Mnterhaltimgsblatt des JorwärtsNr. 119.Sonntag, den 19. Juni.1904(Nachdruck verboten.)u] Im Vaterbau fe.Socialer Roman von MinnaKautsky.„Sie ist keine Witte," bemerkte der Senior zu Reich.„Gewiß nicht, daS ist ein andrer Typus." Er lächelteTin! zu und sie erwiderte dieses Lächeln.„Fräulein Schönbrunner, Herr Reich." stellte jetztLuise vor.„Geh', ich weiß schon, wer das ist," lispelte Tini in schall-hafter Grazie.Und als Reich hierauf mit einem langgezogenen„So—so" sie schärfer ins Gesicht faßte, ließ sie ihrem Theater-enthusiasmus die Zügel schießen.„Herrgott, wie oft Hab' ichmich ang'stellt, wenn unser Reich a schöne Roll' g'habt hat, umvier Uhr bin ich oft schon in der Schnecken g'standen, Hab' allesertragen, Hunger und Durst, Grobheiten und Püffe, und wennich dann mit Müh' und Rot die Kasse erreicht Hab', wie oft hat'sdann g'heißen:„Letzte Galerie nichts mehr da"— dann Hab'ich g'heult, es hat mir nix g'nutzt, aber wenn ich mir ein Billeterobert Hab', hätt' ich's um keine Million mehr hergegeben.Na/es geht andern auch so. Ich glaub', es giebt überhauptkeine Wienerin, die Sie nicht schon auf der Bühne bewunderthat, Herr v. Reich, außer— den zweien da," setzte sie, mit einergroßen Armbewegung auf die Schwestern deutend, hinzu, ihreZurückhaltung parodierend.Ihre natürliche Komik wirkte unwiderstehlich, man lachte,und der Baron konnte sich nicht enthalten, mit einem„Sie istreizend!" seinein Wohlgefallen unverblümten Ausdruck zugeben.Reich hatte sich den Schwesten, zugewendet:„Ist daswahr, was Ihre Freundin behauptet, Sie hätten mich nochnicht spielen gesehen?"Luise verneinte stumm, ihr Herz pochte zu stark ui'd ihreGedanken wirbelten konfus durcheinander.„Ist das möglich?" riefen die beiden Brandts,„besuchenSie überhaupt kein Theater?"„O doch," sagte Gusti,„aber selten."„Sie gehen nie in ein neues Stück, aus Furcht, sie könntenverdorben werden," ergänzte Tini.„Sie fürchten das nicht, Fräulein Tini?" fragten Vaterund Sohn fast gleichzeitig, und mit demselben indiskretenLächeln, indem sie der kleinen Ausgelassenen näher rückten.Tinis Augen funkelten.„Ich? Aver ich möcht' am liebsten gleich selbst zuniTheater gehen, wenn ich nur wüßt', ob ich Talent Hab'."„Wenden Sie sich doch an Reich, der kann's Ihnensagen."Sie schielte von der Seite nach dem Schauspieler hin.„Ja, wenn i mi trauen thät'."Reich hatte die Augen von Luise nicht abgewendet und eswar wieder ein so eigentüinlicher ingmsitorischcr Blick, der dieFrage begleitete:„Hatten Sie auch nicht das Verlangen, michspielen zu sehen, Fräulein Luise?"Sie zuckte unter dieser Sonde zusammen. Warum fragteer? Setzte er bei ihr ein besonderes Interesse für ihn voraus?Was berechtigte ihn dazu? Und Luise nannte er sie? Er hatteihren Namen behalten... Den Vater hatte er schon nachacht Tagen nicht mehr gekannt, nicht kennen wollen. Ihreinnere Verletztheit behielt über die mannigfachen Empfin-düngen, die auf sie einstürmten, die Oberhand.„Nein," sagte sie herb, fast feindlich.Mit einem Zucken der Augenbrauen quittierte er die Un-Höflichkeit, die in dieser kurzen Antwort gelegen war undwendete sich seinen Freunden zu.Der Baron hatte ihn unter den Arm genommen, er schiennicht übel Lust zu haben, sich zum Beschützer dieser kleinenTheaterenthusiastin aufzuwerfen.„Sie hat sicher Talent," meinte er,„sehen Sie sie nureinmal drauf an."„Talent, Talent!" wiederholte Reich sarkastisch.„Wasist damit gesagt? Haben nicht alle jungen Damen Talent fürdie Bühne? Und doch möchte ich keiner raten, diesen Berufzu wählen. Eine Bühnenlaufbahn ist heute komplizierter alsje, und um sich behaupten zu können, braucht man noch ganzandre Eigenschaften und Begünstigungen als Talent."„J dank' schön für die Ermutigung," sagte Tini in echtwienerischer Schnippigkeit. Dann ihm von unten auf einenschelmischen Blick zuwerfend:„Und wenn ich mich an Ihrewarnende Stimme nicht kehr'? Wenn ich trotzdem zum Theatergeh', was dann?"Er nahm sie derb am Kinn und sagte mit Humor:„Dannbesitzen Sie wahrscheinlich diese Eigenschaften, mein Kind."„Bravo, bravo, fqmos!" sekundierten die beiden Brandts.Reich sah auf die Uhr.„Es ist Zeit— ich habe Probe... meine Damen—Er lüftete seinen Cylinder mit einer eigenartigen Bewegung,grüßte- kühl und ceremoniell, und nachdem er noch einigeWorte mit Ferdinand gewechselt, schritt er dahin, denKopf hoch, in vornehmer Haltung, ohne sich umzusehen.Die Brandts wollten die Damen nach Hause bringen.Aber die Wittes lehnten ihre Begleitung in so entschiedener,ja ängstlicher Weise ab, daß sie nicht weiter in sie drangen.Was wollten sie auch mit ihnen? Es waren anständigeMädchen, aus gutem Hause. Ein Bedauern über diese That-fache sprach sich in ihren Mienen aus, als sie sich von denDamen empfahlen, um in entgegengesetzter Richtung dahin-zuschlendern..Einmal blickten sie zurück und gerade in dem Augenblickhatte auch Tini sich umgesehen.„Ein fescher Kerl," meinte der Baron und schnalzte dabeimit der Zunge.Tini aber lächelte glückselig in sich hinein. Sie fühlte,sie hatte heute über die albernen Witte Mädeln den Siegdavongetragen.9. Kapitel.Die Unzufriedenheit und Aufregung in Wien, die durchdie Verletzung der Gemeindeautonomie geschaffen wurde,dauerte fort.Sechs Wochen nach der Auflösung des Gemeinderatessollten die Neuwahlen erfolgen, aber sie wurden auf Monatehinausgeschoben.Die Regierung wollte Zeit gewinnen, um die Wahlen inihrem Sinne zu beeinflussen.Es sollte ihr nicht gelingen.Je mehr es Badem sich angelegen sein ließ, den Volks-mann zu diskreditieren, indem er ihn als Aufrührer behandelte.der die kaiserliche Gnade verwirkt hatte, um so mehr nahmsein Anhang zu.Die Wiener waren doch nicht so byzantinisch, als die Re-gierung sich einbildete, und bald standen Lueger und Baden«als die Extreme von Volksgunst und-Mißgunst einandergegenüber.Endlich konnten die Wahlen nicht länger verschobenwerden. Neuwahlen wurden ausgeschrieben und ergaben einglänzendes Resultat, das die kühnsten Erwartungen der Antiweit übertraf.„Sieg Lueger!... Niederlage Badems!"Das Geschrei durchtoste die ganze Stadt: die anti-semitischen Gemeinderäte waren die Herren von Wien.Es folgte nun eine Siegesfeier der andern, sie konntensie in allen Bezirken feiern, und Schönbrunner hatte alle Händevoll zu thun.Er trieb jetzt einen Aufwand von weißer Wäsche, wie nievorher in seinem Leben, und verschwendete viel Geld in Malz-bonbons, weil er vor lauter„Hoch Lueger!" schreien fort-während heiser war.Einmal erzählte er beim Mittagessen den Seinigen vonden großartigen Vorbereitungen, die beim Swoboda im Praterfür die nächste Feier getroffen werden.Für fünfzig Gulden waren allein weiße Nelken bestelltworden zur Dekorierung des Ehrentisches. Als er.merkte,wie seine Frau in atemloser Spannung seinen Ausführungenfolgte, lächelte er gnädig.„Du kannst Dir's ja auch einmal anschauen," und als sieihn verständnislos anstaunte:„Nicht Dir was z'samm', daß D' anständig ausschaust, zurnächsten Siegesfeier nehm' ich Dich mit."