379 Em Kretin. Eines TageS beriet das preußische Herrenhaus einen Antrag, den deutschen   Reichstag statt aus allgemeinen Wahlen in der Weise zu bilden, daß die preußischen Gutsbezirke dreihundert Majorats- Herren aus ihrer Mitte nach Berlin   entienden. Man hatte fröhlich und energisch diese Reform als das einzige Mittel nachgewiesen, um eine vollige Aufhebung der Verfassung zu vermeiden. Es war insbesondere der Graf Mirbach, der unwider- leglich feststellte, daß eS s o nicht weiter gehen könne; auch betonte er, daß der Antrag keme reaktionäre, sondern eine höchst fortschritt- liche Tendenz habe, da er erst die Einführung eines wirklichen Parlamentarismus ermögliche, der die endgültige Entscheidung über die Regierungspolitik in letzter Instanz gegen Minister und Krone habe. Der Ministerpräsident Graf Bülow äußerte einige Bedenken über die sofortige Durchführung der, wie inan zugeben müsse, groß- artigen Reform. Aber er versprach wohlwollende Erwägung, worauf ihn, Graf Mirbach   erwiderte, für das Herrenhaus sei es sehr gleich- gültig, was Graf Bülow erwäge; zu derartigen Aenderungen bedürfe man keineswegs seiner Mitwirkung, die man im übrigen ja nicht durchaus principiell zurückweisen wolle. Ein Bürgermeister und ein Professor hatten ihre Sympathien mit dem Antrag bekundet, wenn sie auch unter lebhaftem Widerspruch der Mehrheit leise Zweifel äußerten, ob in dieser Reform das Fundament der Staaten, die Gerechtigkeit, zu vollem Ausdruck gelange. Die Debatte schien erschöpft. Da erhob sich zu allgemeiner Ueberraschung ein junger Mann, der bisher im hohen Hause un- bekannt war. Es war ein Graf Wrukc-Quitzow, der soeben sein väterliches Majorat in Hinterpommern angetreten und damit die Berechtigung erworben hatte, in der Körperschaft der geborenen Gesetzgeber, der an die Scholle gefesselten CrbweiSheit, mit­zuwirken. Graf Wruke-Ouitzow verbeugte sich leicht, ein wenig rätselhaft lächelnd und begann: Gestatten Sie Ihrem jüngsten Mitglied ein Wort zu der bevor- stehenden Frage. Ich fühle mich in gewissem Sinne unter Ihnen am meisten benifen, in dieser Angelegenheit mitzureden.(Dho!); denn ich stehe dem Urtitel meines gesetzgeberischen Rechts näher, als irgend ein andrer in diesem höchsten Haus meiner Geburt. (Heiterkeit. Einige Granden blicken verständnislos). Die Nabelschnur meines so bedeutsamen Rechtes ist gewissermaßen noch mit mir verbunden. Und wenn es' wahr ist, daß nur das edle Blut es ermöglicht, weise über die Geschicke der Völker zu walten, so muß die adlige Jugend, die dem Quell ihrer Weisheit, dem Gebnrtsakt, noch am wenigsten entfremdet ist, auch den stärkeren Benif haben, den Staat regierend zu erhalten. Wir haben hier alle, so weit wir Aristokraten sind(ein Professor ruft: G e i st e s aristokraten!)- nein, das genügt nicht, das ist nicht feststellbar wir haben hier alle gleichsam das Recht der ersten Nacht, natürlich der standes- gemäßen, kirchlich und standesamtlich konzessionierten ersten Nacht. Alles, was wir sind, verdanken wir dem erhabenen Augenblick, da unsre Eltern sich umannten. Wer wäre so vermessen, zu bezweifeln, daß solch eine-Bemühung, solch ein Opfersinn(Heiterkeit), solch eine Hingabe an den Staatszweck der Menschenerhaltnng uns nicht bis ins tausendste Glied(Sehr gutl Heiterkeit) berechtigt, die übrige Menschheit zu regieren, und für uns arbeiten zu lassen, die Menschheit, die auf dem üblichen ordinären Wege physiologischer Heimarbeit in die Welt geraten ist. Also, an unsrem Recht ist, meine ich, kein Zweifel. Lassen Sie mich darum nun auch nieinerseits zu dem vorliegenden Antrag einige Be- merkungen sagen. Meine Herren I Wenn mein hochseliger Vater unter vier Augen, mich vorbereitend stir meinen Herrenhauslerberuf, mit mir über politische Dinge sprach, so pflegte er unsre Aufgaben dahin zusammen- zufassen: Wir müssen so viel für miser Korn und Vieh zu kriegen suchen, als es irgend geht. Zweitens aber ist es unsre Aufgabe, in Heer und Staat alle Stellen einzunehmen, die ehrenvoll sind und anständig bezahlt werden.(Sehr richtig!) Das gemeine Volk ist dazu da, daß es für uns steuert, und wenn die Ochsen brüllen sollten, indem sie für uns dreschen, oder gar den Erdrusch selber zu verzehren sich erfrechen dann verbinden wir ihnen eben das Maul. (Sehr richtig l) Sie rufen sehr richtig, meine Herren. Mein seliger Vater fand das auch sehr richtig. Aber ich gestehe, die Reden, die ich heute hier gehört, haben mich doch einigermaßen an meinen väterlichen Lehren irre gemacht.(Unruhe.) Ich habe nichts davon gehört, daß Sie das Wahlrecht des Volkes beseitigen, das heißt, den Ochsen das Maul verbinden wollen(Heiterkeit), damit Ihnen niemand'widerspricht, wenn Sie Maßnahmen zur Steigerung der Schweinepreise ergreifen. Ich habe nicht gehört, daß Sie die Geltendmachung des revolutio- vären gleichen Rechts zu unterdrücken suchen, damit Ihnen niemand die Posten im Heere und in der Verwaltung streitig machen könne. Ich habe auch nicht gehört, daß jene dunkle, elende Masse zum Schweigen verurteilt werden müsse, weil Sie «llein herrschen und genießen wollen.(Bewegung.) Das alles habe ich nicht gehört. Sondern vielmehr etwas ganz anderes. Sie kämpfen, so hörte ich zu meinem Befremden,-» für gewisse Ideale(Sehr richtig), und weil die anderen diese Ideale angeblich (Unruhe) bekämpfen, deshalb sollen sie aus dem öffentlichen Leven verschwinden. Wenn ich richtig gehört habe, so pflegt dieses hohe HauS, wie ich annehme, bis zum letzten Blutstropfen im wesentlichen drei Ideale. Da ist erstens die Religion, die christliche(Herr v. Mendels- söhn: Sehr richtig!), die wir schützen gegen Unglauben und Atheismus. Ein bedeutender Schriftsteller hat einmal geschrieben, das Christentum sei der Sklavenaufftand in der Moral.(Widerspruch.) Das ist gewiß nur zur Hälfte richtig. Der Sklave ist wahr, aber nicht der Aufftand. Es ist kein Sklavenaufftand, sondern eher ein Sklavenrausch, in dem sich das Elend gaukelnd über sich selbst betäubt. Aber immerhin: Sklaven haben sich diese Religion geschaffen, aus ihren seelischen Bedürf- nisten ist sie erwachsen. Ja, meine Herren, find wir Sklaven? (Ruf: Wir find Christen!) Christen preisen das Glück der Armut. (Machen wir auch!) Die Armut der a n d r e n, die Sie sogar noch t ristlich zu erhalten und zu verstärken suchen.(Ra also!) Das hristentum verlangt die Gleichheit aller Menschen.(Fürstbischof Kopp: Vor Gottl) Sollen wir denn nicht die Gebote Gottes halten? Sollen wir nicht das Gottgefällige erstreben?(Große Un» ruhe.) Würden Sie, ich frage Sie bei Ehre und Gewisten, eine Re- ligion auch nur einen Tag dulden, welche Armut und Gleichheit erzwänge?(Andauernde Unruhe.) Ich komme zu Ihrem zweiten Ideal! Sie ehren den König, den die andern nicht ehren, wie Sie behaupten. Dieser König hat die Befugnis, kraft seiner Rechte von Gottes Gnaden in diesem hohen Hause sofort eine socialdcmokratische Mehrheit zu erreichen. (Lärm.) Er hat das Recht, ohne weiteres ein paar Hundert Social- demokraten in einem Anti- Pair- Schub als Herrenhäusler zu berufen.(Schluß! Schluß!) Würden Sie dann noch den König ehren?(Schluß! Schluß!) Und wenn er es gar durch- fetzte, daß die Zölle beseitigt oder das preußische Abgeordneten- haus nach dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Proportionalsystem gewählt würde, wären Sie Ihrem König dann noch treu? Oder wenn er ein socialdemokratisches Ministerium beriefe, scharten Sie sich auch dann um das Banner Ihres Monarchen?(Ungeheurer Lärm, in dem die folgenden Worte unverständlich bleiben). Indem Sie schreien, gestehen Sie, daß Sie nicht den König als König sondern mir einen Führer Ihrer Klasse wollen und stützen.(Pftn!) Und endlich Ihr drittes Ideal I Sie lieben Ihr Vaterland, und schelten die andren vaterlandslos. Würden Sie dies Vaterland auch lieben, wenn ein freies Volk in ihm lebte, wenn alle Aemter nach Verdienst, nicht nach Geburt vergeben, wenn der Besitz der Großen enteignet würde, damit die ganze Nation besitze und glücklich sei und an friedlicher Kultur arbeite?(Raus, rauS!) Oder würden Sie es vielmehr machen, wie Ihre Standesgenosten des revolutionäre» Frankreich   und Hochverrat gegen Ihr Vaterland üben? Antworten Sic!(Inzwischen haben sich dichte Gruppen um den Redner gebildet, die erregt schreien und gestikulieren. Rufe: Zur Ordnung! Zur Ordnung!) Meine Herren(mit erhobener Stimme): Indem ich alle diese Fragen erwog, die Sie nicht zu bejahen wagen, entschloß ich mich. zurSocialdemokratie überzutreten mid fortan in diesem hohen Hause die höchsten Ideale, die in der Geschichte der Menschheit jemals verkündet worden sind, zu verteidigen, die des socialdemo- kratischen Proletariats.(Der Skandal wird immer stärker. Man hört lein Wort mehr.) Graf Mirbach(fich unmittelbar vor den Redner stellend): Kretin! Graf Wruke-Ouitzow: Und wäre ich ein Kretin, so habe ich doch das Recht, in diesem Hause zu reden. Demi hier ent- scheidet die Geburt. Niemand vermag mich von dieser Stelle zu entfernen, niemand mein Privileg zu kündigen, und wäre ich ver- blödet oder ein Schurke oder ein Verbrecher. Ich darf hier reden, weil ich geboren bin. Graf Mirbach: Sie haben zu schweigen I Der Präsident(heftig läutend): Herr Graf Wruke- Ouitzow: Ich entziehe Ihnen das Wort.(Rufe: Er soll n i e m a l S mehr reden! Der Kerl mutz raus!) Graf Wruke-Ouitzow(den Lärm übertönend): Ich d a r f reden, denn ich bin von Geburt berechtigt, in diesem Hause zu weilen. Graf Mirbach: Das wäre noch schöner I Dann würden za diejenigen recht haben. die es für einen Unsinn erklären. daß ge- borene Gesetzgeber existieren. Der Präsident: Sie haben in elendester Weise dieses vornehmste Haus entweiht, besudelt, beschimpft.(Stürmischer Beifall.) Sie haben hier nichts mehr zu suchen. Gehen Sie freiwillig, oder Graf Wruke-Ouitzow: Sie brechen das Recht I Ich beuge mich nicht! Ich werde(In diesem Augenblick erhält der Redner einen mächtigen Schlag von hinten auf seinen Kopf. Er bricht zu- sammen und wird unter dem Jubel der die Nationalhymne an- stinunenden Mitglieder herausgcschleist). Ein B ü r g e r m e i st e r und ein P r o f e f f o r erklären ent­rüstet, daß, um Mißverständnissen vorzubeugen, sie mit den ver- ruchten Anschauungen des Grafen Wruke-Ouitzow nichts gemein haben; auch ihre Freunde wären durchaus für Religion, König und Baterland. Graf Mirbach: Wir müssen eine Unteriuchungskomimiyon einsetzen, die feststellen soll, ob dieser Kretin, der unsren ganzen