Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 192.
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1672
Die flucht.
Donnerstag, den 29. September.
( Nachdrud verboten.)
Von K. Bagrynowski.
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Das verbrecherische Individuum behauptete, die Amerikaner haben Kanonen, deren Geschosse fünfzig Werst weit fliegen; das ist zwar unglaublich, aber in jedem Falle können sie einen Ueberfall planen, da sie die Unzulänglichkeit unsrer Garnison und die Blindheit und Beschränktheit des sprawnik kennen gelernt haben, der die Feinde von Thron und Altar bei ihren Streitigkeiten mit den ruhigen Bürgern stets unterstüßt. Einer von ihnen, Ticherewin, führt das große Wort im Krankenhause und beherrscht den Bezirksarzt vollständig; Samuel, ein andrer, thut jetzt beim Isprawnif, was er will, und geht darauf aus, fich der Polizei und der ganzen Verwaltung zu bemächtigen. Das kann zu dem Streben führen, die ganze Provinz loszureißen und einen selbständigen Staat auf amerikanische Art zu gründen. Wenn das nicht gelingen sollte, wollten sie so erzählte Mußja sich in die am Ufer zurückgelassenen Tupfernen Boote einschiffen, ein sie erwartendes amerikanisches Dampfboot besteigen und auf und davon segeln. Und uns find die Hände gebunden, wir können weder das Verbrechen rechtzeitig vereiteln, noch die Intriguen der Ausländer bloß stellen, denn wir haben weder Waffen noch Munition. Und felbst gewaffnet fönnten wir nichts thun, denn der Isprawnik ist für den Frieden und behauptet, die Polizei sei nicht zum Kriegführen da. Unfre einzige Hoffnung bleibt der Adjunkt des Isprawnik, aber was kann dieser treue russische Mann und Patriot auf einem untergeordneten Posten thun, überhäuft von Arbeit, wie er ist, indem er sowohl seinen eignen Obliegenheiten, als auch ungerechterweise denen des Jsprawnik nachkommen muß? Was edle Bürger der Stadt und treue Unterthanen bestätigen können, als da sind: Iwan Jwanitsch Kosloff, Warlaam Warlaamowitsch Diakonoff, der Jakut Tas , der Feldscher Fiodorkin, der Schreiber Denisoff, der Popensohn Panteleon und viele andre, wie auch der Herr Adjunkt selbst, so weit er es über sein edles Herz bringen könnte, das immer voller Schonung für seine Vorgesetzten ist."
Das sorgfältig versiegelte anonyme Schriftstück wurde vom Adjunkten eigenhändig in das Futter einer Hafenfell decke eingenäht, die ein Kosak am andern Tage als ein Geschenk des Adjunkten für einen seiner Freunde in die Gouvernementshauptstadt mitnehmen sollte. Dieser aber wußte schon, was er darin suchen und. was er mit dem Funde thun sollte.
12.
Eines Morgens, bald nach der Abreise der Amerifaner, verließen Niehorsti und Krassusti heimlich Dschurdschni und schlugen einen Pfad ein, der durch das dichte Gebüsch über Burumut zu Herrn Jan führte.
Mit dem Städtchen war auch jeder farbige Fleck verschwunden, und so weit sie sehen konnten, war alles weiß. Ueber dem fleckenlosen Schnee, der die Erde bedeckte, lagerten eifige Dünste; aus diesen tauchten bereifte Bäume und Sträucher auf, wanden sich knorrige Aeste ans Licht und strebten zerzauste Halmgarben empor, die mit eisigen Nadeln wie mit blizenden Härchen bedeckt waren; hier und da streckte Weidengebüsch seine spizen Gerten wie Stacheln aus, und all das war vom Eis weißgefüßt, vom Schnee mit gefiederten Krystallen übersät worden, daß es aussah wie lichter, flüchtiger Rauch, der plößlich in der Luft erstarrt und hängen geblieben ist. Sie verfolgten einen weißen Tunnel, den ein kaum ertennbarer, blaßgelber Pfad durchs Dickicht geschlagen hatte. Ueber ihnen zitterten feine Eiskrystalle, die der Luftstrom bei ihrem Durchgang bewegte, und der Schnee hing in weichen Flocken bis an ihre Müzen herab. Durch dies zarte Gewebe schien der bleiche Himmel eines arktischen Wintertages, an dem kaum sichtbare Sterne in mattem Glanze flimmerten. Bald hatte der Reif, der sich an ihren Belzkleidern anfetzte, die Wanderer den weißen Waldgespenstern um sie her gleich gemacht. Sie schritten rüstig aus, denn sie wollten noch heute in die Stadt zurückkehren. Ihr Atem gefror an Bart
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und Wimpern zu kleinen Eisperlen, oder fiel in Gestalt vont Schnee auf ihre Brust. Sie mußten nahezu eine geographische Meile zurücklegen und das enge Flußthal überschreiten. Als fie am Rande desselben angelangt waren, wehte es falt, wie aus einem Keller zu ihnen herauf. In der tiefen Schlucht, die von abschüssigen Lehmwänden eingefaßt war, wand sich das weiße Band des Flusses trübselig durch den dichten Dunst. Sie blickten nach Norden, wo sich der Fluß mit einer scharfen Biegung zwischen den Bergen verlor, und es war ihnen, als sähen sie hinabströmendes Wasser, das auf seinem eiligen Lauf zu Stein erstarrt wäre.
Fühlst Du nicht eine wunderliche Sehnsucht im Herzen, wenn Du diesen Fluß ansiehst- einen übermächtigen Drang, auf und davon zu gehen, in die Ferne zu schweifen? Ach, wäre doch der Frühling erst da, fäßen wir doch erst in unserm Boote! Und doch wäre das erst der Anfang!" sagte Niehorski. Krassusti sah den Freund erstaunt an.
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„ Es wird alles gut gehen! Wir werden alles ertragen. Auf dem Boote kommt es weniger auf Muskelkraft, als auf Kaltblütigkeit und Mut an. Wenn nur Jan einwilligt." Und willigt er nicht ein, dann denken wir etwas andres aus," antwortete Niehorski in seinem alten energischen Ton. Eine Zeitlang mußten sie an den Ufern des Flusses entlang gehen. Um der furchtbaren Kälte zu trogen, die durch die dicken Belze bis an ihren Körper, bis in die Lungen drang und sie wie im Fieberfrost erschauern ließ, suchten sie so schnell wie möglich zu gehen.
Aber trotzdem es so kalt war und sie Eile hatten, blieb Nieborski stehen, als sie durch eine enge Felsspalte ans gegenüberliegende Ufer kamen. Er maß die kleine Lichtung, die von dichtem üppigen Weidengesträuch umwachsen war, mit prüfenden Blicken.
bis
,, Also diese Bucht hast Du zur Werft bestimmt?" Krassuski nickte.
,, Sie ist ausgezeichnet; aber kommt der Fluß jedesmal hierher, wenn er steigt?"
Das weiß ich nicht. Wir müssen Jan danach fragen." Ueber die sanfte Uferböschung gelangten sie auf einem Pfade, der sich zwischen dem Gebüsche schlängelte, auf die großen Wiesen von Burunut. Der Berg, an dessen Fuße Jans Jurte stand, versperrte die Aussicht, wie ein großer SchneeHaufen. Hinter ihm sahen weiterliegende Gipfelreihen hervor und große Massen von toten, weißen, düsteren Bergen. Auf ihren Höhen und Vorsprüngen lag der blaẞrote Schein des sterbenden Tages, während ihr Fuß und die tiefen Klüfte in graue Dünste gehüllt waren.
Dürftige Wälder bedeckten die Abhänge mit schmächtigen, wie Borsten aufragenden Bäumen. Inmitten dieser starren öden Landschaft machte der Rauch, der über Jans Hütte schwebte, über der einzigen Menschenwohnung weit und breit, einen unsäglich traurigen Eindruck. Sie fanden Jan in der Nähe des Hauses; er kehrte ganz mit Schnee und Eis bedeckt und bis an die Augen in das Tuch seiner Frau eingewickelt, von den Bergen heim. Unter dem Arme schleppte er ein paar zerbrochene Hasenfallen. Er rief sie mit einem Kuckuck" an, das dumpf aus dem Tuche hervordrang, und stäubte sich den Reif mit seinen ungeheuren Pelzhandschuhen von den Kleidern.
,, Kriecht ins Haus, denn es ist falt!" rief er ihnen zu. Ich komme gleich, will nur der Kub zu trinken geben." Die Frau empfing sie mit einem ziemlich ſauren Gesicht. " Herr Jan ist in der Tajga !" sagte sie in gebrochenem Russisch.
Er ist schon wieder da, wir sind ihm begegnet."
Die Augen der Frau leuchteten auf, sie setzte das Kind, das sie auf dem Schoße hielt, aufs Bett, und legte einige Stücke Holz ans Feuer. Als Jan eintrat, sah sie ihm gierig auf die Finger.
,, Nun... Hast Du wieder nichts?" fragte sie enttäuscht. „ Na, das ist uns doch nichts Neues. Die Hasen lassen Dich grüßen! Die sind nicht so dumm und stecken den Kopf bei dieser Stälte in die Schlingen. Es ist zu falt, um in der Luft zu hängen; im Sommer, da ist's was andres, da schaukelt man sich erst nach Herzenslust und fuchtelt mit den Läufen um sich, ehe man tot ist. Ich hätte keine Schlingen legen, sondern Bogenfallen stellen sollen, aber ich hab' nur zwei