Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 153.
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Freitag, den 5. August.
( Nachdruck verboten.)
Im Vaterbause.
Socialer Roman von Minna Kautsky .
Die Fahrgäste wechseln. An der Hungelbrunngasse hält der Wagen, die letzten Passagiere, außer ihr, steigen aus, Luise fährt weiter.
Unfähig zu jeder That, hat sie nur mehr einen Gedanken, nur eine Sehnsucht, zu sterben.
Der Wagen hat die ehemalige Mazleinsdorfer Linie er reicht, er unterfährt den Viadukt der Südbahn , um zunächst dem Portale des evangelischen Friedhofs in die Triesterstraße einzubiegen; da wird die Glocke von innen gezogen.
Der- Wagen hält, Luise verläßt ihn.
Das Gitterthor des Vorhofs, der zur Begräbnisstätte führt, steht offen. Sie tritt ein; der Vorhof ist leer.
Graue Dämmerung breitet sich über den weiten Play, auf welchem zur Linken der schöne Kuppelbau der FriedhofKapelle in dunkler Massigkeit sich erhebt.
Rote Wolkenreflere der schon untergegangenen Sonne Lassen den obersten vergoldeten Knauf der Kuppel feurig aufLeuchten, im nächsten Augenblick zeichnet auch dieser sich schwarz von dem zart gefärbten Himmel ab.
Jedes Licht ist erloschen, eine große Ruhe ringsumher, die voll Sehnsucht ist und voll Geheimnis.
Luise wanft durch den Hof dem zweiten Gitter entgegen. Dahinter ragen die schwarzen schlanken Cypressen empor. Trauernde Weiden und niedere Tujen umgeben in Gruppen die Leichensteine aus weißem Marmor, die aus dem Dunkel ihr aufdringlich grell entgegen schimmern. Dorthin geht ihre Sehnsucht: zur Mutter.
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1904
Der rauhe Wind, der den Tag über geherrscht, hatte sich gelegt, die Luft war von ungewöhnlicher Milde, sie wehte sanft, wie liebkosend, um ihre Wangen und fühlte die heißen Augen. Das that wohl. Unwillkürlich schöpfte sie tiefer Atem. Ein feuchter, frischer Erdgeruch drang ihr entgegen, es war März, und er war mit dem Duft der ersten Veilchen geschwängerf Balsam für ihre wunde Brust. Als sie langsam die Augen aufschlug, stand gerade vor ihr, im dunklen Aether, die Sichel die Ahnung der vollen Scheibe erhielt. Sie war da, stand nur des aufgehenden Mondes. Und so rein war die Luft, daß sie im Schatten der Erde, aber mit jedem Tage wird sie mehr aus ihr hervortreten, bis sie in voller Kraft am Himmel erscheint. und dieser große funkelnde Stern in der Nähe des Mondes zitterndem Glanze er in ihre Augen... schön! war wohl der Jupiter. Aus den unendlichen Fernen drang in
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in den niederen Büschen ein leises Rascheln Sie schaut und fühlt und horcht, denn dicht hinter ihr fie hört es springen von Zweig zu Zweig. Ein Vogel ist's, der noch wach Amsel, fie fennt ihn. In stürmischem Lebensdrang beginnt ist. Srii Trent- Trent erschallt es, es ist der Lockruf der die Amsel noch einmal ihr melodisches Lied.
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nichts weiß von der Angst und dem Kummer der Menschen. Es klingt süß und hell, in unermeßlicher Fröhlichkeit, die uiſe ſteht wie gebannt, sie horcht noch immer, nachdem der Vogel schon längst verstummt ist.
strömt der Wohlgeruch von tausend Blütenknospen mit dem Aus dem verschlossenen Garten, in dem die Toten ruhen, Abendwind über sie hin: Frühlingsbotschaft!
Ihre junge Brust, die unter den folternden Schmerzen und voll und dieses Atmen allein wird zur Wonne, zur Luft. sich zusammengeframpft, erweitert sich, sie atmet wieder tief Schlüssel klirrt in seiner Hand. Es nahen Schritte. Ein Mann kommt heran, ein Bund Er hat sie bemerkt und ungehalten ruft er ihr zu, was sie
da
mache.
Mit Ton und Geberde weist er sie hinaus.
Den ganzen Tag stehe der Friedhof offen, bei Nacht wollen armen Seelen auch ihre Ruhe haben. Und ich die meinige," fügte er grob hinzu.
die
Auf ihrem Grabe will sie sich ausweinen- bis zur Erschöpfung ihr mattes Herz wird dem Tod keinen Widerstand Leisten, und wenn sie den Morgen doch noch erlebt, so wird ein tödliches Fieber in ihrem Blute kreisen. Man wird sie in ein Spital bringen, da können die armen Leute umsonst sterben... stimmt. Ungeschickt, nicht rauh, faßte er sie am Oberarm und Als er ihr ins Gesicht schaute, fühlte er sich milder geEs ist die letzte Wohlthat, die sie erhofft. Sie findet das Gitter verschlossen; sie steht bestürzt da. führt sie dem Ausgang entgegen, das eiserne Thor rasch hinter Dann beginnt sie daran zu rütteln, heftig und immer heftiger ihr abschließend. ... umsonst, das Schloß widersteht ihr.
Da erfaßt sie Verzweiflung. Sie stöhnt auf, wild und fassungslos, als wäre ihr das letzte genommen, versagt die einzige Rettung. Was soll sie thun wohin soll sie sich wenden wie soll sie leben!!
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Ihre Hände sinken herab die Knie brechen zusammen, der Kopf neigt sich vorwärts. Die heiße Stirn gegen die kalten Steine des Unterbaues gelehnt, bricht sie im Gefühl ihrer vollständigen Ohnmacht und Hilflosigkeit in Thränen aus. Sie weint heiß und bitterlich. Es sind Thränen unendlichen Mitleids mit sich selbst.
31. Rapitel.
Quise blieb einen Augenblick stehen mit schlaffen Armen und versiegelten Lippen, wie im Traume, dann ging sie vor wärts, ohne sich Rechenschaft zu geben, wohin.
Eine weite Avenue breitete sich im Scheine der Gaslaternen, die in regelmäßigen Abständen, gleich aufgereihten Sternen, ihr entgegen funkelten, vor ihr aus: die neue Gudrunstraße.
Um diese Stunde, wo die Fabriken geschlossen wurden, brandeten die Wogen des Verkehrs auch an dieser äußersten Sie weint um ihre frohe und frische Jugend, um ihre Peripherie von Großwien. Neben den vollbesetzten Wagen Ideale, um all das Schöne, das sie gläubig im Herzen ge- der Straßenbahn fuhren die Fahrräder, hier und da ein Lasttragen Zertreten dies alles... für immer dahin.... wagen, schwer mit Ziegeln beladens Die Kutscher sangen oder was bleibt ihr noch? Sie fühlt sich so arm, so schrecklich arm, schimpften und knallten laut mit der Peitsche. losgerissen vereinsamt!-
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Und sie weint, wie Unschuldige weinen, die reinen Herzens sind, und doch verfehmt sie weint die Thränen, die Millionen weiblicher Wesen weinen, die in der Enge des Vaterhauses erzogen, beschränkt in allem, nichts können, nichts wissen, die in der Unterwürfigkeit und Abhängigkeit von dem Manne Ziel und Zwed ihres Lebens erblicken, und nun plöglich, in den Kampf ums Dasein geworfen, in einer von den niedersten Trieben erfüllten Gesellschaft, ohne Halt, ohne Stüße sich finden.
Erschöpfung ließ auch diese Thränen versiegen. Sie versucht, sich aus ihrer zusammengekauerten Stellung zu erheben, die Glieder wollen versagen. Mühsam richtet sich die schlanke Gestalt an dem Gitter empor, und während sie sich mit der Hand an den Stäben hält, lehnt sie den Kopf nach rückwärts und verharrt so, die Lider gesenkt, bis Wille und Kraft zu weiterer Bewegung sich einstellt.
Es war völlig Nacht geworden.
Ueber dem Viadukt der Südbahn donnerte ein Schnellzug. Die Bürgersteige waren mit dahinhastenden Menschen erfüllt, Männer und Weiber, die, aus der Arbeit kommend, ihren Wohnstätten zueilten oder eine der kleinen Wirtschaften aufsuchten, an denen in diesem Proletarierviertel fein Mangel war.
Viele der Weiber aßen von dem Brote, das sie zum Abendimbiß gekauft hatten, schon auf der Straße.
Luise bemerkte es, der Hunger ließ sie aus ihrer Unbewußtheit erwachen, der Anblick des Brotes steigerte die nagenden Schmerzen in ihrem Magen zur Unerträglichkeit. Seit dem frühen Morgen hatte sie nichts zu sich genommen. Sie blickte um sich, ob sie nicht einen Raden erspähe, der EBwaren feil hielt.
An einem Eckhause baumelte ein Wirtshausschild. Es war ein ebenerdiges, etwas verlottert aussehendes Lokal, dessen erleuchtete Fenster noch in das Nebengäßchen gingen. Sie waren verhängt, aber eine zwischen ihnen angebrachte Inschrift