Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 89.

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Donnerstag, den 5. Mai.

( Nachdruck verboten.)

Esther Waters.

Roman von George Moore  . Ueber dem Haymarket hing noch ein Hauch des mitter­nächtlichen Lasters. Sarah ging jetzt Shaftesbury Avenue hinauf, und von der Ecke der Dean Street sah sie nach, ob die Läden an Esthers Haus schon offen waren. Sie glaubte zuerst ja, dann sah sie, daß sie sich geirrt hatte. Es blieb ihr nichts andres übrig, als noch zu warten, und sie blieb auf den Stufen des Royalty- Theaters fizen und wartete.

Jetzt schien schon die Sonne hell, und sie betrachtete die Droschtenpferde und den Jungen, der vor dem Kings Head" die Laterne puzte. Sie blieb ganz still sizen. Ihre einzige, legte Hoffnung ruhte jetzt in Esther. Esther würde sich sicher lich ihrer erbarmen, dachte sie; aber trotzdem wagte sie es nicht, sogleich direkt in den Kings Head" zu gehen, sondern machte ein paar Schritte die Straße hinauf und kam dann zurück. Jetzt hatte der Junge ihr den Rücken zugewandt, sie wagte es, durch die offene Thür einen Blick in das Lokal zu werfen. Es war niemand im Gastzimmer, und sie mußte noch einmal nach den Stufen des Theaters zurückkehren. Eine lärmende Kinder­schar spielte jetzt dort und machte ihr durchaus keinen Platz zum Niederlassen; sie war zu miide, darum zu bitten, und ging lieber noch einmal die Straße hinauf und hinab. Als sie zum zweitenmal in das Gastzimmer blickte, sah sie Esther darin. Sie ging hinein.

"

Was, Du, Sarah?"

" Ja, ich bin's."

" So komm doch herein. Wie kommt es, daß wir Dich so lange nicht gesehen haben? Ist etwas passiert?"

Ich bin die ganze Nacht auf der Straße gewesen. Bill hat mich heute gegen Morgen rausgeworfen; seitdem laufe ich in den Straßen umher."

-

,, Bill hat Dich hinausgeworfen? Bill- Dich? Was heißt das? Ich verstehe nicht!"

"

-

Du weißt doch, Bill Evans, der Mann, den wir beim Derby trafen da fing es an nach dem Mittagessen damals brachte er mich nach Hause und-na- seitdem sind wir zusammen gewesen."

"

Großer Gott! Nun komm-kommerzähle mir nun aber alles!"

Sarah lehnte sich, müde wie sie war, gegen den Schank­tisch und erzählte, wie sie ihre Eltern verlassen und zu ihm

gegangen war.

" Buerst ging's ja ganz gut; dann aber suchte ihn die Polizei, und wir entflohen nach Belgien  . Da ging es uns aber sehr schlecht, und ich mußte auf die Straße gehen- um zu verdienen

"

Hat er Dich dazu gezwungen?"

Naer fonnte doch nicht verhungern, nicht wahr?" Die beiden Frauen blidten einander fest an, und Sarah fuhr in ihrer Geschichte fort. Sie erzählte, wie sie dann gänz­lich ohne Mittel nach London   zurückgekommen waren.

" Ich glaubte, er wollte wirklich ein ehrlicher Mensch werden," sagte sie, aber er hat eben kein Glück gehabt, und das ist auch so schwer für einen Menschen, wenn er erst mal so gelebt hat, wie Bill. Er hält's bei feiner Arbeit aus, und was er jetzt vor hat, weiß ich gar nicht, aber sicherlich nichts Gutes. Gestern abend hatte ich solche Angst und konnte nicht schlafen, da blieb ich auf, bis er fam. Etwa um zwei Uhr fam er nach Hause. Dann fingen wir an, uns zu zanfen, und da schleppte er mich runter und warf mich hinaus. Er sagte, er wolle mein häßliches Gesicht nie wiedersehen. Aber so schlecht bin ich doch gar nicht, das habe ich nicht verdient. Ich habe freilich' n bißchen viel durchgemacht und sehe nicht mehr so aus wie früher, aber er war's doch, der mich dazu gezwungen hat! Na, nun ist es ja aber ganz gleichgültig; mit mir ist's doch zu Ende! Es ist mir ganz egal, was jezt aus mir wird; nur zu Dir wollte ich noch kommen, unt es Dir zu erzählen. Wir waren doch immer gut miteinander, wir beide!"

Du mußt Dich aber nicht so gehen lassen, Sarah. Du mußt ein bißchen den Kopf oben behalten. Du bist jest tod­

1904

müde; kein Wunder, wenn Du die ganze Nacht in der Straße umhergelaufen bist. Komm und frühstücke mal erst mit uns.

,, Ach ja, Esther, für eine Tasse Thee   würde ich Dir sehr dankbar sein; Branntwein rühre ich nicht mehr an."

,, Komm hier herein in das Hinterstübchen; wenn Du erst gefrühstückt hast, wirst Du auch wieder mehr Mut haben! Wir wollen mal sehen, was wir für Dich thun können."

" O, Esther, erzähle Deinem Mann nicht ein Wort von dem, was ich Dir gesagt habe; ich will kein Unglück über Bill bringen. Er würde mich auch sicherlich umbringen, wenn er's wüßte; o, versprich mir, daß Du ihm nichts sagen wirst. Ich hätte es auch Dir nicht erzählen sollen, aber ich war so müde, daß ich gar nicht mehr wußte, was ich sagte."

Es gab sehr reichlich zu essen: gebackenen Fisch, Beefsteak, Thee   und Kaffee.

Ihr scheint ja sehr gut zu leben," sagte Sarah. Es muß hübsch sein, wenn man sich einen eignen Dienstboten halten kann. Ihr verdient hier wohl viel Geld?"

Ach ja, es geht ganz gut; nur Williams Gesundheit macht mich etwas besorgt."

,, Was fehlt ihm denn? Ist er frank?"

"

,, Er ist in letzter Zeit gar nicht so recht wohl gewesen. Es strengt ihn sehr an, dieses Herumlaufen von Rennplay zu Rennplay, wo er dann den ganzen Tag über im Schmutz und in der Nässe umherstehen muß. Letzten Winter hatte er sich einmal sehr erfältet und bekam' ne Lungenentzündung, und ich glaube, er hat sich nie wieder ganz davon erholt." Besucht er die Rennen nicht mehr?"

"

Seit Anfang Winters ist er zu keinem gewesen. Es war einer dieser ekligen Steeple- chase- Rennen, was ihm den letzten Rest gab."

"

"

Trinkt er?"

,, Er ist nie betrunken, aber ich glaube, er trinkt doch zu viel. Branntwein taugt für ihn nichts. Groß und fräftig wie er aussieht, hat er geglaubt, sich alles erlauben zu können; aber er hat seinen Irrtum nun eingesehen."

,, Besorgt er seine Wetten nun also in London  ?" " Ja," sagte Esther zögernd. Mitunter; aber ich möchte, daß er es aufgiebt. Nur meint er, das Geschäft allein in dieser Gegend würde nicht genug abwerfen, wenn er gar nicht wettete."

Das ist aber eine sehr gefährliche Sache; man muß das ganz im Geheimen betreiben; und wenn irgend einer es ver­rät, habt Ihr sofort die Polizei auf dem Halse."

Esther erwiderte hierauf nichts, und in diesem Augenblick trat William ein.

" Hallo! Wen haben wir denn da? Was. Sarah? Sagen Sie mal, wo haben Sie denn eigentlich die ganze Zeit über gesteckt?"

Er bemerkte, daß sie sehr heruntergekommen war und so elend aussah, als ob es ihr recht schlecht ginge.

Sie bemerkte, daß sein Gesicht viel schmäler war als früher, daß seine breite Brust sehr eingefunken war, und der Durchmesser zwischen Rücken und Brust erschien ihr merk­würdig flein. Und nun erzählten die beiden Frauen, bald zusammen, bald abwechselnd, ihm Sarahs Geschichte.

William hörte aufmerksam zu und sagte dann: Ich wußte wohl, daß der Kerl ein Lump war; ich konnte es doch nie leiden, wenn er hier hereinkam."

" Ich meine," sagte Esther, Sarah könnte einige Zeit hier bei uns bleiben."

Aber der Kerl darf in mein Lokal nicht reinkommen." Ach; er wird mir nicht nachkommen, er hat mir ja ge­sagt, daß er mein häßliches Gesicht nie wiedersehen will. Es ist ja auch so gut; mag er sich nur' ne andre suchen, die das für ihn thut, was ich für ihn gethan habe."

Bis Du wieder eine Stelle findest," sagte Esther, bleibst Du hier. Ich denke, das wird das beste sein."

"

Aber wie ist's mit Zeugnis und Referenzen?" " Du brauchst ja nicht viel über das letzte Jahr zu sagen. Wenn man Dich viel fragt, sagst Du, Du bist bei uns gewesen, sagte Esther. Aber jenen Lumpen dürfen Sie nie wiedersehen," sagte William. Und wenn er mal in dies Lokal hier kommen sollte, dann kriegt er was von mir zu hören. Ich würde ihn mit

"

"