Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 110.

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Dienstag, den 7. Juni.

( Nachdruck verboten.)

Im Vaterbaufe.

Socialer Roman von Minna Rautsky. Elise blieb ruhig an dem geöffneten Fenster. In dieser Sonntagsstille hörte man das Geflingel der Tramway, deren Waggons die Favoritenlinie passierten.

Das ist heute wieder ein Verkehr, alles strömt aus der Stadt hinaus... gehst Du nicht auch?"

" Ich habe mir's überlegt, ich möchte lieber was lesen." " Das ist gescheit, Du kannst ja mit dem Buch nach der Wall gehen und Dich dort in die Sonne legen." " Ich werde mich schon wo hinlegen," meinte er lachend, wenn ich nur erst das Buch hab' wenn Sie mir wieder eins borgen wollten-"

Bücher hätten wir genug," meinie fie, freilich wenige,

die Du verstehen wirst."

Ich möchte gern einmal etwas vom Cajar lesen oder von

die Römer."

Warum denn gar so gelehrie Sachen," spottete sie. Sie ging voraus durch die Küche und beirat die Wohn­Stube, die nach der Straße zu lag.

Sie war hell und geräumig, mit Geschmad möbliert, für Frig war sie ein Unikum von Pracht und Schönheit. Ein faroger Smyrnaer Teppich bedeckte den Boden, ein schöner Perer war über den Diwan gebreitet, dem einige Eselstaschen in prachtvollen Mustern als Rücklehne dienten. Das daneben stehende Bett, in dem die beiden Mädchen schliefen, war durch ein japanisches Parabent maskiert.

An den licht tapezierten Wänden hingen die Gemälde des Großvaters in schönen, breiten Goldrahmen. Da war ein Bigeunerlager noch ganz in der romantischen Auffassung, die die Kunst der sechziger Jahre charakterisierte, mit einer Anzahl schöner, malerisch zerlumpter Gestalten, die an einer Stelle des Waides zum genußvollsten Zusammensein sich gruppierten.

Das zweite Bild zeigte ein vornehmes junges Paar, in füßlichen Farben gehalten, das sich umschlungen hielt und mit gerührten Blicken die Bettlerin am Wege betrachtete, das glück­liche Weib, das, unter einem Baume sigend, seinem Kinde die Brust bot.

Friz hatte die schönen Bilder immer bewundert, heute sah er an ihnen vorbei nach dem hochragenden Schrank, der die Bibliothek des seligen Akademieprofessors enthielt.

Als die Wissenschaft anfing, populär zu werden, konnte man in den Salons der Bourgeoisie Buckle und Mill finden, Lubbock   und Darwin  , Renan, David Strauß  , Büchner und Häckel. Es gehörte zum guten Ton, diese Bücher zu besitzen, wenn man sie auch nicht las.

Auch Professor Witte hatte sie seiner Bibliothek einverleibt, wo sie nach zwanzig Jahren noch ebenso jungfräulich unberührt standen, wie am ersten Tage.

Elise öffnete den Schrank, Frizz stand hinter ihr mit ge­falteten Händen und verschlang die stattlichen Reihen schön gebundener Bücher mit den Augen.

Wie reich erschienen ihm diese Menschen, die so viel Bücher hatten!

"

Da ist eine Geschichte des Altertums," sagte Elise, den Band herausnehmend, darin findest Du etwas von Casar." Und da ist Darwins Entstehung der Arten," rief Fritz lebhaft, einen andren bezeichnend, das möchte ich auch lesen." Das verstehst Du nicht," sagte sie kurz abweisend. Sie übergab ihm das für ihn Ausgewählte und schärfte ihm ein, es nicht zu beschmutzen.

Er bedankte sich und wollte zur Thür hinaus.

Sie rief ihn zurück.

Elise lachte belustigt auf.

Das war jedenfalls das Notwendigste für Dich."

Ihre Fröhlichkeit steckte ihn an, er lachte mit.

" 1

1904

Wir wollten halt mit dem leichtesten anfangen, zu dem man feine Vorbildung braucht."

Schau, schau, das war eigentlich nicht so dumm von Euch."

bei der ersten Lektion ist der Klavierspieler ausgeblieben und ,, Nicht wahr, aber es ist nichts daraus geworden; gleich da haben wir halt statt der Tanzerei einen Vortrag über die Entstehung der Arten gehört."

Das war aber fad, gelt?"

schienen, wenn er ihr gesagt hätte, wie ungemein es ihn inter­Er errötete. Es wäre ihm als eine Ueberhebung er­effiert habe. Sie gab seinem Schweigen eine andre Deutung und sagte kopfschüttelnd: Ist auch ein Unsinn, Euch so etwas borzutragen, davon können doch Arbeiter kein Wort verstehen." ihr gegenüber zur Verteidigung drängte, sagte er feſt: Da blickte er auf und, als hätte sie angegriffen, was auch

"

warum sollen wir Arbeiter nicht verstehen, was uns klar und Wenn ein Bauer den Prediger auf der Kanzel versteht, deutlich vorgetragen wird, und was so wirklich und wahr ist, daß ähnliches uns alle Tage vor Augen kommt?"

Sie war einen Augenblick ungewiß, ob sie dieser Meinung entgegentreten oder sie gelten lassen sollte; ihre Sympathie trug den Sieg davon. Du sollst alle Bücher haben, die Du willst, Frizel, bei uns liest sie doch niemand."

"

4. Kapitel.

Es schlug zehn Uhr. Frau Resel, die Hausbesorgerin von Nr. 36, fam mit schlürfenden Schritten die Treppe herauf, um die Gashähne abzudrehen.

Sie gähnte laut und stieß ein" Jesus Maria" aus, als fie Friß bemerkte, der auf einer der obersten Stufen saß, ein Buch auf den Knien, das er mit ausgestreckten Armen so weit vorgeschoben hatte, daß das Licht der Gasflamme darauf fiel.

Was ist das für ein Unsinn, auf der Stiegen zu lesen und sich die Augen verderben," rief sie ihm zu.

Er sah von dem Buche auf und sagte lustig: Bin ich ein Millionär, kann ich mir eine Stearinferze faufen?" " Hab' ich Ihnen nicht gesagt, wenn Sie ein hübsches Buch haben, können Sie zu mir in die Wohnung kommen und es mir vorlesen- ich hab' gern hübsche Bücher wie heißt denn die G'schicht'?" Neugierig beugte sie sich nieder und wollte ihm das Buch aus der Hand nehmen.

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,, Das ist nichts für Sie," sagte er trocken und schlug es ihr vor der Nase zu.

Sie stemmte die Hände in die Seiten und fah ungeheuer entrüstet aus.

Nichts für mich, so, und Sie schämen sich nicht, so was zu lesen? So ein Früchterl! Für mich paßt's nicht, aber für ihn paßt's so ein verdorbener Kerl!"

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Er lachte laut auf und rannte die Treppe hinab, während sie wütend den Hahn rasch abdrehte.

Dann trat sie auf den offenen Gang hinaus. Sie hatte dort Fräulein Tini bemerkt, die bereits im Negligé war, das heißt, sie hatte den alten Schlafrock ihrer Mama angezogen, der an ihrer schlanken Gestalt schlotternd herabhing.

Sie lehnte sich weit über das eiserne Geländer und sah schnsüchtig über den Garten hinweg in die Ferne.

,, Eine schöne, sternhelle Nacht, Fräulein Zini," begann die Nesel, wie von derselben Stimmung erfaßt.

Tini drehte sich rasch um und lachte ihr ins Gesicht. ,, Mir scheint gar, Sie hätten auch noch Lust, zu schwärmen. Schauen Sie lieber, daß Sie ins Bett fommen, es ist schon

Sag' mir, Frißl, woher weißt Du denn was von Darwin  , spät." Dann die Hände in heftiger Ungeduld ineinander­Hast Du diesen Namen schon einmal gehört?"

" 1

H

Gehört schon in den Versammlungen. Was sind das für Versammlungen?" Sie wissen ja, ich bin jetzt im Arbeiter- Bildungsverein; ein Kamerad hat mir gesagt, dort könnt' man umsonst was lernen, da giebt's Kurse für Mathematik und Geographie. Englisch  , Singen und Tanzen, und da da haben wir uns beide ins Tanzen einschreiben lassen."

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preſsend: Und dieser Emil kommt nicht zurück."

" Der Herr Emil noch nicht zu Hause?"

,, Nein, der Vater ist schon ganz wütend, und die Malert­schen sind auch noch nicht da."

,, Auch noch nicht?" rief die Nesel und umfaßte krampf haft den Schlüsselbund.. da muß ich mich aber tummeln mit dem Zusperren, sonst schlupfen sie mir noch vorher herein