Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 233.

22]

Sonntag, den 27. November.

( Nachdruck verboten.)

Der Alte vom Berge.

Roman von Grazia Deledda . Im Grunde, dachte Basilio, ich brauche es ja nicht aus meinen Rippen zu schneiden. Sieben!"

Das nahm der Bursche an, und sie schlugen den Weg zum Orthobene ein, sich gegenseitig mit Schimpfworten und entsetz­lichen Drohungen überhäufend. In der Nähe ihrer Behausung angelangt, stieg Bafilio ah und saate:

" Jezt sei still, Du elender Kerl: wenn der gute Alte uns hört, so schilt er."

Doch wie sie auch nach ihm suchten, der gute Alte war nicht da. Er hatte seinen traurigen Platz beim Feuer verlassen, sobald Basilio fortgeritten war.

Ich werde hinter ihm hergehen, war sein Gedanke, ich werde den Tritt des Pferdes hören und mich danach zurecht­finden. Wenn Basilio mich unterwegs bemerkt, wird er nicht den Mut haben, mich zurückzuschicken.

Eine Zeitlang ging es ganz gut. Er kannte den Weg aus der Tanca hinaus und konnte ihn innehalten, indem er bisweilen den Stock vor sich hinſtreckte und mit der Linken um­hertastete. Vor sich vernahm er deutlich den Tritt des Pferdes. Der Tag war prächtig und ein linder Hauch kündete den nahen Frühling an; in der flaren Bergluft lag der ihr am frischen Morgen eigene fräftige Duft. Durch die hohen Aeste einer Steineiche strahlte die Sonne wie ein riesiger Edelstein, und durch die unendliche Einsamkeit zitterte nur der Schrei einer Elster.

Nachdem er den Ausgang der Tanca hinter sich gelassen, blieb Zio Pietro unentschlossen stehen: er hörte das Pferd noch immer, aber er sah es nicht mehr mit Sicherheit vor sich. Den­noch schritt er weiter.

Der Boden war eben, weich, grasbewachsen. Wie oft er auch den Stock ausstreckte, Zio Pietro traf auf fein Hindernis. Dadurch getäuscht, betastete er nur noch den Boden und horchte gespannt auf den Tritt des Pferdes und auf den näher­kommenden Ruf der Elster.

Auf einmal aber schien ihm das Dunkel seines Empfindens dichter geworden und sein Kopf schmerzte ihn: er war mit der Stirn gegen einen Baum gestoßen. Er blieb stehen, führte die Hand an den Kopf, und zwei brennende Tränen liefen ihm über die Wangen. Verzweiflung kam über sein Herz und unsägliche Angst vermischte sich mit dem förperlichen Schmerz.

Er rief stöhnend: Basilio! und es deuchte ihm, als ob der bereits sehr ferne Schritt anhielt, doch alsbald weiterging.

Als seine erste Betäubung vorüber war, nahm er den Weg wieder auf, hielt aber jeden Augenblick an, um den Boden zu betasten. Trotzdem glitt er häufig aus, und das Gezweig schlug ihm ins Gesicht. Der Tritt des Pferdes entfernte sich immer mehr. doch vernahm er ihn noch deutlich genug, um sich danach zu richten, und der schwache Klang genügte der be­trübten Seele, sich nicht ganz in Finsternis zu verlieren. Er sagte zu sich selbst:

Vorwärts! Mut, Pietro Carta! Das Heil deines Sohnes hängt vielleicht von dir ab. Vorwärts!

Er dachte an Paska und an den Richter, ihren Herrn; er glaubte, feine unangenehme, näselnde Stimme zu hören, aber er dachte auch an die gute Aufnahme und das Mitleid, das er von seiner Gattin erfahren hatte, und er. wagte, zu hoffen.

1904

Der frische, aber herbe Geruch der jungen Farne erfüllte die Luft; auf dem mit neuem Grün bekleideten weichen Terrain konnte er nur noch vorsichtiger, noch langsamer vorschreiten, und indessen verklang der Tritt des Pferdes immer mehr, selbst dem feinen Gehör des Blinden kaum noch vernehmbar. Einmal fiel er lang hin auf den Rücken; er tat sich nicht weh aber er verlor seinen Stock und mußte lange umhertasten, ehe er ihn wieder fand. Und während des mühsamen Suchens hatte er nicht mehr auf den Schritt gehorcht, und dieser ent­schwand ihm völlig.

-

Als er fich wieder aufilchtete, härte er nichte mahn, makan may noch fern: da erst empfand er seine qualvolle Verlassenheit ganz. Es war ihm, als ob jemand, der ihn bis dahin begleitet, ihn treulos verlassen hätte.

Er schritt weiter, doch in beginnender Verzweiflung. Ver­gebens mühte er sich, irgend einen Laut zu unterscheiden: in dem lauen Sonnenuntergang regte sich kein Blatt, und ver­einzeltes Vogelgezwitscher im fernen Walde verstärkte nur den Eindruck tiefster Einsamkeit.

Zio Pietro dachte, er müsse vom Wege abgekommen sein, wenn er niemand begegnete, nicht einen menschlichen Schritt hörte; denn sonst war es um diese Jahreszeit ziemlich lebhaft auf dem Berge. Diese Befürchtung vermehrte seine Unruhe, und doch schritt er weiter.

Er hoffte, jemand anzutreffen, der ihn geleiten würde; und dennoch fürchtete er das auch.

Sie würden mich täuschen, dachte er. Sie würden mich nach Hause zurückbringen, denn es scheint, daß alle sich das Wort gegeben haben, mich nicht nach Nuoro zu lassen.

Er ging jetzt der Sonne entgegen, sich nach ihrem warmen Schein richtend; doch er fühlte, daß sie tiefer sank: bald würde sie untergehen. Und wohin dann, wenn ihm auch dieser Führer fehlte?

Als die Sonne verschwunden war, wich er wirklich bald von der westlichen Richtung ab und schritt nach Norden. Er gelangte wieder an den Wald, und sein Stock stieß unaufhörlich auf Gestein.

Wohltuende Wärme herrschte hier, vermischt mit dem Geruch des noch warmen Mooses und Efeus; bald aber mußte die Dämmerung eintreten; denn Zio Pietro fühlte, wie die Schatten dunkler wurden.

Statt abwärts, ging es jetzt aufwärts. Wohin? Wo war er? Was war um ihn?

Seine Verzweiflung wuchs. Stock und Hand trafen nur noch auf Fels, und seine Füße brannten vor Müdigkeit.

Ich muß auf einen Kamm des Berges geraten sein, dachte Zio Pietro. Wenn ich nur den Abstieg finden könnte, vielleicht würde ich doch hinkommen.

Wohin? sagte die Vernunft. In irgend einen Abgrund! Kehre um, Alter, kehre um, der Abend naht!

Nein, sprach das Herz. Ich will hinunter. Ich will hin­kommen. Melchior wartet. Wenn ich nur den Abstieg finden könnte, würde ich hinkommen.

Wohin? Sicher nicht nach der Stadt. Vielleicht an irgend einen entlegenen Ort, wo kein Melchior auf dich wartet. Kehre zurück, alter Pietro!

Aber der Stock setzte sein langsames Forschen fort, und die Füße den mühsamen Abstieg. Eine kurze Strecke hörten die Felsen auf, und der Stock traf wieder auf weichen, grasbedeckten Boden; dann aber stieß er wieder auf Fels, drang oft tief in Moos und Spalten ein und erreichte nicht immer den Grund derselben.

Obwohl das böse Gerede über Paska und ihren Herrn Zio Pietro setzte sich einen Augenblick. Er fühlte, daß nicht bis in seine Einsamkeit gedrungen war, erschien es ihm sich dort keine Bäume befanden und daß das Dämmerlicht un­im Grunde doch als Feigheit, von derjenigen Hülfe zu er- gehindert auf die Felsen fiel. Hier oben war der Bereich des bitten, die Melchior so viel Leid zugefügt hatte. Doch zu Steins, und die Gipfel des Verges mußten nahe sein, vielleicht welchem Schritte wäre er nicht bereit gewesen, um den Sohn über seinem müden Haupte. Ein kalter Wind strich über seinen feuchten Nacken hin, und er schauderte. Mit unverhohlenem zu retten? Schreden empfand ir jetzt, daß er sich verirrt hatte, und doch bereute er nicht, den Gang unternommen zu haben. Er sagte nur: Wo bin ich? Vielleicht werde ich den Weg nicht wieder­finden und eine schlimme Nacht verbringen. Aber leidet mein Sohn nicht auch?

Richter! sagte er, sich an unsichtbare Gestalten wendend, gebt mir meinen Sohn wieder, er ist unschuldig! Wenn Ihr ihn mir nehmt, so nehmt Ihr mir zum zweitenmal das Augen­licht. Verbrechen, Raub, Schlechtigkeiten begehen die anderen, nicht mein Sohn; sucht anderswo, Männer des Königs, sonst begeht Ihr selbst ein Verbrechen. Und denkt Ihr, daß ich essen und trinken fönnte, während mein Sohn an Seele und Körper leidet? Und das unschuldig, hört Ihr, unschuldig!

Wieder machte er sich auf, und in seiner tiefsten Seele freute er sich fast seiner Leiden, weil es ihm vorkam, daß er so die des Sohnes teilte.