Nnterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 95. Sonntag, den 15. Mai. 1904 (Nachdruck verboten) 62i Bfther Alaters. Roman von George Moore  Es wäre sehr unangenehm, wenn sie hier bei uns ab- gefaßt würde," sagte William.Das würde uns furchtbar schaden und ihr kann's doch eigentlich egal sein, wo man sie festnimmt!" Esther antwortete hierauf nichts. Ich werde fortgehen," sagte Sarah matt lind erhob sich vom Sofa.Ich will niemand in Ungelegenheiten bringeil." In diesem Augenblick öffnete Charles die Thür und sagte: Es ist jemand da, der Sie sprechen möchte, Mr. Latch." William ging rasch hinaus. Einen Augenblick später kam er zurück. Seine Augen sahen ganz erschrocken aus Sie sind da!" sagte er. Zwei Polizisten folgten ihm dicht auf den Fersen. Sarah stieß einen kleinen Schrei aus. Heißen Sie Sarah Tucker?" fragte der eine Polizist. Ja.". Mr. Sheldon, 34 Cumbcrland Place, beschuldigt Sie, ihn bestohlen zu haben." Muß ich mit Ihnen durch die Straßen gehen?" Wir können eine Droschke nehmen, wenn Sie dafür be- zahlen wollen," erwiderte der Beamte. Ich begleite Dich" sagte Esther freundlich. William zupfte sie am Aernlel. Wozu willst Du denn das thun? Ihr wird es nichts nützen, und uns kann es nur schaden!" XLI. Die Sache kam vor Gericht, und die dreißig Pfund, welche William Sarah versprochen hatte, wurden nun dafür verwandt, einen Anwalt für sie zu nehmen. Zuerst sah es fast so aus, als würde man gar nicht im stände sein, ihr die Schuld nach- zuweisen; aber ein neues Zeugnis, welches Sarah direkt be- schuldigte, das Silberzeug aus dem Hause entwendet zu haben, brachte ihre Schuld sonnenklar an den Tag. Der Verteidiger gabsichjetzt nur uochMühe, auf milderndeUmstände zu plaidieren. Esther und William wurden auch vorgeladen, um Zeugnis abzulegen für den guten Ruf, den Sarah bisher genossen hatte. Der Verteidiger sprach viel von dem bösen Einfluß, unter welchen Sarah geraten war, und versuchte zu beweisen, daß sie durchaus nicht die Absicht gehabt hatte, das Silberzeug zu stehlen. Durch Versprechungen verführt, hatte sie sich über- reden lassen, das Silberzeug zu versetzen, um auf ein Pferd wetten zu können, von dem man ihr gesagt hatte, daß es positiv gewinnen müßte. Wenn das Pferd gewonnen hätte, wäre das Silberzeug eingelöst und auf seinen Platz zurückgestellt worden, ohne daß der Besitzer davon etwas geahnt hätte, und die Angeklagte hätte ihren Verführer geheiratet. Höchst wahrscheinlich wäre diese Heirat, die sie allem Anschein nach zu der bösen That ver- leitet hatte, noch schlimmer für die Angeklagte ausgefallen, als ihre gegenwärtige Lage war. Der Verteidiger konnte kaum Worte genug finden, die stark genug waren, um den Charakter eines Mannes zu brand- marken, der, nachdem er ein Mädchen zu einer unredlichen Handlung verleitet und in Gefahr gebracht hat, nachher feige genug ist, sie in der Stunde der größten Gefahr und des tiefsten Elends sitzen zu lassen. Der Verteidiger lenkte die Auf- merksamkeit des Gerichtshofes auf die gutmütige. Vertrauens- volle Natur der Angeklagten, die nicht allein durch Worte und Versprechungen sich hatte überreden lassen, sondern auch ahnungslos und unwissend genug gewesen war, dem Verführer den Pfandschein anzuvertrauen. Der Verteidiger drückte zum Schluß seiner Rede die Hoffnung aus, daß der Richter mildernde Umstände gelten lassen würde. _ Der Richter in seinem langen Talar und seiner Allonge- lperücke, dessen galante Abenteuer sich bereits weit über ein halbes Jahrhundert ausdehnten und dessen hohes Wetten auf den Rennplätzen aller Welt wohlbekannt war, spitzte seine alten, welken Lippen und heftete seine stumpfen Augen aus die Angeklagte. Er müßte bedauern, sagte er, daß er nicht dieselbe Meinung von der Angeklagten hegen könnte, wie der Ver- teidiger es augenscheinlich that. Die Polizei hätte mit größter Anstrengung nach dem gewissen Evans gesucht, der, wenn der Bericht der Angeklagten glaubhaft wäre, der Hauptschuldige sein sollte. Aber man hätte ihn nicht finden können; doch hätte man Spuren von seiner Existenz aufgefunden, und insoweit könnte man der Geschichte der Angeklagten glauben, als Evans wirklich zu existieren schiene. Hier machte der Richter eine Pause, und der ganze Gerichtshof schüttelte seine langen Roben zurecht und setzte sich in Positur. Das Antlitz Seiner Lordschaft sah aus, als wollte er jetzt irgend eine seiner humoristischen Reden loslassen, und man er- wartete schon, daß die Angeklagte mit einer verhältnismäßig leichten Strafe davonkommen würde. Aber das Lächeln auf dem Antlitz Seiner Lordschaft ver- schwand wieder. Die welken Lippen spitzten sich von neuem, und er begann jetzt mit solch strenger Stimme zu sprechen, daß alle fühlten, er wolle nun zeigen, wie das Gesetz im stände wäre, Vösewichter ordentlich zu bestrafen. Er lenkte zunächst die Aufmerksamkeit auf die Thatsache, die die Polizei entdeckt hatte, daß die Angeklagte schon früher längere Zeit mit dem gewissen Evans zusammengelebt habe, und daß eben während dieser Zeit niehrere größere Diebstähle verübt worden seien. Es lag allerdings kein Beweis gegen die Angeklagte vor, daß sie sich an diesen Diebstählen direkt beteiligt habe. Die Angeklagte hatte später den gewissen Evans verlassen und die Stelle in dem Hause ihrer gegenwärtigen Herrschaft angenommen. Als die Zeugnisse, die sie aus ihren früheren Stellen besaß, unter- sucht wurden, und sich ein ganzes Jahr vorfand, in welchem sie ohne Stelle gewesen war, eben das Jahr, in welchem sie in wilder Ehe mit Evans zufammen gelebt hatte, hatte sie die Wahrheit verheimlicht und statt dessen ausgesagt, daß sie dieses Jahr bei der Familie Latch verbracht hätte, eben bei jenen Wirtshausbesitzern, die zu ihren Gunsten Zeugnis abgelegt hatten. Ferner hatte die Polizei entdeckt, daß der gewisse Evans früher ebenfalls denKings Head" zu besuchen pflegte, und es war wohl anzunehmen, daß sie dort seine Bekanntschaft gemacht habe. Die Angeklagte hatte ihrer gegenwärtigen Herrschaft für das Jahr, in welchem sie ohne Stelle gewesen war, die Familie Latch als Referenz angegeben, und diese hatte die Unwahrheit unterstützt. Hier schweifte Seine Lordschaft ab und erging sich in einen langatmigen Kommentar gegen folche Leute, die nicht ganz vorwurfsfreien Personen es er- möglichtcn, sich unter falschen Angaben eine gute Stelle zu sichern: dies wäre leider eine sehr verbreitete Handlungsweise, die große Gefahren für die Gesellschaft in sich trüge und gegen welche die Gesellschaft gar nicht genug kräftige Vorsichts- maßregeln anwenden könnte. Angeklagte behauptet," fuhr Seine Lordschaft fort,daß das Silberzeug versetzt worden sei; aber sie hat keinen Beweis dafür als ihre eigne Aussage und die unglaublich klingende Behauptung, daß sie dem Evans den Pfandschein in Ver- Währung gegeben. Sie kann nicht einmal genau angeben, tvo sie das Silberzeug versetzt haben will; sie behauptet, nur mit Evans zusammen nach Whitechapel gegangen zu sein und das Silber irgendwo in Mile-End Road versetzt zu haben. Aber sie weiß weder die Nummer des Hauses, in dem der Pfandleiher wohnt, noch kann sie auch nur entfernt andeuten, welches Haus es war. Sie behauptet nur, es sei in Mile-End Road gewesen. Man hat bei sämtlichen Pfandleihern in dieser Straße Haus- suchung gehalten, hat aber bei keinem das vermißte Silberzeug gefunden." Der ehrenwerte Verteidiger." fuhr Seine Lordschaft fort, hat versucht. Ihnen zu beweisen, wie die ganze Sache eine un- bedachte Handlung derAngeklagten gewesen sei und wie sie ledig- lich der Verführung des Evans nachgegeben habe. Der ehren- werte Verteidiger hat fernerhin versucht, etwas Romantik in die Sache zu bringen; er hat den Diebstahl hingestellt als Re- sultat des leidenschaftlichen Wunsches der Aiigeklagten, sich mit einem geliebten Manne zu verheiraten." Seine �ordichaft aber konnte in diesem Verbrechen dnrchaus keine Spur eines so reinen Motives finden. Wo war der Beweis dafiir, daß es sich um eine Heirat oder um den Wunsch zu einer Heirat gehandelt hätte? Er hielt vielmehr das Verbrechen für das Resultat der Begierde der Angeklagten, ihr Konkubinat mit Evans fortzusetzen. Und was jenen Punkt in der Verteidigung anlangt, daß die That ohne Vorbedacht geschehen sein solle, so könnte man ihn sofort durch den Beweis niederschlagen, daß der Diebstahl im Gegenteil zu einem ganz bestimmten Zwecke