962 Und selbst Veronika Martens sah mich Verständnis loS an. Ich habe keine Ahnung mehr davon, warum unsere Oberin mit uns durch die Straßen fuhr, die heute lange schon der großen Zeit zum Opfer gefallen sind. Prachtbauten sind an ihrer Stelle entstanden, und statt jener Unglückseligen mit dem erloschenen Blick stehen Männer auf der Schwelle mit dem Hammer in der Hand und dem lohenden Blitz in den Augen! Und wir fuhren weiter, immer weiter. Du: von Norden nach Osten. Breit wurden die Straßen und die Häuser hoch. Von den Wänden bröckelte der Kalk. Die Treppen waren schie getreten, die Valkone blumenleer. Hinter ihren Fenstern schlies das Glück nicht mehr. Die Mädels sahen interessiert aus der Droschke. Auf den breiten Trottoirs huschte ein'Masses, scheues Leben dahin. Und vor einem dieser himmelhohelUa mser hielt unsere Droschke still. Fräulein MärtenS stieg yWaus. Sie hatte einen Besuch in diesem Hause zu machen. Während der fünfzehn Minuten, die wir vor diesem Hause verweilen mußten, habe ich viel gesehen... Ich sah in eine offene Wunde hinein. Und am Grunde dieser Wunde sah ich den Blutstrom des Lebens pulsen. Aus meinen sechzehn Jahren wurden sechzig. Am Straßenrande stand ein Weib. Ihr einstmals himmelblaues Kleid war beschmutzt und zerrissen. Auf dem Kopfe trug sie einen hellen, zerdrückten Filzhut, mit roten Rosen geschmückt; in den Nacken hinunter hing eine von der Feuchtigkeit glatt gewordene, weiße Straußen feder... Das Weib stand gerade im Laternenschein und spähte die Straße hinab. Von jenseits kam ein Mann. Ein Herr erschien er mir. Er ging quer über die Straße und blieb neben dem Weibe stehen. Ich beugte mich vor. Mein Herz schlug laut und heftig. Meine Gefährtinnen kicherten. Wieder verstand ich ihr Kichern so wenig wie vordem ihre Furcht. Der Mann drängte sich dicht an das Weib heran. Es schien beinahe, als beabsichtigte er, den Ann um sie zu legen. Und nun beugte er sich tief hinab und sah ihr unter den zer knitterten, hellen Filzhut mit den leuchtend roten Rosen. Dann plötzlich lachte er laut und roh auf. Und stieß das Weib zurück. Und ging vorbei. Die Frau umklammerte den Laternenpfahl. Ein zittern der Schauer rann durch ihren Leib. Und ich wußte, daß sie hungerte... und daß sie hungern würde: heut Nacht und morgen früh und den ganzen Tag. Und ich wußte, daß dieses Weib ein Recht habe, mich niederzustechen, wenn es mir begegnen sollte... ein Recht, wenn auch keinen Mut mehr dazu und keine Kraft. Mich aber trieb eine Kraft, aus der Droschke zu springen und dem Weibe zu geben, was ich bei mir trug, und es zärtlich und liebevoll zu bitten:«Geh heim, Schwester,, und Dich satt.. Und neben mir die kichernden Mädchen wurden plötzlich starr, und ein Zug der äußersten Empörung legte sich um ihre zusammengekniffenen Mundwinkel. Dann brach der Sturm los. Wilma, ein solches Frauenzimmer! Bist Du verrückt geworden? Du machst Dich gemein, Wilma! Ich sage es Fräulein Martens solch ein Frauenzimmer!" Aus dem wetterschwülen Oktoberhimmel zuckte ein Blitz. Das Weib vor mir erhob sein weißes, verwüstetes Geficht und sah gerade in das blaue Licht hinein... Ein Schreck durchfuhr mich; eine brennende Scham wie über ein Ungeheuerliches, das ich getan, schlug mir flammend in die Wangen. Zitternd stieg ich wieder in den Wagen, ohne mich noch einmal nach meinem Schützling umzusehen. Meinen zürnenden Kameradinnen winkte ich wortlos und abwehrend mit der Hand.   In einem Fenster der zweiten Etage ging ein Licht auf. Und Veronika Martens trat mit erregtem Gesicht aus dem Haufe. O, Kinder, es blitzt! Das Gewitter kommt. Nach Hause schnell, schnell!" Der Droschkenkutscher hieb auf die Pferde ein. Wir jagten heim, immer verfolgt von dem drohenden schwarzen Gewölk. Mitunter spielte ein blasser Blitz über Veronika Märiens' ver- störtes Gesicht. Ich saß im Schatten, tief in die Ecke gedrückt. Ich fürchtete mich, auf die Straße zu sehen... Wir kamen gerade zum Abendbrot zurecht. Der Hufeisen- förmige Tisch war bereits gedeckt. Vierzig bis fünfzig Mädels saßen wir um diesen Tisch. Gegessen wurde wenig: draußen tobte ein Unwetter, als sollte die Welt nüt allem, was auf ihr blühte, reiste und zertreten ward, vernichtet werden auf einen einzigen Schlag. Der Hagel prasselte an die Scheiben, daß sie klirrend zersprangen. Eine Telephonistin, die aus dem Dienst kam und drei Treppen emporgesttegen war. trug in der heißen Hand ein Hagelkorn so groß noch wie ein Taubenei. Ein Oktobergewitter von unerhörter Heftigkeit! Wieder klirrten die Scheiben und immer wieder,, und auf der Straße rassette die Feuerwehr. Veronika Märiens stand auf, blaß wie eine Tote. Auch diese Frau hatte Furcht. Vor dem Gewitter? In dem dunklen, von allen Seiten zugebauten Korridor, in den der Blitzschein nicht zu dringen vermochte, ist sie wie sinnlos umhergelaufen, die Hände an die Ohren gepreßt. Ich wäre ihr gern gefolgt. Aber das blaue Licht der Blitze, das nicht mehr erlosch, hielt mich in dem großen, von acht breiten Fenstern flankierten Saale   fest. All' die Mädels um mich her sahen in diesem Lichte blaß, bläulich, entstellt, erloschen aus. Und der Donner klang über sie hin wie ein fernes, rohes Lachen... Dann ein kurzer, ersttckender Moment: eine Lohe ein Prasseln ein Krach-- Mir unmittelbar im Rücken! Als ich aufsah, traf mein Blick auf Ohnmächtige. Und jetzt sahen sie wirklich wie Leichen aus. Langsam hob ich die Hand an die Stirn und wandte mich um. Die Bleieinfassung des Oberlichts war verbogen und geschmolzen. Heraus- geschleuderte Bleistücke lagen auf dem Fußboden umher. Glas- splitter überall, sogar auf dem Tisch, auf den Tellern... Eingeschlagen! Und das Toben des Unwetters hielt an. Jetzt lief ich hinaus zu Veronika Märiens. Wir brachten sie halb bewußtlos zu Bett. Ter Blitz hatte durch das Oberlicht geschlagen, war durch drei Etagen gegangen bis m das im ersten Stock gelegene Möbelmagazin, und hier hatte er sich einen hohen Wandspiegel ausgesucht, den er in tausend Scherben zersplitterte. Dann hatte er durch das offene Fenster den Ausweg gefunden. Ein Unglück war nicht geschehen. Nur ich unter dem furchtbaren Krachen dieses Schlages hatte ich gelernt, mich zu fürchten. Nein doch: die Furcht im eigentlichen Sinne war mir fremd geblieben. Nur ein Nerven- zittern, ein unbeschreibliches Beben Hab' ich drei Jahre lang nach diesem Blitzschlag noch gespürt, so oft ein Gewitter am Himmel stand. Und wenn ich den tiefen, traumlosen Schlaf der schwülen Sommernächte schlief, das erste, ferne Donner- rollen hat meine Augen geöffnet für den bläulichen Schein. Heute o Du Lieber! All' der Spuk der Vergangenhest ist gebannt. Mit Dir bin ich durch die hallende Osternacht ge- gangen und habe dem zuckenden Blitze zugejauchzt und mit dem krachenden Donner über allen Jammer und allen Wahn- Witz der Well gelacht. (Fortsetzung folgt.)! Der Brief. (Nachdruck verlöten.) Bon Wladimir Kirjakow. .Lisa, ich denke. Du bist schon lange fertig?!... Es ist höchste Zeit, inZ Theater zu fahren, und Du bist noch mcht einmal risiert?". .Aber Mitja, siehst Du denn nicht, daß ich zu tun habe?" .Was denn?" .Na, das siehst Du ja ich schreibe einen Brief... Was ist das wieder für eine Idee, so kurz vor dem Theater einen Brief zu schreiben I Warum ziehst Du Dich nicht lieber an 1" Weil dieser Brief sehr eilig, sehr wichtig ist und ich mich erst etzt daran erinnert habe. Den ganzen Tag war mir so als wenn ich etwas äußerst Notwendiges zu tun hätte. Aber was? Kerne Ahnung I Erst jetzt fällt mir ein. daß eS der Brief an dre Modistin ist... wegen meüres neuen Kleides... Nur gut, daß ich mich noch beizeiten daran erinnert Habel... Apropos, kannst Du mrr vielleicht sagen, wie ich die Adresse machen soll?"..., .Wie Du die Adrefle machen sollst? WaS ist da v,el zu fragen I Du schreibst ihren Vor- und Zunamen und fertig 1"... So schlau war ich auch ohne Dich... Oder bin ich vielleicht eine Idiotin?... Aber ich meine, mutz man nicht dre Modiftm auf dem KuvertHochwohlgeboren" titulieren?... Ist meinem ganzen Leben habe ich noch nie an eine Modistin geschrieben...