Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 172.
DIG 17]
Die flucht.
Donnerstag, den 1. September.
( Nachdrud verboten.)
Von K. Bagrynowski.
In der Stadt und in den benachbarten Ebenen war der Schnee verschwunden, aber Wälder und Berge waren noch mit einem weißen Mantel zugedeckt. Angesichts der tiefverschneiten Berggipfel durfte noch an feine Reise gedacht werden. Hauptsächlich mußte der Aufbruch aufgeschoben werden, weil es noch kein Futter für das Pferd gab. Die hellgrünen jungen Gras hälmchen wagten sich kaum aus der kalten Erde. Jetzt konnten sie jedoch ruhig warten. Das Eis auf den benachbarten Seen war mürbe und mit tiefen Rissen bedeckt, die Winterwege, die darüber führten, verschwunden, und die Sommerstraßen waren noch unbrauchbar, denn die Flußbette, die Hohlwege und Schluchten waren voller reißender, schäumender Bäche. Und wer in das verräterische Netz der steigenden Gewässer geraten war, der mußte, abgeschnitten von der Welt, auf hohen trockenen Hügeln von den Wassern belagert, oft wochenlang warten, bis der Weg frei war. Dann litten die Menschen Hunger und Kälte, ein Pferd fiel nach dem andern, und für gewöhnlich wagte es weder die Post, noch ein Bote, die Menschenwohnungen zu verlassen, in denen sie das Tauwetter ereilt, und in das Labyrint von Bächen und Seen vorzubringen.
Die Nacht war vorbei. Morgen- und Abendrot folgten einander auf dem Fuße, wie die Flügelschläge eines Vogels. Am Horizont war der rote Schein von einem wunderbaren Nimbus von rosigen Nebeln umgeben, im Zenit aber glänzten funkelnde Sterne. Und die Nächte waren lautlos, denn mit Sonnenuntergang hörten die Winde auf zu wehen, die kleinen Bäche verstummten vor Kälte, die größeren aber dämpften ihr Brausen. Die Vögel verkrochen sich im Röhricht, und nur die Gänse, die auf den Sandbänken übernachteten, schnatterten leiſe.
Wenn die Sonne aufging, war es, als berühre eine Hand vielstimmige Saiten: alles erwachte zu heißem übersprudelndem Leben. Auf der Erde setzten die filbernen Bäche ihre Wanderung plätschernd fort. Vergessene Schnee- und Eisreste schmolzen. Aus dem Schlummer geweckt, sang, schrie, tämpfte die Vogelwelt, als wollte sie, des langen Winters eingedenk, Freude, Leid und Liebe bis auf die Neige auskosten. Bitternde, sanfte Winde brachten immer neue unzählige gefiederte Scharen vom Süden herbei, die Luft war überfüllt von den flüchtigen Gästen, die ängstlich daherflogen, wie eine Handvoll Blätter, die ein unsichtbarer Sturm vor sich hertreibt. Trotzdem behielt jede Gattung die ihr eigne Schwarmbildung und ihren eigentümlichen Flug. Die weißen Schwäne flogen in langer Reihe niedrig über der Erde, daß es aussah, wie Schnüre großer Perlen. Die Gänse bildeten einen spizzen Winkel und schnatterten ohne Unterlaß. Die Enten schlangen unruhige bewegliche Kreise, einem Rosenkranz gleich, den eine mächtige Hand in den Aether geschleudert, oder sie flogen in dichtgedrängten, lärmenden, flachen Scharen vorüber. Die kleinen Vögel zogen regel- und führerlos ihren Weg. Vor dieser Frühlingswoge, die von Wärme, Feuchtigkeit und Leben überströmte, flohen Tod und Schnee, von der Sonne gehegt, vom Wasser bedrängt gegen Norden; in ihrem Gefolge aber brachte sie zierliche krause Wölfchen, der gelbe„ Niurgussun" blühte auf den Wiesen und am Waldesrand, der samtne Rasen schillerte sanft, die Lärchen bedeckten sich mit goldig- grünem, duftendem Flaum, und der Sommer fündigte seine heiße Herrschaft an.
Eugenie, die den arktischen Frühling zum erstenmal in ihrem Leben sah, war bezaubert von seinem überströmenden Leben. Ihr Herz strebte den leichtbeschwingten Vögeln nach, und voller Neid dachte sie an die vier Menschen, die bald fortziehen sollten.
Endlich barst auch das Eis auf dem Flusse mit lautem Krachen. Und bald darauf machten sich die Verbannten auf den Weg. Die Nacht war nicht mehr rosig, sondern golden, denn die Sonne ging nicht mehr unter. Das Städtchen schlief in den grauen Wolfen der Rauchkessel, die vor jedem Hause glommen. Woronin stand Wache auf dem Dache, während Krassusti
1904
das Gepäck vorsichtig aus der Schmiede holte und es durch die Sträucher an den See brachte, an dessen Ufer ein kleines Boot schaukelte. Der langgestreckte See schlummerte schwarz und unbeweglich im grünen Rahmen des Lärchenwaldes. Unzählige Mücken tanzten über dem Boote und stachen die arbeitenden Menschen unbarmherzig. Ein Schwarm begleitete Krassuski stets bis an die Jurte und erwartete ihn dort mit blutgierigem Gesumm. Aber der Jüngling, den die Vorsicht und Eile erheischende Arbeit ganz in Anspruch nahm, fühlte ihre Stiche nicht. Große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, denn das Gepäck war in große, schwere Ballen gebunden. Er atmete erst auf, als er sich im Boote niedersetzte und es mit dem Doppelruder abstieß. Woronin ging in der Richtung des Städtchens fort, um die Gegend auszufundschaften, denn nur von jener Seite her konnten sie von zufällig vorbeigehenden Leuten bemerkt werden. An der andern Seite erstreckten sich unzugängliche Sümpfe und Gewässer. Im Schutz der herabhängenden Bäume und des niedrigen Röhrichts führte Strafsuski das Boot mit leisen, aber fräftigen Ruderschlägen vorwärts. Er gelangte glücklich ans Ende, wo eine schmale, mit spärlichem Weidengesträuch bewachsene Landenge den See von dem Hohlwege trennte, der zum Flusse führte. Hier sollten ihm Alexandroff und Niehorski erwarten, aber sie waren nirgends zu erblicken. Auch Woronin war verschwunden, denn der Sumpf zwang ihn, einen Umweg zu machen. Krassuski wartete eine Weile; dann ließ er einen langgezogenen Pfiff ertönen. In der Nähe antwortete ihm ein andrer, aber noch immer fam niemand zum Vorschein. Er stand also im Boote aufrecht und lauschte, ans Ruder gelehnt, als plöglich Niehorski aus dem seitwärts stehenden Gesträuch auftauchte.
,, Es ist überall sumpfig hier herum. Wir können das Pferd nicht an den See bringen. Die Sachen müssen wir selbst hinübertragen und das Boot mitziehen."
,, Ach, das wird viel Zeit kosten, und im Städtchen kann's jeden Augenblick lebendig werden."
,, Samuel, Pietroff, Arkanoff werden uns helfen..." ,, Also sind sie da? Alle?"
Niehorski nickte. In Krassuskis Gesicht zuckte es nervös, er bückte sich schnell und hob ein mächtiges Bündel auf. Sie brauchten sich hier nicht in Acht zu nehmen, wie mitten in der Stadt, aber die aufgeweichte Erde, das Wasser ringsherum legten ihnen Hindernisse in den Weg, und die Eile machte sie nervös. Und jeden Augenblick konnte sie irgend ein Jakut, ein Wanderer, ein Mädchen aus der Stadt überraschen, die eine verirrte Sub suchten oder einfach sehen wollten, was der ungewöhnte Lärm bedeute. Das war umso wahrscheinlicher, als Die Fischer gewöhnlich diesen Weg nahmen, um an den Fluß zu gelangen, denn hier war er am nächsten und bequemſten. Alle Verbannten, Gliksberg mit einbegriffen, machten sich daran, die Sachen in aller Eile hinüber zu schaffen, aber außer Alexandroff und Krafsuski war niemand im stande, einige der Ballen von der Stelle zu bewegen. Der erstere mußte jedoch den Schimmel halten, denn die hastigen Bewegungen der Menschen machten ihn scheu, er zerrte am Zügel und bäumte sich, der andre hatte das Boot ausgeladen und versuchte es aus dem Schlamme zu ziehen.
,, Laßt alles liegen und stehen und helft mir, zum Teufel!" rief er ungeduldig, denn die unzähligen Mücken machten ihn nervös; die Hilflosigkeit der Menschen machte sie fühn, sie tanzten in der stillen Luft summend um ihn herum, blendeten seine Augen und ließen ihn kaum atmen.
Als sie das Boot endlich mit vereinten Kräften aus dem Röhricht des Sumpfes auf einen freien Platz gezogen hatten, riet Krassusti eine Schlinge aus dem Lasso zu machen, und Alexandroff spannte das Pferd vor den Kahn, in dem das zurückgebliebene Gepäck untergebracht wurde. Der Schimmel zog frisch an, aber als er die würgende Schlinge am Halse ver spürte und das Knarren des hinter ihm gleitenden Fahrzeuges hörte, sprang er schnaubend zur Seite, schlug aus und knickte die Zweige um sich. Strafsuski konnte sich kaum beherrschen, er zerrte gewaltsam an der Leine und seine Hand fuhr von Zeit zu Zeit an den Gürtel, von dem sein Messer herabhing. Da erblickte er von der andern Seite Eugenie, die ganz bleich vor Schrecken war. Ganz von seiner Arbeit in Anspruch genommen, hatte er nicht einmal Zeit gehabt, ihr einen Gruß zu bieten. Jetzt zudte er beim Anblick ihrer weit geöffneten