F. W. Tölcke und August Kapell, in Bernau   denselben Streich zuspielen, den Hasselmann hier uns gespielt hatte, und mit dem ziemlich gleichen Er- folg. Das war eben eine der häßlichsten Wirkungen der damaligen Spaltung, daß nur zu oft nach demGrundsatz gehandelt wurde: Gewinne ich nichts, so sollst du auch nichts gewinnen. Am gedachten Abend aber nötigte uns das Schicksal einen eigentümlichen Waffenstillstand auf. Die Versammlung hatte sich so lange hingezogen, daß kein Gasthaus mehr in Bernau   zu haben war, außer dem, wo wir uns herumstritten. Und auch hier war nur noch ein Alkoven frei, der zu dem Zimmer gehörte, in dem Hasselmann und seine Begleiter logierten. So hart es uns ankam, mußten wir uns entschließen, dort zu über- nachten. Von dem Grade der gegenseitigen Verbissenheit aber giebt es eine Idee, wenn ich hmzufiiae, daß wir außer einer kühlen Begrüßung kein Wort mit unfern Zimmergenossen aus- tauschten. Freundlicher gestalteten sich meine Agitationsfahrten nach der gegen eine Stunde Eisenbahnfahrt in südlicher Richtung von Berlin  gelegenen Tuchmacherstadt Luckenwalde  . Dort hatten wir eine sehr rege Mitgliedschaft, und mit den dortigen Genossen im Verein habe ich manche Fahrt über Land gemacht, um die Landstädte des weitausgedehnten Wahlkreises zu beackern. Unvergeßlich ist mir dabei folgende Episode, die ebenfalls in das Kapitel des social- demokratischen Bruderzwistes gehört. Eines Sonntags waren wir unsrer acht oder neun nach Treuenbrietzen   gezogen, das damals noch außerhalb jeder Bahnverbindung lag. Es sollte dort die erste socialistische Ver- sammlung stattfinden, und zwar hatte unser Mann dafür den Saal des Schützenhauses genomnien. Keine sehr kluge Maßregel, denn, wie in ähnlichen Nestern, war in Treuenbrietzen   dieser Saal der Sammelplatz deroberen Zehntausend" des Ortes, den die Arbeiter nie besuchten. Und so war denn auch richtig am Versammlungstage das Innere des Saales von besagten Zehntansend, d. h. etwa 2300 Spießbürgern, besetzt, während eine nicht allzugroße Zahl von Arbeiten: sich ziemlich verlegen an den Wänden herumdrückte. Ich hatte daher das Vergnügen, nach beendetem Vorttage mich mit einigen Philistern auseinandersetzen zu müssen, ohne daß die Arbeiter gewagt hätten, ihrerseits ihre Meinung kund zu thun. Schließlich meldete sich aber doch ein Arbeiter, ein Maurer, den wir Karl nennen wollen, zum Wort, aber zu einem ganz andren Zweck, als wir, die Luckenwalder und ich, vermuteten. Was Ihnen der Herr Bernstein da gesagt hat," Hub er an,ist ganz schön und gut. Aber ich muß Ihnen man bloß sagen, er ist einer von den Eisenacher Ehrlichen. Wir aber vom Allgemeinen Deuischcn Arbeiterverein sind die wirklichen Socialdemokraten, wir sind die Noten." Mit diesem stolzen Pronunciamento setzte sich Karl wieder. Ich hatte mit der Zeit Erfahrung genug gesammelt, um mir im stillen zu sagen, daß mir in diesem abgelegenen Orte der VoA- halt, ein Ehrlicher zu sein, kaum schaden könne, und daß auch die Betonung der Farbe auf das anwesende Publikum keinen tiefen Eindruck machen konnte. So nahm ich den Einwurf ziemlich philo- sophisch hin. Nicht so einer der von Luckenwalde   mit uns gekommenen Genoffen, ein kleiner Weber aus der Rachbarschaft von Chemnitz  , namens Simon. Kaum hatte Karl das stolze Wortwir sind die Noten" verkündet, da hält es unfern sächsischen Freund nicht länger und heftig stieß er im breitesten Sächsisch die Worte hervor: Glauben Sie es ihm nicht, meine Herren, wir sind noch viel röter!" Wie oft ist mir später bei unfern Partcidebatten dies Bild vor Augen getreten. Dort der mit stumpfsinnigen Spießbürgern an- gefüllte Saal, an den Wänden ein noch nicht erwachtes halb- entwickeltes Proletariat, und hier zwei Arbeiter, die vor diesem Publikum streiten, wer von beiden derRötere" ist. Bei manchen Debatten, die wir Ende der achtziger Jahre im Londoner   Arbeitcrbildungsverein mit Anarchisten und sonstigen Socialrevolutionären pflogen, kam mir plötzlich der Gedanke, sind hier nicht auch wieder Karl und Simon in andrer Person? Beide gleich ihrer Sache ergeben, beide gleich begeistert, und beide gleich blind für die Natur der sie umgebenden Menschen. Kamen wir erregt aus den Sitzungen und wandten uns durch Charlotte Street oder Tottenham Court Road dem Soho  -Viertel zu. wie müssig mußte uns im Angesicht der Menschen, auf die man da stieß, unser Streit er- scheinen I Was kam es gegenüber diesem Ocean von Unwissenheit, Vorurteil und Stumpfsinn auf die Nuance im Rot an, die wir ver- traten. Und wie schnell war anderseits der Haß verlöscht, den in den Jahren, von denen ich hier schreibe, Eisenacher und Lassalleaner gegeneinander empfanden. Als ich das zweite Mal nach Treuen- brietzen kam, hatte Karl, wie mir dortige Arbeiter sagten,, die Absicht, kundgegeben, mich gründlich zu verhauen, und die guten Leute hatten sich daraufhin stillschweigend als Schutzgarde für mich konstituiert. Achtzehn Monate später aber flog der Ruf zur Vereinigung ins Land und wurde allerorts mit geradezu elementarer Begeisterung aufgenommen. Ueber die wenigen, die ihn nicht verstehen wollten, oder, wie Hasselmann, seinem Geist zuwiderhandelten, ist die Ge- schichte zur Tagesordnung übergegangen. Karl und Simon aber kämpften fortan Hand in Hand, und wenn sie auch mittlerweile ge- storben fein follten, fo leben sie dennoch auch heute noch fort. Eduard V e r n st e i n. Kleines Feuilleton. C. Ein Bcrgstcigerrckord im Himalaja  . Die Bergsteigerin Mrs. Bullock Workmann hat im Sommer 1903 auf ihren Touren in, Nordwesten des Himalajagebirges zwei neue Gletscher aufgefunden, die sich nördlich vom Bralduthal hinziehen, und von dem Chogo-, Loongma-Gletscher nach Westen hin einige bis dahin noch unbekannte! Spitzen erstiegen und dabei eine Rekordleistung vollbracht, die siq selbst in einem Aufsatze desWide World Magazine" schildert. Sie und ihr Mann waren von drei italienischen Führern begleitet. Dag Lager, von dem aus sie ihre Besteigungen unternahmen, lag an den, Gletscher in einer Höhe von 14 Meilen aufwärts auf dem Abhang eines Felsengebirges, das den gewaltigen Felsen- und Schneerieseni vorgelagert war, die an der Vereinigung der Chogo-Loongma mih dem Haramosh  -Gletscher sich emportürmen. Ein tolles Unwetter� Schnee- und Regenschauer mit Nebel und kalten Stürmen, sucht« die Gesellschaft in diesem Lager heim, und sie mußte zwei Wochen warten, bis eine Aenderung eintrat, um dann den Marsch nach den, unerforschten Gletscher im Westen anzutreten. Ein s paler Winten lag noch auf den unendlichen Schneemassen, und die rasenden Juli-, stürme brausten über die weichen, schon leicht aufgetauten Flächen� Die Reisenden hatten Schneeschuhe an, durch die ihnen das Gehen auf dem nassen, nachgebenden Schnee erleichtert wurde, doch di« Kulis, die die Zelte und den Proviant trugen, sanken tief in di« kalte, hemmende Masse ein. Man wandte sich nach dem Lager zurüch, und erst nach einigen weiteren, gleichsam tastenden Ausflügen untj Proben begann am 9. August der eigentliche große Marsch mit den Führern und einer Begleitung von 18 Kulis, die die gesamte Aus-, rüstung trugen. Diese Kulis sind ein stetes Hickdernis für den Be-, steiger des Himalaja  , da ihre Furchtsamkeit und Beschränktheit häufig das Vordringen unmöglich macht. Man sagte ihnen daher nichts von den weitgehenden Absichten, sondern belud sie nur mit Proviant und Holz für drei Tage. Die Gesellschaft überschritt den Chogo-> Loongma-Gletscher, marschierte dann an den Abhängen eines Berges! entlang über den Basin-Glctscher, bis man das erste Lager in, Schnee und Eis in einer Höhe von 16 350 Fuß aufschlug, im An-> blick einer ungeheuren von Schnee bedeckten Bergspitze. Früh am andern Morgen begann der Aufstieg in Zickzacklinien, die die Führen bezeichneten, den Abhang hinan. Um 8 Uhr war man auf einem Vorsprung angelangt, der, von Schnee und Eis bedeckt, einen Platz für ein Frühstück darbot, wo man auf die Kulis wartete, die eine halbe Stunde später murrend ankamen, denn sie waren kr./.Tief in den Schnee gesunken. So mutzte der zweite Führer losgeseilt und zurückgelassen werden, um sie zu ermutigen und ihnen zu helfen, Als sie aber über den Vorsprung hinaus waren, mußten sie vor-, wärts; auf der steilen Lehne im Schnee konnten sie sich nicht �nieder» werfen und so keuchten sie denn nach, während heller Sonnenschein auf der Weißen Fläche glänzte, von dem Führer stetig angefeuert. der alle zwei Minuten seinVorwärts, vorwärts!" rief. Dann schlug man 18 800 Fuß hoch das Lager auf, das weite, glänzende! Schneemcer des Gletschers auf der einen Seite und einen auf-, ragenden Wald wolkenumhüllter Gipfel auf der andern. Nebel flutete heran und Schnecschauer rüttelten an den kleinen Zelten, wis wenn ein Unwetter drohe, doch da das Barometer ziemlich hoch stand» blieb man guten Mutes. Der dritte Morgen stieg mit kalter Klar- heit auf; im blaugrauen Dämmerschleicr grüßten ernst und majestätischj die ewigen Höhen. Die Reisenden brannten auf den Weitermarsch, aber die Kulis lagen schnarchend in den Zelten und ließen sich mit Mühe zum Aufstehen bewegen. Während des Tages wurde dis Widcrwilligkeit und die Schlaffheit der Kulis noch größer, so daß sie schließlich trotz hoher Gcldversprechungen nicht mehr vorwärts zu bringen waren. Einige waren erkrankt und lagen wie tot; die andern weigerten sich trotzig. So mußte man denn allein weitev zu kommen suchen; vorläufig brachte man die Nacht in einer Höhe von über 19 000 Fuß zu. Mrs. Workmann klagt, daß man wegen der dünnen Luft keine zehn Minuten hätte schlafen können, ohn« wegen Atemnot aufzuwachen und mühsam nach Luft zu ringen« Früh um drei Uhr brachen die kühnen Kletterer von neuem auf beb hellem Mondlicht und bei einer Temperatur von 15 Grad Fahrenheit und klommen aneinandergeseilt im Zickzack die starke Steigung hinauf» die fast senkrecht sich aufreckte. Die mondumleuchteten Eismasseu warfen flimmernde und blendende Lichter her und woben eine geister» Haft bleiche Atmosphäre über die Wanderer, deren verschlungene« Weg sich hier und da auf einem engen Grat an Abgründe drängte» die sich viele tausend Fuß tief wie ein Schlund des Todes aufthatew» Es war bitter kalt in dem matten Licht und besonders fror man an den Füßen, während die Hände durch dicke Handschuhe geschützh waren. In einer Höhe von 21 000 Fuß waren die Füße völlig ab-, gestorben, und man mußte sich gegenseitig mit den Eisäxten an dis Füße schlagen, bis man ein Zwicken und Stechen empfand. Imme« höhere Spitzen erhoben sich schemengleich in der blassen Beleuchtung. eine Welt schattenhafter Giganten, die noch nicht zum Leben erweckt in ewiger Ruhe schliefen. Da schoß in diese ungewisse Dämmerung eine plötzliche Lichtgarbe; gelbgetönte Schleier flogen über der, Himmel, und hinter den Bergen flimmerten rosige Wölkchen. Da verloren die Gipfel ihre fahle und unheimlich tote Gestalt; in warme Farben und helles Leben getaucht flammten die blassen und starren! Schneefelder auf; mit Gold die Felsen umstrahlend zog die Sonne empor im Triumph. Es blieb trotzdem ziemlich kalt, 16 Grabt Fahrenheit, und die Müdigkeit, die schwächende Wirkung der dünnen Lust ließ die Wanderer langsam und schweigend weiterziehen, bis man den Gipfel von 21 500 Fuß erreichte, der 500 Fuß höher, ist