehr geschadet, daß er sich's zum System gemacht hatte, lauter schlechtes Zeug auszuschenken, und zum Ueberfluß war in neuester Zeit auch noch in derselben Straße, ein paar Häuser weiter, ein neues Wirtshaus eröffnet forderungen entsprach und die Aufmerksamkeit der ganzen worden, welches durchaus in jeder Weise den modernsten An­Nachbarschaft erregte. Esther war besorgter noch als William um den guten Fortgang des Geschäfts, ebenso wie um seine Abrechnungen vom Rennplay. Und wenn er sie deswegen gelegentlich auslachte, sagte sie:

"

,, Du bist ja niemals hier den Tag über; Du brauchst nicht hier zu ſizen und die leere Gaststube vor Dir zu sehen, den ganzen Vormittag und den ganzen Nachmittag über. Und dann berichtete sie ihm, was sie den ganzen Tag über ausgeschenkt hatte; ein Dutzend Gläser Bier um die Mittags­stunden herum und ein paar Gläser Branntwein während der Proben drüben im Theater; das war alles.

Das Schankzimmer war leer, und das ganze kleine Haus schien gleichsam in der gewitterschwülen Hize des heißen Sommernachmittags eingeschlafen zu sein. Esther saß hinter dem Schanktisch und nähte; sie erwartete Jackie zurück von der Schule. William war fort, er war heute in Newmarket .

Es schlug fünf Uhr; da öffnete sich die Thür, und Jackie stürmte herein, troch unter dem Schanktisch durch und warf sich seiner Mutter in die Arme.

,, Nun, hast Du heut' ein gutes Zeugnis bekommen?" " Ja, Mütterchen, ein gutes Zeugnis."

Bist mein lieber Junge; und nun willst Du wohl Deinen Thee haben?".

" Ja, Mütterchen, ich bin hungrig wie ein Bär, kaum fonnte ich noch nach Hause gehen."

Ei, ei, so schlimm war es?"

" Ja, Mütterchen; und in Orford Street ist ein neuer Laden eröffnet worden, und das ganze Fenster ist voll mit Booten und mit Schiffen. Was meinst Du, wenn mal einen ganzen Monat über alle Favoriten geschlagen würden, würde Vater mir wohl eines von den Booten faufen?"

" Ich dachte, Du warst so hungrig, daß Du kaum mehr nach Hause gehen konntest?"

Na ja, Mütterchen, das war ich auch, aber-" Esther lachte.

,, Nun, komm' mit; Du sollst Deinen Thee bekommen." Sie ging in das Stübchen hinter dem Schanktisch und flingelte.

Mütterchen, kann ich Butter auf meinen Toast kriegen?" " Ja, mein Herz."

Und darf ich hinunterlaufen und Jane zusehen, während sie ihn zurecht macht?"

Ja, das darfst Du auch thun, dann braucht sie ihn nicht erst heraufzubringen. Komm, gieb mir Deinen Hut; so, mun lauf und hilf Jane beim Toastmachen."

Das Stübchen hinter dem Schanktisch war von winzigen Dimensionen, und nur mit Schwierigkeit fand ein runder Tisch, drei Stühle, ein Sessel und ein kleines Büffett Play darin. Eine Thür, deren Glasscheiben mit roter Seide ver­hängt waren, trennte es von dem Gastzimmer.

Morgens herrschte ein melancholisches Dämmerlicht welches von dem Hof hereinkam, in dem kleinen Raume; aber nachmittags mußte man selbst im Hochsommer schon früh das Gas darin anzünden. Esther nahm ein Tischtuch aus dem Büffett heraus und deckte den Tisch zu Jackies Thee. Schon fam er wieder die Treppe heraufgeeilt, und sie hörte, ipie er auf dem Wege Jane erzählte, wieviel Murmeln er heute ge­wonnen hätte. Gleichzeitig hörte sie Stimmen im Gastzimmer. Esther öffnete die Thür. Sie sah William dort, der un­gewöhnlich groß und lang aussah in seinem bis auf die Füße herabhängenden grauen Ueberzieher und einen mächtigen Feldstecher im Futteral an einem Riemen um die Schultern gehängt trug. Mit ihm war sein Clerc gekommen, Fred Blamer, ein kleiner, schwächlicher, vertrockneter Mann in schäbigem Anzuge; er war über und über mit weißem Staub