Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 223.
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Freitag, den 11. November.
( Nachdruck verboten.)
Der Alte vom Berge.
Roman von Grazia Deledda . Melchior zog die gelbe, geschnitzte Kürbisflasche aus dem Rucksack, hob den Pfropfen ab und reichte sie dem Vater. Nehmt und trinkt, ich habe Wein mitgebracht." Zio Pietro nahm die Flasche mit beiden Händen, führte sie an die Lippen und lehnte langsam den Kopf hintenüber. Trinkt nur, trinkt!" ermunterte Melchior und betrachtete ihn mit Zärtlichkeit, doch auch mit Kummer.
In diesem Augenblick ward er inne, daß wenn nach Zia Bisaccias dunklen Reden ihn ein der Furcht verwandtes Gefühl beschlichen hatte, dies um den Alten mit den erloschenen Augen war, der mit den Augen des Sohnes sah, vom Leben, der Freiheit und der Arbeit seines Sohnes lebte.
Ja, wenn er nicht gewesen wäre! schrie der Groll und träufelte ihm sein Gift ins Herz.
Nein, es ist besser, daß er da ist: er bewahrt Dich vor den erbärmlichen Schritten, welche die, für die Du sie tun möchtest, nicht einmal verdient, antwortete eine leise Stimme, die in ihrer demütigen Unterwerfung einen geheimen Stolz barg.
Zio Pietro tranf in langsamen Zügen; der Wein strömte warme Heiterfeit in die alte Brust und weitete ihm das Herz mit Wohlgefühl. Er nahm die Flasche vom Munde und reichte sie Melchior. Und auch Melchior trank, aber hastig, gierig, um Vergessen aller erlittenen Demütigung zu erzwingen. Er nahm sich nicht vor, zu vergessen, und noch weniger, zu verzeihen, aber seine Leidenschaft zu besiegen und Vorsicht zu bewahren, um das traurige Alter des Vaters nicht noch bitterer zu machen. VI
Die letzten Tage des August verflossen ruhig und friedlich. Gefestigt durch seinen Entschluß, gelangte Melchior zu der refignierten. Gemütsstimmung desjenigen, der alles verloren hat. Er ging seiner gewohnten Beschäftigung nach, ritt in der Morgendämmerung zur Stadt hinunter, um die immer spärlichere und dickere Milch dorthin zu bringen; bestellte den Garten, wo die Pomidoro sich röteten und schweifte still im Walde umher, um Laub für die Ziegen zu schneiden. Zio Pietro verfertigte Geräte aus Birfenzweigen, bereitete die Mahlzeiten aus den Gartengewächsen, fegte die Hürde oder saß in Gedanken versunken zwischen den stummen Felsen, vor dem herrlichen Rundblick, ohne die langsam aufsteigenden ersten zarten Dunststreifen zu gewahren, welche das Schwinden des Commers anfünden.
Im wiedergekehrten Frieden der einsamen Behausung bewahrte nur Basilio etwas Unstätes: es lag ihm eine Site im Blut, die ihm Unbehagen bereitete und ihn bald zum Laufen, Lachen, Springen und Schreien antrieb, bald in süßschmerzliche Betäubung versenkte. Die Augusthize war bei gänzlicher Windstille manchmal erschlaffend, überwältigend, drückender noch durch die Ausstrahlung des glühenden Gesteins. Ihn quälte die Site, und doch legte er sich in den Stunden, wo er fich ganz matt fühlte, wie eine Kate in die Sonne, auf das berjengte Gras, und schlummerte wie berauscht.
Der Wald schwieg, die Glöckchen der ruhenden Ziegen schwiegen; fern am Horizont schienen Himmel und Meer in eins zu verschmelzen. Und wenn Basilio sich erhob, schmerzten ihn die Glieder, seine Stehle war rauh und sein Gemüt bedrückt. Nach dem findlichen Umbertollen am Vormittag, verbrachte er den Abend in sich versunken, stumm, düster; wenn man ihn Schalt, wurde er heftig, schimpfte, fluchte, brach mitunter auch in Tränen aus; nachts fror ihn, er fauerte am Feuer und Flapperte mit den Zähnen. Im unruhigen Schlummer murmelte er beständig allerlei seltsame Sachen.
Was zum Teufel hast Du nur?" frug ihn Melchior eines Zages und betrachtete ihn forschend. Du bist krank und willst es nicht jagen. Was tut Dir weh? Sprich!" A ton, Der Fuß," erwiderte er, spöttisch lachend. Doch schon in seinem gezwungenen Lachen, das die kindliche Frische von furz zuvor verloren hatte, lag die Bestätigung der Mutmaßungen seines Herrn.
So?" sagte dieser, der Fuß? Grillen im Kopf. Woran denkst Du?
Dann hast Du wohl Wenn Du hier oben
1904
frank wirst und stirbst, so laß' ich Dich wahrhaftig von den Raben verschlingen."
Basilio zuckte gleichgültig die Achseln, und über seine Augen zog ein Schatten.
,, Meinetwegen überlaßt mich den Raben oder den Hunden. Was tu' ich denn überhaupt auf der Welt!"
,, Und was tun die anderen," rief Zio Pietro, der es gehört hatte.
Melchior, der Basilios sorglose Jugend stets beneidet hatte, blickte ihn betroffen an. Also auch der war unzufrieden? Wer mochte dann wohl zufrieden sein?
"
allen
,, Die anderen! Welche andren?" sagte Basilio trokig. Glaubt Ihr, daß weil Ihr so seid, die anderen sich nicht amüsieren? Seht mir die Herrschaften auf dem Berge, hol' sie der Teufel! Was tun die? Sie spielen, lachen, essen gut, schlafen noch besser, machen Musik, tanzen, singen, liebeln mit Seine vor Neid, ja vor Haß bebende Stimme tönte laut in Melchiors Gemüt und weckte dort den schlummernden Widerhall. ., Auch Du!" schrie er hätte dann aber gern sein Wort zurückgenommen, denn Zio Pietro wandte ihm sein Gesicht zu und sagte, anscheinend zu dem Knaben, in Wahrheit aber für alle beide:
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„ Die Herrschaften! Was denkst Du, daß die Herrschaften find? Menschen wie wir. Und glaubst Du, daß sie zufrieden sind? Keine Spur! D, o, Junge, warum muß ich Dir das sagen? Wir alle sind geboren, um zu leiden und unser Kreuz zu tragen. Wenn Du wüßtest, was im Topf derer kocht, die Dir so glücklich scheinen, Du möchtest nicht an ihrer Stelle sein. Hinter ihren Spielen steht ein Ungeheuer, das sie verzehrt: sie sind schwach und frank an Rörper, feig und erbärmlich in ihrer Seele. Sie sind voller Schulden, Sorgen und Aengste, und ihr Lachen ist wie der helle Klang eines Tellers, der ganz scheint und doch einen Sprung hat. Sie liebeln mit allen, aber fie lieben nicht ein Weib und werden nicht geliebt, wie Du geliebt werden kannst, wenn Du erwachsen bist und Dir ehrlich ein Heim erwirbst und eine Schar Ziegen. Sie spielen," rief er spöttisch, wie die Fliege im Herbste summt, bevor sie sterben miß. Und wer verbietet Dir, zu spielen? Steige ins Tal hinab, schneide das zarte Nohr und mache Dir ein Paar leoneddas, wie die Hirten auf dem Campidano. Deine Musik wird weit besser sein, als das Gitarrengeklimper jener Herrchen. ,, Das ist wahr!" hub Melchior an.
"
,, Ach! Wollt Ihr jetzt auch noch eine Predigt halten?" sagte Bafilio ärgerlich und ging pfeifend davon.
Besser als das Predigen seiner Herren behagte ihm die In Zia Erlaubnis, einmal nach Nuoro hinabzureiten. Bisaccias Hof band er das Pferd statt an den gewohnten Plaz an einen Pfahl, um den sich ein schmächtiger Weinstock rankte. Bevor er wieder fortritt, pflückte er sich eine Hand voll Blätter davon und steckte sie in die Tasche, um sie dem Hasen mitzubringen. Auch das Pferd streckte den Hals vor, beschnupperte die Rebe und riß mit seinen langen, gelben Zähnen einige Blätter ab. Wäre es nie geschehen! Zia Bisaccia stürzte schreiend in den Hof, schlug das Pferd und schimpfte derart auf Basilio los, daß er schnell aufsaß und sich davonmachte.
,, Seht doch den Flegel! Braucht der noch aus seinem Dorfe daherzukommen? Geh' zum Teufel, der Dich hergeführt hat! Laß Deinen Herrn nur kommen, mit dem werde ich schon abrechnen! Mich in meinem Hause bestehlen! Wenn Du nur einen roten Heller hättest, würde ich auf Schadenersat flagen..."
Basilio war verschwunden. Trotz der Schmähungen Zia Bisaccias fühlte er sich so froh und leicht wie ein Vogel. Erschrocken über die empfangenen Prügel trabte das Pferdchen mit gespizten Ohren fort.
Der Morgen war blau und klar; statt direkt zu ihrer Hütte heimzufehren, ritt Basilio nach dem Berggipfel hinauf, sah Paska und sprach mit ihr.
Inmitten ihrer Vergnügungen und Triumphe und trop des hohen Schußes, den sie genoß, lebte sie in Sorge und Angst; als sie den Ziegenhirten erblickte, wechselte sie die Farbe, doch begegnete sie ihm mit ironischer Freundlichkeit.