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Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 100.
67]
1196
Sonntag, den 22. Mai.
( Nachdruck verboten.)
Esther Waters.
Noman von George Moore . " Ich glaube fast, daß sie gewinnen wird," sagte William, und erhob sich ein wenig in einem Rohrsessel.
Ja, ich hoffe es auch, Schatz!" murmelte Esther und legte ihm seine Kissen zurecht. Zwei Tage später war das Pferd bis auf dreizehn gegen eins gegeben und angenommen zurück gegangen und ging jogar noch weiter herunter, bis auf achtzehn gegen eins, um dann wieder eine Weile auf zwölf gegen eins zu steigen. Dieses starke Fluktuieren konnte nur bedeuten, daß irgend etwas dabei nicht in Ordnung war, und schon begann William die Hoffnung zu verlieren; aber am folgenden Tage wurde im Tattersall wieder enorm viel Geld auf eben dieses Pferd gesetzt, und nun stand es wieder da wie zuvor: Behn gegen eins. Dies erregte solch fühne Hoffnungen in William, daß ein vorübergehender Patient im Korridor vor ihm stehen blieb und, als er die Sportszeitung auf seinem Knie liegen sah, ihn fragte, ob er sich für die Rennen interessiere. William sagte:„ Ja, sehr," und erzählte ihm, daß er im stande sein würde, seiner Gesundheit wegen nach Aegypten zu reisen, wenn Chasuble gewänne.
" Die, die Geld haben," sagte der andre,„ können sich Gesundheit ebensogut taufen, wie alles andre. Wir würden alle gesund werden, wenn wir nur dorthin könnten!"
Nun erzählte William, wie viel er eventuell gewinnen
fönnte.
" Das wird jedenfalls genug sein, um da draußen gesund zu werden. Es stehen jetzt zehn gegen eins auf der Mähre: zweihundert gegen zwanzig; ich wünschte, ich hätte jetzt so viel Geld in der Hand. Ich hätte nicht übel Lust, das Haus zu verkaufen!"
Aber bevor er noch Zeit gehabt hatte, das nötige Geld flüssig zu machen, wurde das Pferd auf achtzehn gegen eins zurückgetrieben, und er sagte niedergeschlagen:
„ Es wird doch nicht gewinnen. Da lasse ich schon lieber die Frau in ihrem Hause drin. Leute, die erst mal ins Krankenhaus kommen, haben kein Glüd mehr."
Am Tage des entscheidenden Rennens, von dem so unendlich viel für sie abhing, ging Esther durch die Straßen wie eine, die den Verstand verloren hat. Sie hatte nur ein dumpfes, stumpfes Interesse für die Vorübergehenden und die Bänkereien zwischen den Droschkentutschern und OmnibusLenkern, auf die sie sonst stets hörte. Von Zeit zu Zeit raffte sie ihre Gedanken gewaltsam zusammen, und dann wollte es ihr ganz unmöglich erscheinen, daß das Pferd gewinnen fönnte! Wenn es den Sieg erränge, würden sie zweitausendfünfhundert Pfund gewinnen und sofort nach Aegypten gehen können. Aber sie konnte sich das gar nicht vorstellen. Es schien ihr viel natürlicher zu sein, daß das Pferd verlieren, ihr Mann sterben und daß sie noch einmal einsam und verlassen in der Welt dastehen und kämpfen müßte.
1904
denken, wann wohl der erste Knabe mit dem Extrablatt erscheinen würde!
William war nicht unten im Garten; oben war er, dort hinter jenen Fenstern; armer Kerl! Sie konnte sich wohl denken, in welcher Unruhe er jetzt dasaß, verzehri von Angst und Ungeduld. Vielleicht spähte er schon durch eines der Fenster nach ihr aus? Aber es hätte nichts genügt, wenn sie jekt hinaufgegangen wäre; zuerst mußte sie die Nachrichten haben; ohne das Extrablatt konnte sie nicht bei ihm erscheinen. und wie sie nun so gespannt auf den Ruf des Jungen wartete, erlebte sie von Zeit zu Zeit Ohrentäuschungen, so daß sie bald in diesem, bald in jenem Ruf auf den Straßen den fürchterlichen Ruf:„ Sieger!" zu hören glaubte und in ihren Gedanken die ganze Stadt vor diesem Ruf erbeben und zittern sah.
Dort gegenüber auf der andern Seite der Straße wurde eben etwas gerufen. Mit wankenden Knieen eilte sie hinüber. Aber nein, es war etwas andres gewesen. Endlich aber hörte sie das verhängnisvolle Wort hinter sich laut erschallen. Sie wandte sich sofort um und eilte dem Jungen nach, konnte ihn aber nicht mehr erreichen. Als sie zurückfam, begegnete fie einem zweiten. Sie gab ihm einen halben Benny und nahm cines der Blätter. Dann fiel ihr ein, daß sie ja den Jungen fragen mußte, wer gewonnen hätte, da sie nicht lesen konnte. Aber er hörte nicht mehr auf ihre Frage, sondern lief über die Straße hinüber, um seine Blätter an einige Männer zu ver kaufen, die aus einem Wirtshause herausfamen. So ging fie denn langsam dem Hospital zu und betrat den Park. Aber es war ihr klar, daß sie William nicht die Zeitung in die Hand geben durfte, bevor sie wußte, was darin stand. Denn wenn die darin enthaltene Nachricht schlecht war, konnte der Schrec
ihn töten. So reichte sie denn dem Portier das Blatt und bat ihn, es ihr vorzulesen. ,, Bramble, King of Trumps, Joung Hopeful" las
er laut.
,, Sind Sie ganz sicher, daß Chasuble nicht gewonnen hat?" ,, Natürlich bin ich sicher; da steht es ja doch!" „ Ich kann nicht lesen," sagte sie traurig und wandte
sich ab. Die furchtbare Nachricht hatte sie überwältigt; die Welk schien vor ihren Augen zu versinken. Sie war nicht sicher, was sie nun eigentlich thun sollte, und wiederholte in einem fort zu sich selber: Ich muß zu ihm hinaufgehen und es ihn mitteilen; es bleibt mir nichts andres übrig."
Die Treppe war sehr hoch, und sie stieg sie ganz langsum hinan; auf dem ersten Absatz blieb sie stehen und blickte zum Fenster hinaus. Ein armes Geschöpf mit flacher, hohler Bruſt, die Ruine eines Menschen, troch langsam und schwerfällig hinter ihr her die Treppe hinauf. Er mußte mehrmals unterwegs stehen bleiben, um auszuruhen, und in der hohen, ge= wölbten Treppenhalle Klang auch sein Husten sonderbar laut und hohl. Unwillkürlich fiel ihr ein, daß die meisten eigentlich gar nicht so laut husteten, und dann mußte sie wieder darüber nachdenken, wie sie nur William die Nachricht am besten beibringen sollte.
„ Er wollte," dachte sie, Jackie zum Manne heranwachsen sehen! Er dachte, daß wir alle nach Aegypten gehen würden; daß er dort gesund werden würde, denn dort giebt's wärmende Sonne genug; nun aber wird er doch wohl im Novembernebel sterben müssen."
An dem Wirtshaus zu den„ Bell and Horns" hielt sie an, um zu sehen, wie viel Uhr es sei, und war erstaunt, als sie sah, daß es schon eine halbe Stunde später war, als sie geglaubt hatte. Jetzt war das Rennen im vollsten Gange, und Chasubles Hufe würden nun entscheiden, ob ihr Mann sterben oder Seltsam, klar und deutlich standen diese Gedanken vor Leben sollte. ihrer Seele, und sie war fast erstaunt über ihre scheinbare Sie blickte zu den Telegraphendrähten empor, die sich Gleichgültigkeit, bis plöglich, als sie die letzte Treppenstufe deutlich von dem blauen und grauen Himmel abhoben. Diese emporgestiegen war, eine völlige Umkehrung der Gefühle sie Drähte trugen die Nachricht in alle Winde hinaus. Ging packte. Nein, sie konnte ihm diese Nachricht nicht bringen; es Dieser nach Newmarket oder jener? Welcher? war zu graufam, zu grausam! Sie ließ den armen Kranken
Sie hatte das rote Gebäude des Hospitals fast erreicht. vorausgehen, und als sie da so allein auf dem Trppenabsatz Ein Patient spazierte langsam den Gang hinauf, den Rücken stand, blickte sie hinunter in die Tiefe. Sie hatte das Gefühl, ihr zugewandt; ein zweiter saß auf einer Bank, um auszu- sich am liebsten über das Geländer hinabzustürzen; alles und ruhen. Sie mußte daran denken, wie schon vor sechzehn jedes wäre ihr erwünschter gewesen als das, was sie jetzt thun Bahren die Patienten hier ebenso herumgewandelt waren wie mußte. Aber diese momentane Anwandlung von Feigheit heute; und wie vor sechzehn Jahren zur Herbstzeit die Bäume ging rasch vorüber, und mit festem Schritt beirat sie ober den ebenso ihr Laub hatten fallen lassen. Und dann mußte sie korridor. Er war sehr lang und durchkreuzte das ganze Ge plöglich wieder ohne jeden Zusammenhang darüber nach- bäude von einem Ende zum andern, und der Boden, sowie die