Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 101.

681

Mittwoch, den 25. Mai.

( Nachdruck verboten.)

Efther Waters.

Roman von George Moore .

XLV.

Bei günstigem Wetter, hatten die Aerzte gemeint, könnte er wohl bis Weihnachten erhalten bleiben; wenn aber noch viel Nebel kämen, würde er mit den letzten Herbstblättern auch zur Erde fallen.

Eines Tages erhielt Esther einen Brief, in dem sie gebeten wurde, ihren Besuch bei ihm von Freitag auf Sonntag zu verschieben. Er hoffte, daß es ihm Sonntag schon besser gehen würde, und dann wollte er mit ihr zusammen besprechen, wann sie kommen sollte, um ihn vom Hospital fortzuholen, er wollte lieber zu Hause sterben und bat sie, auch Jackie zu Hause zu haben, wenn er fäme.

Mrs. Collins, Esthers Zimmernachbarin, las ihr den Brief vor.

Wenn solche Kranke sich erst mal was in den Kopf sehen, so ist's ganz unmöglich, es ihnen wieder auszureden." Wenn er aber an einem Tage wie der heutige aus dem Krankenhause herauskommt, so muß ihn das ja töten."

Beide Frauen traten ans Fenster und blickten hinaus. Der Nebel war so dicht und undurchdringlich, daß man nur hie und da den Umriß eines Hauses auf der gegen überliegenden Seite erkennen konnte. Das Licht der Laternen sah so trübe und trostlos aus wie in einer Stadt der Toten, Und die Laute, die von der Straße heraustönten und deren Ursache man doch nicht sehen konnte, erhöhten noch das Gespensterhafte dieser furchtbaren Finsternis.

,, Was schrieb er doch über Jackie?" fragte Esther noch einmal. Ich soll ihn hierherkommen lassen? Das ist ja nur natürlich, daß er den Jungen noch einmal sehen will, bevor er stirbt. Aber ich dächte, es wäre besser gewesen, ihn dorthin mitzunehmen, ins Hospital."

" Ja, aber Sie sehen doch, er will zu Hause sterben, er will Sie in seinen letzten Minuten um sich haben." " Ja, auch ich will bei ihm sein bis zuletzt; aber der Junge wo soll er denn nur hier schlafen?"

"

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Wir können ihm in meiner Stube eine Matraße auf den Boden legen; ich bin' ne alte Frau; was schadet das?" Am Sonntag früh war das Wetter bitter falt, und als Esther aus der South Kensington Station heraustrat, erhob sich plötzlich wieder ein dichter Nebel, der sich allmählich drückend auf die Hausdächer herabsentte. Schon begannen in der Fulham Road die oberen Etagen der Häuser im Nebel zu verschwinden und das Licht der Gaslaternen trüber und trüber zu erscheinen.

Esthers Herz wurde schwer, und sie sagte zu sich selber, indem sie rasch weiter schritt:" In solchem Wetter muß er sterben; ich kann ja selber kaum mehr atmen!"

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1904

drungen, und die Farbe der Lichter sah in dieser Atmosphäre seltsam aus. Fünf Betten standen in dieser Abteilung; niedrige, eiserne Bettstellen; jedes mit einer dunkelroten Decke bedeckt. In der entferntesten Ecke des Raumes lag die Ruine eines einst riesig gewesenen Arbeitsmannes. Er hatte feine schweren, nägelbeschlagenen Stiefel und seine Barchent­jetzt eine schlaffe, wachsgelbe Masse lagen kraftlos vor ihm hosen an, und seine einstmals braunen muskulösen Arme- auf der Decke. Mitten im Zimmer auf dem Bett lag ein kleiner Schreiber, matt und erschöpft, und rang vergeblich nach Atem. den Schreiber aber war dessen ganze Familie versammelt: Er sah völlig kraftlos aus. Der Arbeitsmann war allein. Um seine Frau und zwei Kinder, einen kleinen, dreijährigen Knaben und ein Baby, auf dem Arme. Der Doktor war foeben hereingekommen, und die Frau erzählte ganz luftig die Geschichte ihrer letzten Entbindung. Sie sagte:

Die Woche darauf war ich schon wieder auf.' s ist merkwürdig, was wir Frauen alles aushalten können; man sollt es kaum glauben! Ich habe die Kinder hierhergebracht, damit sie ihren Vater sehen; er freut sich doch so schrecklich darüber, der arme Mensch!"

Esther war zu ihrem Mann herangetreten. Wie geht es Dir heute, Schat?" fragte sie und nahm auf dem Stuhle neben seinem Bette Play.

Better noch lange anhält, giebt's mir wahrhaftig den Reft. ,, Etwas besser, als es Freitag ging; aber wenn dies Siehst Du die beiden leeren Betten dort? Die sind beide gestern leer geworden, und ich habe gehört, daß drei oder bier, die kürzlich von hier nach Hause gingen, auch inzwischen gestorben sind." Der Doktor trat an Williams Bett heran.

Nun, sind Sie noch immer entschlossen, nach Hause zu gehen?" fragte er.

Ja; ich möchte lieber zu Hause sterben. Sie können mir zu Hause sterben; ich will auch meinen Jungen noch ja doch nichts mehr für mich thun! und ich möchte bei sehen."

Du kannst ja Jackie auch hier sehen," sagte Esther. " Ich möcht ihn lieber zu Hause sehen. Aber Du willst wohl nicht gern die Unruhe und Mühe im Hause haben, die ' ne Leiche macht!"

,, D William! wie fannst Du nur so sprechen!" Der Patient hustete fürchterlich und lehnte sich mati in seine Stissen zurück, unfähig, ein Wort zu sprechen.

Esther blieb so lange im Hospital, wie es Besuchern gestattet war. Er konnte zwar nicht viel zu ihr sprechen, aber sie wußte doch, daß er es gern hatte, wenn sie bei ihm saß.

Als sie Donnerstags wiederfam, um ihn nach Hause zu holen, ging es ihm anscheinend ein bißchen besser. Die Frau des Schreibers war wieder da und schnatterte ebenso wie bei ihrem vorigen Besuche. Der große Hüne lag wie neulich in seiner Ecke einsam und unbeweglich da wie ein Stein.

Esther mußte des öfteren zu ihm hinüberblicken und denken, ob der arme Mensch wohl gar keine Freunde hätte, die ihn mal besuchen könnten!

" Ich habe schon fast geglaubt, daß Tu gar nicht mehr kommen würdest," sagte William zu Efther.

Alles in der Straße fah schattenhaft aus; die vor ihr her Gehenden verschwanden im Nebel gleich Gespenstern, und ein­mal begann sie schon zu fürchten, ihren Weg verfehlt zu haben, obwohl das ganz unmöglich war, denn der Weg lief immer ferzengerade. Plötzlich sah sie die schattenhafte Silhouette des großen Mittelgebäudes mit seinen zwei Flügeln schon fast dicht vor sich aus der Finsternis emporragen und sich von dem schwefelfarbenen Himmel schwer abheben. Die etwas niedrig gelegenen Gärten waren ganz voll von dem dumpfen, giftigen Nebel, und die hageren, blätterlosen Bäume vorwurfsvoll. sahen aus wie die Gespenster schwindsüchtiger Menschen. Der Thürsteher hustete fürchterlich, als sie an ihm vorüberkam nicht wahr?" und sagte:

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Böses Wetter für unsre armen Stranten da oben." Wohl war sie darauf vorbereitet gewesen, eine Veränderung in ihrem Manne zu erblicken, aber daß ein lebender Mensch so totenbleich aussehen würde darauf war sie doch nicht borbereitet gewesen! Da er liegend. nicht länger zu atmen vermochte, hatte man ihn im Bett aufgesezt und ihm aus Stissen eine Stütze im Rücken errichtet. Und er sah fast ebenso schattenhaft aus wie die Gestalten, welche vorher in der Straße im Nebel vor ihr verschwunden waren. Selbst bis in das Krankenzimmer hinein war ein Hauch von Nebel ge-!

Er ist Ihnen doch so unruhig", sagte die Schreibers. frau, alle drei, vier Minuten fragt er, was die Uhr ist!" Wie konntest Du denn das glauben?" sagte Esther

"

Weiß nicht; aber Du bist heute später hier als sonst;

Ja, so werden sie zuletzt immer, so unruhig!" sagte die Schreibersfrau. Aber mein armer Alter hier ist ruhig, der ist ganz ruhig; nicht wahr, Schat?"

Da der sterbende Schreiber nicht gleich antworten konnte, wandte die Frau sich wieder an Esther:

,, Und wie finden Sie ihn denn heute?"

"

Ziemlich unverändert; vielleicht' n bißchen besser, kräftiger. Aber dies Wetter greift die Kranken so an. Ich weiß nicht, wie's da oben in Ihrer Gegend war, aber unten bei uns- nein, solchen Nebel habe ich noch nie gesehen!"

Jetzt begann das Baby zu weinen, und die Frau, die es