Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 219.
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Sonntag, den 6. November.
Der Alte vom Berge.
Berge.p
1904
( Nachdrud verboten.) die er nachts während Melchiors Abwesenheit ausgestanden hatte. Seine unheilvolle Ahnung hatte ihn also nicht getäuscht; und vielleicht täuschte er sich auch jetzt nicht, wenn er erbebte bei den Drohungen Paskas, die durch eingeworfene spöttische Bemerkungen des Hausherrn noch mehr zur Rache aufgereizt wurde. Was hätte er auch sagen können? Alles, was er sich vorher ihr zu sagen vorgenommen hatte, schwand dahin the dieser neuen Erbitterung; doch auch ohne dies hätte er vor diesem rauhen und spöttischen Herrn, der Paska verteidigte, nicht zu sprechen vermocht.
,, Und das hat mein Sohn getan? Mein Sohn?" wiederholte Zio Pietro, beide Hände auf den Stock gestützt und demütig den Kopf neigend. Der weiße Bart reichte ihm bis zum Ledergurt, an dem sein Feuerstahl in Gestalt einer kleinen Sichel hing.
„ Und das hat Euer Sohn getan, Zio Pietro, das hat Euer Sohn getan an seiner Base, der vater- und mutterlosen Waise, und vielleicht sinnt er noch Schlimmeres, denn, ich weiß es wohl, er will mein Blut trinken, nachdem er mich auf tausenderlei Art verleumdet und verhöhnt hat. Aber ich gebe ihm mein Wort und sie legte eine Hand auf die Brust daß man ihm die Beine zerschlagen wird, wenn er am wenigsten daran denkt, oder ich will nicht mehr Paska Carta heißen!" Pasta! Paska!" hub der Alte an; aber sie ließ ihn nicht weiterreden, fing an zu weinen und schrie unter Schluchzen: Paska! Paska! Ja, ich weiß schon, was Ihr sagen wollt, Bio Pietro, ich weiß alles.. aber verlangt Ihr, daß ich mich von ihm totschlagen lasse? Tue ich ihm etwas zu leide? Warun läßt er mich nicht in Ruhe? Sprecht?"
"
Guter Mann," sagte ihre Herrin, als sie sah, daß Neugierige herbeifamen ,,, tretet doch einen Augenblick herein. Hilf ihm, Baska."
Der Herr trat in die Hütte zurück und warf seiner Frau einen ärgerlichen Blick zu; doch diese murmelte:„ Der Aermite!" erwartete den Alten an der Tür, half ihm herein und führte
ihn zu einer Bank.
Basilio setzte sich neben ihn und verdrehte fast den Hals, um alles neugierig zu betrachten. Ein großer dunkelblauer Vorhang teilte den Raum in zwei Teile und verhüllte sorgfältig die im Hintergrund aufgeschlagenen Feldbetten; den Fußboden bildete festgestampfte Erde und das Dach bestand aus Rohr , durch das die Sonnenlichter drangen; den vorderen Naum nahm die Bank ein, auf der Bafilio neben dem Alten saß, ferner einige Stühle, eine Kiste aus gelbem Holz und ein Tisch, auf dem allerlei Geschirr stand, Glasflaschen, Gläser und Kelche, die in dem hellen Lichte blizten, das durch die Fensteröffnung einfiel. Diese ging nach Morgen und bot einen herr lichen Blick auf den Wald, den Himmel und das ferne, blaue Meer. Ein fleiner Spiegel gegenüber gab das leuchtende Landschaftsbild wieder; der frische Hauch des Waldes drang durch das Fenster und setzte den Vorhang in wellenförmige Bewegung. Bafilio fand alles prächtig und fühlte sich über aus glücklich: seine Augen wanderten von dem glänzenden Spiegelbild zu einer geschliffenen Kristallflasche, auf der das Licht in allen Farben spielte. Und er wußte nicht, welche Freude wohl größer sein möchte, das schimmernde grüne Getränk die Kehle hinabrinnen zu fühlen, oder in dem Spiegel einmal sein eigenes, klar wiedergegebenes Bild zu betrachten, statt des zitternden Schattens, den die Quelle ihm zeigte. Und da stand Paska, rosig und sauber. Wenn er auf die Gespräche Zio Pietros und seines Sohnes horchte, hatte Basilio so oft an sie gedacht und es war allmählich eine lebhafte Neugier in ihm entstanden, sie zu sehen. Und jetzt war sie da vor ihm, mit bloßem Kopf und barfüßig. Er hatte nie etwas Schöneres gesehen; und seine befriedigte Neugier, die Hoffnung, aus der schillernden Flasche zu trinken und sich im Spiegel zu sehen, machten ihn sehr glücklich. Er vergaß den Hasen, der im moosigen Baumstammt seiner harrte, die verLaffenen Ziegen, seinen fernen Herrn und sogar den neben ihm fizenden Zio Pietro. Alles, was er sah, auch das rote Gesicht der Hausfrau und das gelbe mit dem großen, schwarzen Bart des Hausherrn, kam ihm schön vor und er fürchtete sich gar nicht. Wie glücklich mußten die Leute sein, mit all dem Guten, das wohl in der Kiste verborgen war und dem Wein und Liqueur! Auch Paska mußte, trop den Schlägen Melchiors und den vergossenen Tränen, doch sehr glücklich sein!
Ermutigt durch das schmerzliche, demütige Schweigen Bio Pietros, der ihr mit gesenktem Kopfe zuhörte, fette Pasta inzwischen ihre Klagen fort. Der arme Alte fühlte es, wie Die Blicke der Herrschaft an ihm hafteten und konnte nichts bagegen tun, nicht einmal sprechen; der von Pasta wirkungsboll erzählte Vorfall brachte ihm die Angst in Erinnerung,
" Du hast recht," hub er endlich an, aber Du kennst ihn ja. Der Schmerz erbittert, und Du solltest ihn bemitleiden, schonen, ihm verzeihen. Er hat es nur aus zu großer Liebe getan, denn er liebt Dich noch."
,, Eine schöne Liebe, mein Onkel! Die Liebe eines wilden Tieres. Ich will weder seine Liebe noch seinen Haß; ich weiß weder was ich mit der einen noch mit dem anderen machen soll. Will er mich vielleicht totschlagen, um mich nachher beweinen zu können?" Pasta, tu es mir zulieb, schone mich armen Alten, der das Licht seiner Augen verloren hat. Wir alle sind geboren, um zu sterben, und im anderen Leben zählen nur unsere guten Werke, verziehene Kränkungen, Mitleid, Nächstenliebe
"
"
,, Aber, guter Alter, warum sagt Ihr das nicht lieber Eurem Sohn?" fragte die spöttische Stimme des Hausherrn. " Ja, warum sagt Ihr das nicht Eurem Sohn, mein Onkel?" leid mit ihm und sagte zu ihrem Mann und Pasta gewandt:
Die Hausfrau sah, wie der Alte errötete; sie hatte Mit
" Sekt laßt es gut sein. Bringe Du Deinem Onkel etwas zu trinken. Lebt Ihr immer da oben bei der Herde, lieber Mann?" " Immer."
und
,, Auch im Winter?"
,, Auch im Winter."
"
Aber im Winter muß es sehr kalt sein auf dem Berge viel Nebel geben."
,, Das macht nichts."
,, Was für ein Leben!" sagte sie mitleidig. Ihr Mann, der Richter war, heftete seine scharfen schwarzen Augen auf Bio Pietros Gesicht und entdeckte in demselben die Kennzeichen des Verbrechers obschon der Alte stets ein rechtschaffener Mann gewesen war.
Was mag der in seinem langen Leben wohl alles auf sich geladen haben! Der Schädel eines Dolichocephalen, Prognathismus, sehr unvollkommener Gesichtswinkel. Und das Fuchsgesicht daneben? Der angehende Verbrecher, die allergefährlichste Art: Mikrocephale mit niedriger Stirn. Der Anfang und das Ende des Verbrechertums. Vermaledeite Rasse!
Woher bist Du?" fragte er Basilio.
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" Von..." antwortete dieser lächelnd und blickte den Herrn mit seinen großen klaren Augen an. Wie alt bist Du?"
"
Ich weiß nicht. Achtzehn, glaube ich."
Das sollte man nicht sagen. Trinkst Du gern Wein?" " Hm... ich sehe nie welchen."
Aber wenn Du welchen sähest, würdest Du ihn gerne
trinken?"
und
„ Sicher! Wer sollte nicht gern Wein trinken?" Der ist ja auf gutem Wege, dachte der Herr. Lasterhaft schamlos obendrein... Bringe Wein, Paska!" Basilio bereute schon seine Antwort.
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Nein, nein," sagte indes die Dame, es ist noch zu früh für Wein. Was wollt Ihr nehmen, lieber Alter, eine Tasse Kaffee oder Rosolio?" bl
Rosolio," antwortete Bafilio statt seiner. Und Paska brachte die glitzernde Flasche und goß das grüne Getränk langsam in die goldgeblümten Kelchgläser. Während Bio Pietro vorsichtig trant, schlürfte Bafilio seinen Selch in einem Zuge aus, legte den Kopf hintenüber und schloß die Augen vor Vergnügen über den scharfen und doch frischen Geschmack, den er verspürte. Was für eine gute Sache, Dio mio! Das war wie ein Windhauch auf dem Bergeskamm! Doch kaum hatte er das Glas wieder auf das Teebrett gestellt