Hlnlerhaltungsblatt des vorwärtsNr. 241.Donnerstag, den 8. Dezember.1904(Nachdruck verboten.)� Ich bekenne.Roman von Clara Müller-Jahnke.Das alles erfuhr ich selbstverständlich erst später. Andiesem ersten Morgen unserer Bekanntschaft herrschte eine argeVerstimmung in unserem Dachstübchen. Mary Deike faßtemich schließlich unter den Arm und führte mich in den Speise-saal hinab.Oberlicht. Um das geschnitzte Gitterwerk herum inTufeisenform die Tafel. Dreißig bis vierzig Mädels!— Obnun blond oder brünett, heiter oder ernst, fromm oderglaubenslos, jung oder lebenserfahren. Du: alle haben sieihren„Mann" gestanden im Kampfe um das Dasein.Ich sehe sie noch heute. Keine fromme Gesellschaft, bei-leibe kein„Pensionat"!— Aber Lebenskraft steckte in ihnenallen?In der Mitte des mit weißen Leinen gedeckten Kaffee-tisches präsidierte die Frau Oberin.Ich trat an sie heran und wünschte ihr einen GutenMorgen.„Guten Morgen, liebes Kind," erwiderte sie freundlichmeinen Gruß.„Trinken und essen Sie und lassen Sie sich'sgefallen. Um acht Uhr beginnt der Kursus der Handelsschule."Ich aß und trank mit Appetit. Mary Deike saß nebenmir und„futterte". Sie flüsterte mir Bemerkungen zu überdie einzelnen Glieder in diesem Kreise. Und sie traf mit jederBemerkung, wie ich später voll bestätigt fand, den Nagel aufden Kopf.Um einhalbacht Uhr wurde die Kaffeetafel aufgehoben.Die Frau Oberin legte liebevoll meinen Arm unter den ihrigen.„Mein liebes Kind, einen Gefallen werden Sie mir tun!Sie haben so schönes Haar— warum ruinieren Sie sich dasdurch Lockentragen! Flechten Sie sich das Haar, liebe Wilma.Sie werden bald sehen, wie gut Ihnen das tut!"—Ich sah Fräulein Veronika Märiens verständnisvoll an:mit einem Male hatte ich sie lieb.„Ich werde meine Haare flechten. Frau Oberin." Siemochte wohl ein Aufblitzen in meinem Gesicht gesehen haben,—ein Lächeln ging um ihren charaktervollen Mund. Danndrückte sie meine Hand und nickte mir gütig zu.Seit dieser Stunde sind wir Freundinnen gewesen.Um acht Uhr begann der Kursus der Handelsschule. Zuerstwurde eine Prüfung vorgenommen, und die Schülerinnenwurden nach dem Grade ihres geistigen Vermögens gesetzt. Icherhielt Nummer eins. Anna Nicolai saß ganz unten. Inder ersten Stunde sah sie mit ziemlich schiefen Blicken auf michhin. Aber sie ist niemals neidisch, sondern stets bestrebt ge-Wesen, mit Go.tes Hülfe mein bißchen Ueberlegenheit zu ihrenGunsten auszunutzen.Und— na: ganz schlecht war ich auch nicht, und AnnaNicolai hat so manches schwierige Exempel zu Herrn Sande-manns Verwunderung tadellos gelöst.Unser Lehrer, Liebling?— Mary Deike hatte ihn richtigeingeschätzt. Er war tatsächlich ein„netter Kerl". Der un--verfälschte Berliner:„pratschig"„ harmlos, von Herzen gut.Galant und grob, je nach Bedürfnis. Wir beide haben unsallzeit famos gestanden.Unsere Sprachlehrerin war eine Nachteule. Das heißt:nur, was ihr Aeußeres anbetrifft. Mein Schönheitsgefühlwurde förmlich geknickt, als ich sie zum erstenmal sah. MeinHerz aber wurde gänzlich mit ihrer Erscheinung ausgesöhntin dem Augenblick, als sie bei der Zurückgabe unseres erstenAufsatzes:„Ueber die Panslavierung des europäischen Ostensim Hinblick auf den russisch-türkischen Krieg" mit zufriedenen!Lächeln erklärte:„Fräulein Wilma ist ein Genie."Wo das„Genie" in diesem Aufsatz zutage getreten ist,weiß ich nicht zu sagen. Fest steht nur, daß ich von da abihr Nachteulcngesicht ganz erträglich fand.Die Mädels in der Schule, Herze?— Aus allen Kreisenrekrutierten sie sich. Sogar eine Gencralstochter hatten wirunter uns und eine adelige junge Dame aus der französischenKolonie. Und die Tochter einer Grünzeughändlerin ausSchöneberg. Der„Star" unserer Schule war eine fesche,blonde, hochtoupierte Berlinerin, die nicht gut zu rechnen der-stand, dafür aber auf die schwachen Seiten Herrn Sandemannsso unverschämt spekulierte, daß dieser ihr eines Tages rund-weg und ehrlich grob erklärte:„Bei mir sollen Sie lernen,Fräulein Tietz. Wenn i ch mal was lernen will, suche ich mireine andere aus." Von dieser Stunde an konnte FräuleinTietz rechnen.So stellten wir im kleinen den richtigen sozialistischenZukunftsstaat dar. Wir waren alle gleich. Und es ging inWahrheit ein starker sozialistischer Zug durch diese Schule,' dererwachsen war aus dem gemeinsamen Gefühl, arbeiten zumüssen, um leben zu können.Damals, Seele, empfand ich das nicht so genau. Nurdas Neue, das ganz Neue kam überwältigend über mich.Und— die lachende, prickelnde, sechzehnjährige Lebens-lust!—Ich war in Berlin.Und hatte sechzig Mark in der Tasche, die ich aus den Ein-künften meiner Privatschule übrig behalten hatte.Ich war Kapitalistin und hatte eine Freistelle im Heimat-hause. Meine Kameradinnen— allen voran Mary Deikewaren ehrlich bestrebt, mich in die Vergnügungen der Kaiser-stadt einzuführen. Ich wehrte ab. Das sollte erst kommen,wenn ich eine Stellung hatte. Bis dahin hieß es: sparen!Pferdebahnfahren leistete ich mir nicht, nicht einmal denOmnibus. Ich lief zu Fuß und lief stundenlang, um dasdrückende Gefühl loszuwerden, in meiner Umgebung nichtgenau Bescheid zu wissen. Trotz dieses stundenlangen Laufensaber sah ich nur das glänzende Berlin, das Berlin der Kaiser-stadt. Ich sah die funkelnden Läden, die Kunstgalerien, diekein Eintrittsgeld kosteten, kannte hundert verschiedene Straßen-namen und hatte mich im Gassengewirr mit Leichtigkeit zurecht-zufinden gelernt. Bescheid aber wußte ich noch lange nicht.Bis dann eines Abends—Es war ein heißer Tag gewesen. Die Luft flimmerte,und die Hitze flirrte. Gegen Abend machte Fräulein Märienseine Erholungsfahrt in einer Droschke. Drei ihrer Schutz-befohlenen wählte sie zu ihrer Begleitung aus, darunter auchmich. Wir fuhren wohl eine gute Stunde lang...Aus den glänzenden Straßen heraus in enge, düstereGassen. An Baracken vorbei, die das heutige Berlin nichtmehr aufzuweisen hat. Wir sahen Häuser,— wenn sie überhaupt diesen Namen verdienten— die zur Hälfte nur überder Erde standen: die untere Hälfte schien in den Boden ver-stinken zu sein. An den zerbrochenen Türen lehnten Männermit blassen Gesichtern, verwildertem Barthaar und dunklemBlick.Meine Kameradinnen schauderten. Sie hatten Furcht.Veronika Märiens sah die kindliche Regung dieser jungenSeelen.„Ja," sagte sie langsam, als wollte sie auf eine an siegerichtete Frage Antwort geben,„ich würde Euch nicht raten,Kinder, des Abends allein durch diese Straßen zu gehen..„Warum nicht?" fragte ich rasch.„Aber Wilma? Schau doch nur diese Kerle an: sehensie nicht genau so aus, als ob sie Dich niederstechen möchten,wenn sie Dir irgendwo allein begegneten?"Ich mußte lachen. Diese Kerle! Was war's denn mitihnen? Das Leben hatte ihnen übel mitgespielt: sie hattenfür ihr Ringen keinen Lohn gefunden, sie hatten die Arbeitverabscheuen gelernt, die ihnen keine Frucht gebracht, undstanden nun an zerbrochenen Türen herum, rochen nach Alkoholund sahen mit schweren, stumpfen Blicken in die sterbende Welt.Und„diese Kerle" sollten mich niederstechen wollen, wennsie mir begegneten,— mich, die ich an der Schwelle desLebens stand, die ich die gleichen Enttäuschungen, dieselbenbitteren Hoffnungslosigkeiten noch zu durchkosten hatte, für diederselbe bittere Trank bereit stand, den sie bereits bis zurNeige geleert, bis zur Besinnungslosigkeit getrunkenhatten?!—Sie hätten höchstens schadenfroh und hohnisch über michgelacht! �Jetzt glaube nicht, daß ich phantasiere. Herze! �chempfand so. Ein Gefühl der Reife war über mich ge-kommen: seltsam, bedrückend, gewitterschwer, vchwul wiedie Atmosphäre dieses Oktoberabends...