Unterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 214.

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Sonntag, den 30. Dtober.

( Nachdruck verboten.)

Der Alte vom Berge.

Roman von Grazia Deledda  .

Nach dem Essen gingen Zio Pietro und Melchior unter die Bäume, um ihre Mittagsruhe zu halten. Der Alte legte fich die Mütze unter den Kopf und den Stock zur Seite, vom Waldesrauschen eingewiegt, entschlummerte er bald. Ein Sonnenstrahl fiel auf seinen Rücken und der Luftzug bewegte das weiße Haar: er sah aus wie ein alter Heiliger, der in jener tiefen Einsamkeit ruhte. Melchior lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf, und betrachtete seinen Vater. Schlafen fonnte er nicht.

Durch das Rauschen der Bäume erklang der helle Ton der Ziegenglocken und dann und wann der Schrei eine Elster. Melchior fand keine Ruhe. Paskas Lachen verfolgte ihn, lockte ihn hinauf zu der Laubhütte bei der Kirche, wo sie vielleicht jetzt, mit zurückgeschlagenem Kopftuch und erhitztem Gesicht das üppige Mahl für ihren Herrn bereitete.

Ein heftiges Verlangen erfaßte ihn, hinaufzugehen und sie mit sich zu nehmen.

Wenn es nicht um den da wäre! dachte er und blickte auf den Sonnenfleck, der sich langsam vom Rücken des Alten zum Naden bewegte.

Am Vormittag hatte er zweimal die Kirche umkreist; zuerst voi weitem, sich einredend, daß er einen befreundeten Hirten aufsuchen wolle; das zweite Mal dem Anziehungspunkt so nahe, daß er das alte Kirchlein sah.

Er hatte die Stimmen der Weiber gehört, die am Brunnen Wasser schöpften. Zwischen dem Gestein und den gelben Gräsern hatte er einen städtisch gekleideten Senaben mit schwarzen Strümpfen gesehen, der mit seiner Müge nach Heu­ schrecken   warf, und wenn er eine gefangen hatte, sie einem Fleinen, zahmen Falken brachte. Der Falfe saß wartend auf einem Stein und folgte dem Knaben mit seinen runden, gelben Augen; wenn er eine Heuschrecke bekam, faßte er sie mit seiner Kralle und führte sie zum Schnabel.

Melchior hatte einen wilden Blick auf den Knaben, den Falken, die Kirche geworfen und die Augenbrauen in die Höhe gezogen, als ob er seinen finsteren Blick bis an den Horizont hinaussenden wolle.

Dann war er zu seinem Vater zurückgekehrt.

Er kehrte sich auf die Seite und blickte auf die jetzt von der Sonne beschienenen Löckchen Zio Pietros. Schließlich überkam ihn ein förperliches und seelisches Wohlgefühl.

Ich bin wirklich toll! dachte er. Habe hundert Ziegen. bin jung, gefund, ein ehrlicher Sterl. Welches Mädchen würde mich nicht wollen? Ich pfeife auf meine Base und auf ihre verliebten Herrchen. Mögen sie zum Teufel gehen! Und mun mach ein Ende, Melchior; siehst du nicht, daß du so dumm wirst wie ein Stock? Auf einmal aber fingen seine Schläfen an zu flopfen und es wurde ihm glühend heiß. Durch das Surren der Bäume drang bald leiser, bald lauter der helle zitternde Ton einer Flöte. Melchior erhob den Kopf, um besser zu hören. Vom Lufthauch getragen, kam der silberne Klang daher, wie die Stimme einer Nachtigall, die durch den Wald flatterte, und wenn das Rauschen weniger stark war, vernahm er auch den dunkleren Ton einer Gitarre.

Das waren sicher die jungen Herrchen auf dem Berge, die nach dem fröhlichen Mahl musizierten und sich belustigten: und vielleicht war Pasta unter ihnen! In Melchior kochte der Born und der Haß.

Jetzt gehe ich! stieß er heraus, erhob sich und setzte sich wieder; er blickte auf das jetzt von der Sonne beleuchtete Gesicht feines Vaters und stand nicht auf. Doch er beruhigte sich nicht. Mit ausgebreiteten Armen warf er sich auf sein Angesicht hin und stöhnte wie ein gefesseltes Tier. Den ganzen Rest des Tages blieb er düster und schweigsam, ging und kam von der Hütte zum Walde, kletterte auf den Felsen herum und pflückte junge Schößlinge für sein Pferd. Von oben blickte er immerzu nach der Kirche, dem Punkte, der ihn unheilvoll anzog; und in der nachmittäglichen, durchsichtigen Klarheit drang noch bis­weilen Gitarrenklang zu ihm und durchbohrte ihm das Herz.

Beim leuchtenden Sonnenuntergang breitete sich neuer Bauber ringsumher; das Rauschen der Bäume verstummte; der im Westen dunkelrot gefärbte Himmel goß ein geheimnis

1904

volles Purpurlicht über die Stämme, die Felsen, den Ephen und das Moos. Die glühende Färbung des Himmels breitete sich bis nach Osten aus, wo sie in rosigem Dufte erlosch, aus dem die violetten Berge in zarten, flaren Linien hervortrateu. 3io Pietro saß vor der Hütte und betete. Im feierlichen Schweigen jener Stunde nahm sein Gebet den Weg zu dent Kirchlein, wo jetzt die Novena   stattfand. Er gedachte der Gebete und der gosos mit ihrem melancholischen Tonfall, die er chedem in dem Kirchlein gesprochen, und er erblickte im Geiste den durch die weitgeöffnete Tür hereinschimmernden glühendroten Abendhimmel.

Segnoredda' e su Monte, betete er; kleine Madonna vom Berge, sei mir gnädig, und laß mich noch einmal zu dir kommen, in deiner Kirche zu beten. Verleih' mir diese Gnade, Segnoredda, erhöre mich! Basilio wird mich führen; ich werde... das Mädchen sehen und ihr vielleicht ein Wörtchen sagen können.. Paska, denke an deinen alten Zio Pietro, dessen Augen geschlossen sind; quäle ihn nicht noch mehr, meine Tochter! Ave Maria, der Herr sei mit dir

Mitunter nahm er das Geklingel einer Ziege für den Ton des Kirchenglöckleins; und immerzu sah er jenen Hinter­grund des Portals, den erdbeerfarbenen, violett verschleierten Himmel; und auf dem Altar die Flammen der großen Kerzen, die nach Wachholder dufteten.

Paska, Tochter meines Bruders, wo bist du? Kniest du dort? Und betest? Wie kannst du beten nach all dem, was du uns angetan hast? Hat Melchior dich gesehen? Nein? Warum ist er dann so düster? Ave Maria, der Herr sei mit dir Ob ich wohl morgen hinaufgehen und sie sehen kann? Vielleicht kann ich dann alles wieder zurechtbringen. Madonna vom Berge, verleih' mir diese Gnade, meine kleine Rose, meine fleine Lilie, schenke mir dieses Wunder! Ave Maria, Mutter voller Gnaden...

Inbrünstig betend fand er Ruhe in dieser Hoffnung. Inzwischen kam das Geflingel der Ziegen näher und ver schmolz in einem einzigen melancholischen Klang. Die Herde fehrte zur Hürde zurück. Melchior und Basilio trugen Bündel von frischen Zweigen, die sie über den Zaun der Hürde warfen: dann schlossen sie die einfachen Tore, und der Hirt ging in die Hütte, um das Feuer anzufachen. Melchior streckte sich neben seinem Vater aus.

Es wurde dunkel: die Glut des Abendhimmels erstarb in violetten Lichtern, von denen der Wald sich schwarz abhob; zwischen den äußersten Zweigen schimmerte hier und da ein Stern gleich einem Tautropfen. Die Berge und das Meer im Often schwanden schon im dunkeln Traum der Nacht dahin. Tiefer Friede lag ringsum. Und doch webte in der lautlosen Stille, in der Unbeweglichkeit der durch die Dämmerung ins Riesenhafte vergrößerten Dinge, ein Nachtgeheimnis, ein un­bestimmtes, beklemmendes Etwas. Melchior wurde noch finsterer.

,, Werdet Ihr nicht müde zu beten?" frug er den Vater rauh, da er hörte, wie dieser die Kugeln des Rosenkranzes schob.

Zio Pietro hörte auf zu beten, füßte das metallene Kreuz seines Rosenkranzes, bekreuzte sich damit, nahm die Kappe ab und sagte: Gott sei gelobt!"

uns

hat

"

Wofür gelobt?" fragte Melchior herb.

" Für das Gute, das er uns schickt; für die Gnade, daß er lebel erspart."

Nach kurzem Schweigen brach Melchior in die Worte aus: Eure Nichte ist auf dem Berge!"

"

Wozu das? Um ihr die Augen auszufratzen. Man es mir gejagt."

,, Bist Du dort gewesen?"

Auch mir."

Auch Euch? Wer denn?" " Bafilio,"

" Basilio? Und was weiß er davon, der Schleicher? Basilio, fomm' heraus, Du junger Fuchs: hast Du die Herde verlassen, um auf den Berg zu gehen? Gieb acht, daß ich Dir nicht eines Tages die Beine zerschlage."

Basilio erschien in der hellen Türöffnung und lachte spöttisch. " Hingehen?" sagte er. Wenn sie doch selbst her. gekommen sind, die Mägde und auch die Damen und Herren,