Unterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 118.
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Freitag, den 17. Juni.
( Nachdrud verboten.)
Im Vaterbaufe.
Socialer Roman von Minna Kautsky . Der Verkäufer lächelte, kniff die Augen zusammen und überreichte ihnen drei ausgesucht schöne Exemplare mit einer graziösen Handbewegung: Bei so schönen Damen werde ich eine Ausnahme machen.'"
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Aber schon näherte sich ein Wachmann und herrschte sie an: Hier darf man nicht stehen bleiben weiter weiter-."
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Eben trat die Sonne aus dem zerfließenden Nebel hervor und beleuchtete mit ihren Strahlen das unvergleichlich schöne Straßenbild.
Die Uhr auf dem schlanken Rathausturm zeigte die elfte Stunde, sie begann zu schlagen.
Eine Bewegung entstand unter den Harrenden auf der Straße. Die Abstimmung mußte vorüber sein die Entscheidung gefallen. Aber es rührte sich nichts. Der imposante Bau samt den daranschließenden Arkaden blieb in Ruhe und Schweigen gehüllt, wie ausgestorben, während in dieser vieltausendköpfigen Menge die Erwartung zum Fieber sich steigerte. Was mag dort vorgehen?
Plötzlich entsteht in den Massen eine Bewegung, die sich wellenartig fortpflanzt, ein Schütteln, Nicken und Neigen ist's, als wenn der Wind im Wirbel über ein Kornfeld weht.
Und diese Bewegung verdichtet sich zu einem Wort, das man sich zuruft, erst leise, dann lauter, jetzt braust es einher: ,, Gewählt! Lueger ist gewählt!"
Aufregung malt sich auf allen Gesichtern, fragend skeptisch die einen, freudig bewegt die andern. Alle stehen indes noch im Bann der Erwartung und blicken nach dem Rathause, einer Kundgebung gewärtig, die ihnen Gewißheit bringt.
Aber schon ist diese erste Mitteilung von einer andren überholt, das Unerwartetste ist Ereignis geworden:" Der Gemeinderat ist aufgelöst!" heißt es.
„ Aufgelöst?"
,, Unmöglich!"
Das ist eine Gesegesverletzung!"
" Das ist himmelschreiend."
1904
Taschentücher in der Luft und winken nach dem Balkon hinauf, eine weithin sichtbare Kundgebung. Sie verrät den angesammelten Massen, wo der zu finden sei, den aller Augen suchen, sie verrät ihnen, daß eine Ovation bereits im Gange ist. Jeder will daran teilnehmen.
" Zum Parlament!" ist die Parole, sie durchfliegt die Reihen. A so a Hez war no net da," singt der eine und stülpt den Hut fester auf seinen Schädel.
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Der Weg durch die Anlagen ist der nächste zum Ziele, sie schlagen ihn ein.
Wahnsinnigen gleich fommen sie daher. Dieser plötzlichen, leidenschaftlichen Aktion gegenüber ist die Polizeimannschaft machtlos. Diejenigen, die bei diesem Rennen noch einen Borsprung gewinnen wollen, laufen quer durch den Rasen, zertreten die Blumenbeete, knicken die Zweige der Gebüsche, welche die Anlage begrenzen, um durchzubrechen. Umsonst! Sie können nicht weiter, die Straße ist vollgestopft mit Menschen und alles schreit und weht mit den Tüchern.
Waghalsige Fanatiker erklettern die Bäume und klammern sich mit den Beinen am Stamme fest, da sie die Hände brauchen, um zu winken und Beifall zu klatschen.
Einige fallen herunter, lachen und steigen wieder hinauf; dabei schreien sie unaufhörlich:„ Hoch, Lueger , hoch!"
Tini und die Witte Mädeln hatten sich der Ovation an geschlossen. Ihre Pulse fliegen, ihre Augen leuchten in Begeisterung, kampferhitzt sehen sie aus, gleich jugendlichen Walküren.
Auch sie haben ihre Taschentücher gezogen und winken und wehen gegen den Balkon hinauf. Am liebsten säßen sie ebenfalls in den Zweigen, um dem Mann, den sie nicht kennen, dem aber ihre Herzen zujubeln, zu huldigen.
Aber sie begnügen sich, unter den Bäumen zu bleiben und über die seltsamen Vögel, die in dem entlaubten Geäst hinund herspringen, zu lachen. Drei Herren von distinguiertem Aussehen, welche die Anlagen durchschritten, um auf dem freigehaltenen Wege die Ringstraße zu erreichen, waren, dem Strome ausweichend, ebenfalls unter die Bäume getreten.
Der eine, von hoher und freier Haltung, mit dem rasierten, fühn profilierten Gesicht, war Edmund Reich, der beliebte Schauspieler, der ins Theater zur Probe ging.
Sein Freund, Ferdinand Brandt, und dessen Vater, der Baron , begleiteten ihn. Der erstere, in seiner Kleidung von
Die Fäuste ballen sich in den Taschen, sie wagen sich noch extremer Sorgfalt und Eleganz, war schlank, hübsch, blond, nicht hervor " Die Juden sind daran schuld!" ruft einer.
,, Nieder mit den Juden!" brüllt der vielstimmige Chor. An jenem Portal, das dem Parlamentshause zunächst liegt, fahren die Wagen vor, der Wahlakt ist zu Ende, die Räte berlassen das Haus. Man erwartet den Helden des Tages. Knäuelartig ballt sich die Menge an diesem Punkt in einander. Die ganze bisher ruhig zuwartende Masse gerät in Bewegung. Man will ihn sehen... alle wollen ihn sehen. Dem geliebten Zührer war schweres Unrecht geschehen, er soll wissen, daß die Wiener zu ihm stehen. Man will ihm zujubeln, jeder der versammelten Antisemiten fühlt sich gedrungen, ihm sein Hoch, Lueger !" in die Ohren zu schreien.
Hoch Lueger !" brüllt der eine. Hoch Lueger !" brüllen alle. Die elektrische Spannung hat sich entladen.
Man will den Wagen des Bürgermeisters erkannt haben. Da ist er... ihm nach!" Die Postenkette ist im Nu durchbrochen. Unter immerwährendem Schreien laufen die Leute hinter dem Wagen her.
" Haltet ihn auf!"... Der Bürgermeister!... Aufhalten!... Spannt ihm die Pferde aus!"
Der Wagen ist umringt; welche Enttäuschung! Ein andrer sitzt darin; er hat eine lange Nase. Das ist ein Jud'!"...„ Schlagt ihn tot!"
mit zierlichen Händen und Füßen, der Vater klein und beweglich, sah flotter aus, sichtlich bemüht, durch jugendliche Allüren über sein Alter hinwegzutäuschen.
Seine kleinen, stechenden Augen, die hinter gefärbten Brauen munter hervorblizten, hatten die Mädchen zuerst entdeckt, und er machte seine Begleiter auf sie aufmerksam.
,, Solche Antisemitinnen lasse ich mir gefallen, so rosigen Gesichterln stehen die weißen Nelfen vorzüglich.
Das sind ja" rief Ferdinand überrascht, was sagen Sie, Reich, ich täusche mich doch nicht?"
Natürlich sind sie's," bestätigte der Schauspieler, der Luise einen Augenblick scharf firierte und nun mit einem einnehmenden Lächeln auf sie zuging.
Ihr kennt sie, Ihr kennt sie?" rief der Senior in zappelnder Neugier, wer sind sie denn?"
Wie Schafe vor einem Gewitter standen die Mädchen aneinander gedrängt und erwarteten die Herannahenden; auch sie hatten sie sofort erkannt.
Die Herren zogen den Hut, sie begrüßend, aber noch ehe fie ein Wort an die jungen Damen gerichtet hatten, hob Reich aufhorchend den Kopf: Was ist da los?"
"
Die Hochrufe, die bisher unablässig ertönten, hatten sich plöglich in ein ohrenzerreißendes Kreischen und Schreien ver. wandelt, gleichzeitig vernahm man den regelmäßigen Hufschlag Aber der Wagen war blitzschnell davon gefahren. Die der Pferde eines Detachements von Ulanen, die von der oberen Masse flutet zurück und begann sich vor dem Parlament zu Lichtenfelsstraße herabkamen, um die Straße zu säubern. Mit stauen. Auf dem Balkon des Reichstagsgebäudes stehen vorgehaltenen Lanzen sprengten sie heran, die Menge vor sich mehrere Herren und sehen auf die Straße. Scharffehende hertreibend, die unter Geheul in wilder, regelloser Flucht zu wollen in dem einen den Bürgermeister erkannt haben. Dort entkommen suchte. Jetzt mußte die Barriere von Gebüschen ist er!"„ Er hat sich ins Parlament begeben!" Der Be- durchbrochen werden, und einem entfesselten Strome gleich zeichnete zieht sein Taschentuch das ist das Signal für die fluteten die in der Straße bedrängten Massen in die Anlagen auf der Straße: im nächsten Augenblick flattern hundert weißel herein.