Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 105.

72]

Dienstag, den 31. Mai.

( Nachdrud verboten.)

Esther Waters.

Roman von George Moore .

( Schluß.)

Sonntags hielten sie stets ihre Andachtsstunden ab. Nicht allein von unten aus der kleinen Stadt, nein, auch schon von viel weiter her kamen die Leute an. Diese Tage waren für Esther die glücklichsten ihres ganzen Lebens. Sie war zu frieden mit der friedlichen Gegenwart und wußte, daß Mrs. Barfield ihr eine Kleinigkeit hinterlassen würde, wenn sie starb. Trotzdem waren alle Sorgen noch nicht von ihr ge­wichen. Jack schien noch immer feine dauernde Anstellung in London bekommen zu können, und ihr Lohn war so winzig, daß sie ihm davon nicht viel schicken konnte. So ließ sie denn zunächst noch der Anblick seiner Handschrift auf einem Brief­couvert jedesmal erzittern, und mitunter zeigte sie Mrs. Barfield den Brief erst Stunden, nachdem sie ihn empfangen hatte.

Eines Sonntagvormittags gingen die beiden Frauen zu­sammen spazieren den Berg hinauf, und Esther sagte:

Ich habe einen Brief von meinem Jungen bekommen, gnädige Frau. Ich hoffe, er schreibt mir darin, daß er endlich wieder Arbeit gefunden hat."

Ich fürchte, ich werde ihn hier nicht lesen können, Esther; ich habe meine Brille nicht bei mir."

Es schadet nichts, gnädige Frau. Dann warte ich eben noch."

Aber geben Sie mir ihn doch einmal her! Vielleicht geht es doch! Er schreibt ja eine große, leserliche Handschrift. Vielleicht kann ich ihn doch lesen."

Und sie entfaltete das Blatt und las:

,, Meine liebe Mutter! Die Stelle, von der ich Dir in meinem letzten Briefe schrieb, war schon vergeben, als ich hin­tam. Also muß ich in dem Spielwarenladen so lange noch bleiben, bis ich etwas Besseres finde. Aber ich bekomme hier bloß sechs Schillinge die Woche und meinen Thee, und damit fann ich nicht ganz auskommen."

Dann kommt etwas etwas von Schilling die Woche bezahlt etwas von Bett ja, ich kann es doch nicht ganz lesen."

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dreieinhalb etwas- Ich weiß schon, was das ist. Er schläft in einem Bett mit dem ältesten Jungen."

Richtig, das ist es, und er will wissen, ob Sie ihm nicht helfen könnten. Hier steht es: Ich will Dich nicht gerne be lästigen, liebe Mutter, aber es ist sehr schwer für einen Jungen, in dem großen London sich sein Brot zu verdienen."

" Ich habe ihm aber schon mein ganzes Geld geschickt; vor dem nächsten Ersten werde ich keines mehr haben."

" Ich werde Ihnen welches leihen, Esther; wir können doch den Jungen nicht verhungern lassen. Mit zweieinhalb Schilling die Woche fann er in London nicht leben."

" Sie sind sehr gütig, gnädige Frau! Sehr! Aber ich möchte von Ihrem Gelde nicht gerne ehvas nehmen. Wie sollen wir denn sonst den Garten geräumt bekommen während des Winters?"

Es wird schon gehen, Esther. So oder so. Der Garten muß eben warten, die Hauptsache ist, daß Ihr Junge nicht mehr in London sitzt und hungert."

Wieder gingen die beiden Frauen weiter den Berg hinauf. Als sie oben angelangt waren, sagte Mrs. Barfield:

1904

gezogen hinter den dichten Baumgruppen. Das war eigentlich das einzige große Ereignis ihres ganzen Lebens gewesen. Sie wandte sich um und blickte auf das Meer hinaus. Jenseits berührten die Baumgruppen von Woodview den Horizont. Ein wenig weiter nach rechts sant diese Linie etwas herab und man sah zwischen den andern Baumstämmen hindurch die Dächer der kleinen Stadt schimmern. Ein Zug wand sich schlangengleich über die dünnbeinige Brücke hinüber. Der verschilfte Fluß ergoß nach wie vor sein trübes Gerinnsel in den Hafen hinein, und der so kunstvoll errichtete Damm schützte Felder und Aecker vor einer Ueberschwemmung durch das weer. Nach einer Weile saben sie den Zug hinter dem vier­eckigen, altmodischen Kirchturm verschwinden. In dem kleinen Kirchhof hinter diesem Turm lag ihr Mann begraben, ihr Vater, ihre Mutter und alle ihre Verwandten. Auch sie würde nun wohl bald dort liegen! Wie lange noch? Höchstens ein paar Jahre! Ihre Tochter lag weit, weit fort von hier in der Erde Aegyptens . Sie aber hatte ihr ganzes Leben hier ver. bracht auf diesem Flecken Erde , mit einziger Ausnahm. der paar Monate, die sie am Krankenbette ihrer Tochter in Aegypten verlebt hatte.

Und das war ihr ganzes Leben gewesen, der Uebergang aus dem alten, rotgeziegelten Farmhause über die paar Felder und Aecker nach dem gelben italienischen Haus hinter den Bäumen.

Und für Esther hatte diese öde Landstrecke fast ebensoviel Bedeutung wie für ihre Herrin!

Hier hatte sie William kennen gelernt. Hier war sie mit ihm spazieren gegangen. Hier war er geborer und heran­gewachsen. Und jetzt lag er weit von hier entfernt auf dem Bromptonkirchhofe; sie aber war hierher zurückgekommen. Und das geheimnisvolle Weben der unsichtbaren Mächte des Geschicks verblüffte fast die ungelehrte Denkweise des ein­fachen Weibes.

,, Haben Sie je wieder von Fred Parsons gehört?" fragte Mrs. Barfield Esther auf dem Rückwege.

,, Nein, gnädige Frau; ich weiß nicht, was aus ihm ge­worden ist."

,, Wenn Sie ihm nun aber noch einmal begegnen sollten, würden Sie ihn heiraten wollen?"

Noch einmal heiraten! Ich! Noch einmal das ganze Leben von vorn anfangen! All' die Mühsal und Wirrsal noch einmal beginnen! Nein; warum? Ich habe jetzt nur noch ein Biel im Leben, das ist, meinen Jungen in einer ordentlichen, festen Stellung zu sehen."

Schweigend schritten die beiden Frauen weiter dahin. Sie famien an langgestreckten Ruinen von Ställen, Schobern, Heuböden, Holzschuppen und so weiter vorbei. Sie gingen zurück nach dem Garten. Man fonnte jetzt eintreten, wo man wollte; der Zaun war fast überall morsch und zerfallen, und der Garten sah aus wie eine Wildnis. Die kleinen Kepfel. bäume verschwanden fast unter dem sie umringelnden, hoch emporgeschossenen Unkraut, und andres niederes, allzu üppig sprießendes Unkraut hatte sämtliche Wege überwuchert. Von den Treibhäusern war fast nichts mehr übrig als ein paar zer­brochene Glasscheiben und ein schwarzer, verräucherter Schorn­stein. Eine mächtige Buche hatte in ihrem Falle ein Sommer­häuschen mit umgerissen, und unter den triefenden Bäumen faß ein verlassener Pfau und schrie in herzzerreißenden Tönen nach seiner verschwundenen Gefährtin.

" Ich glaube nicht," sagte Mrs. Barfield, daß Jack in diesem Winter noch eine gute Stelle wird finden können.- werden ihm vorläufig sechs Schilling die Woche schicken; das zusammen mit seinem Verdienst wird dann schon ausreichen, um sein Leben zu friſten."

Ich habe schon seit Monaten nichts mehr von Mr. Arthur gehört. Wissen Sie, Esther, daß ich Sie um diese Briefe beneide, in denen Sie Ihr Junge um Geld bittet? Welchen Bwed hat denn für uns das Geld, außer um es unsern Kindern ,,, reichlich, reichlich! Aber wovon sollen denn dann geben zu können; um andern helfen zu können! Das ist doch die Arbeiter bezahlt werden, die den Garten aufräumen das einzige wirkliche Glück auf dieser Erde." sollten?"

Sie befanden sich jetzt in der Nähe des alten, aus Ziegel­steinen erbauten Farmhauses, in dem Mrs. Varfield ge­boren war.

"

Wir werden dann eben nicht den ganzen Garten räumen lassen fönnen; aber Jim wird uns schon ein ordentliches Stüd herrichten, groß genug, um unsre Frühjahrsgemüse und etwas Mrs. Barfield mußte an jene lange schon hinter ihr Kartoffeln zu pflanzen. Zunächst müssen diese Mepfelbäume liegenden Tage denken, an denen ihr Verlobter hierher geritten umgebauen werden; und ich fürchte, man wird auch den tam, sich rasch von seinem Pferde schwang und an ihrer Seite Walnußbaum niederlegen müssen. Er ist zu mächtig. In den Gartenweg hinauf dem Hause zuschritt. Dann hatten seiner Nähe kann gar nichts andres mehr wachsen. Und diese fie geheiratet und waren in das italienische Haus hinüber- Menge Unkraut! Hat man schon ic so etwas geschen? Und