nicht bei seiner Schwester bleiben wollen. Sie dürfen jetzt nicht allein an sich denken— jetzt zuerst an das Kind!"— „O, ich denke an das Kind," schrie ich auf,„an das vor allem!"— Eine wunderbare Kraft war erwacht in mir, die Riesenkraft des Weibes, das vor der schwersten Stunde seines Lebens steht, vor jener Stunde, die nicht mit Klagen und Jammern, die nur mit dem Aufgebot eines vollen Menschen- willens zu überwinden ist, gegen deren ungeheuerliche Wucht alle Mannesstärke wie ein Frühlingssturm vor der Gewalt des Cyklons erscheint. Ich schüttelte die harte Hand von meiner Schulter und trat langsam in das Zimmer zurück. „Geben Sie mir Mantel und Hut," gebot ich rauh. Sie ging gehorsam an den Schrank und schloß ihn auf. Als sie mir beim Anlegen behülflich sein wollte, wehrte ich sie ab. „Das kann ich selbst." Und ich wandte mich zu Helena, die hülfsbereit auf der Schwelle stand. Ohne ein Wort zu sprechen, legte ich meinen Arm in den des Mädchens und schritt an ihrer Seite über Lydia Rakowicz' Schwelle hinaus. Alles, was ich tat, mein Liebling, geschah wie unter eineni äußerlichen Druck, fast ohne klares Bewußtsein. In diesen furchtbaren Stunden trieb mich die Natur, wie sie die trächtige Hirschkuh treibt, ein möglichst sicheres und warmes Lager für ihr Junges zu suchen. Nach einer halbstündigen, angstvollen Fahrt hatte ich mein Ziel erreicht— mitten im Gewoge und Gelärm der Millionenstadt. Und so, nach achtzehnjähriger Trennung, sahen Elfriede Günther und ich uns wieder. In ihrem mit behaglicher Eleganz eingerichteten Sprech- Zimmer stand ich zitternd, von Schauern geschüttelt, dem Zu- sammensinken nahe— und dennoch von einem heiligen Willen zum Leben beseelt. Sie ging an den Anderen vorüber, die auf sie warteten, und kam mit schnellem, elastischem Schritt gerade auf mich u. Sie faßte meine beiden Hände mit ihrer Rechten, legte den inken Arm um meinen Leib und nannte meinen Namen. „Es ist gut, daß Sie zu mir kommen." Das war alles: keine Frage weiter, kein unzartes Wort. Mit einer weichen Geberde der Sorgfalt geleitete sie mich, an den übrigen Wartenden vorüber, auf den Korridor hinaus und von dort in eine geräumige und behagliche Stube, die voller Luft, Licht und Sonnenschein war. „Einen Augenblick setzen Sie sich. Seien Sie ganz ruhig, Kind. Ich lasse alles bereit machen. Und dann fordere ich dreierlei von Ihnen: Mut, Kraft und guten Willen." „Ich habe den Willen zu leben, Fräulein Günther!" „Das sah ich Ihrem Gesicht an, als Sie auf der Schwelle standen. Wenn Sie das wollen, brauchen Sie keine Furcht zu haben." lFortsetznng folgt.)! Klinter im Malcle. Das Forsthaus, ein fränkischer Vierkant mit Schupfe, Ställen und Scheune, lag knapp vor dem Walde. Gegen Süden und Westen war das blockhausartige Wohngebäude so ziemlich geschützt, nach Norden zu blickte es von der Höhe frei über das wellige Schollenland. Kam von dorther der Wind, dann pfiff es durch die Ritzen des alten Balkengefüges, den Rauchfang hinauf, den Rauchfang hinab zogen Orgcltönc, und die Läden schlugen und knarrten die ganze Nacht. Gleich nach der Landkirchweih, in der vierten Oktoberwoche, wurde das Haus„eingefüttert". An der Stirnseite und um die Nordostecke ljerum wurden Stangen gesteckt, zwischen sie und die Hauswand schuhdick Fichten- und Föhrennadeln und Moos ge- stampft. Das Haus hatte seinen Pelz, jetzt konnte der Winter kommen. Ließ auch gar nicht auf sich warten. Schon um Aller- heiligen herum stöberte es. Dann schlief der Wind ein, und nun kam's herab, lautlos, in großen Flocken:„böhmische Bauern in Holz- schuhen". Man sah die Bim- und Pflaumenbäume im Garten nicht mehr, jeden Tag, oft zweimal, mußte Bahn geschaufelt werden zu den Ställen und zur Hoftür hinaus. Kein Fremder kam, nicht einmal ein Holzhauer, niemand verließ das Haus, nur der Vater und der Adjunkt machten regelmäßig ihre Waldgänge. Und eines Morgens stand die Sonne am klaren Himmel. Das ganze Land lag da in reinem Weiß, funkelte und glitzerte, daß einem die Augen brannten. Die Kälte nahm zu. Kerzengerade ttieg auf der Rauch. Bös wurde es, wenn jetzt der Nordwind her- prang. Die Schneewehen hoben sich über die Zäune hinweg und schlugen die Stirnseite deS Hauses zu bis zum Dach. Gar nicht Tag wollte es werden. Und aus dem Wald kam jede Nacht ein Geprassel, ein dumpfes Fallen: Schneebrüche. Endlich scharfer Frost, klares Wetter. Die Pumpe hatte einen langen Eisbart bekommen. Der Schnee hielt. Mit eineni Schlage wurde es lebendig. Im Walde klang die Axt, schrillte die Säge. Fuhrleute schrien und fluchten. Und Mastbaum nach Mastbaum glitt hinab zur Bahn. Ueber dem Gewirr die Stimme des Vaters. Ruhig und klar, daß man seine Freude daran hatte. Mit einem Male waren Vögel da. Auf den Bäumen im Garten auf dem überschneiten, zusammengefrorcncn Krauthaufen, im Hofe! Bis in das Vorhaus kamen sie herein. Goldgelbe Ammern, buutc Stieglitze, Meisen, Gimpel mit blutroter Brust, Grünlinge in ganzen Flügen. Die Krähen hielten sich außer Schußweite.„Sie riechen das Pulver," sagten die Holzhauer. Am Morgen liefen Hasen- fährten wie ein Netz um das Gehöfte. Sie hatten es aus den Kraut. Haufen abgesehen; konnten aber zusammen nicht kommen: der Zaun war viel zu hoch. » Den ganzen Tag ging jetzt das Feuer im Ofen nicht aus. In den Fenstern grünte das helle Moos,, und gedrehte Glassplitter bohrten sich daraus hervor, wie gediegenes Silber. Heimlich war es an den Abenden. An dem Ofcngestell hing das Eisengeflecht der Leuchte, harzige Kiefernspähne brannten darin, daß taghell die Stube war. die Kohlen fielen zischend in das Wasierschaff. Und über der Leuchte fraß der große, blecherne Lehnhut den Rauch in seinen rußigen Rache». Holzhauerkinder kamen init ihren Müttern oder erwachsenen Schlvestern und setzten sich in den Kreis, die Mutter brachte„Huzcln", honigsüße Backbirnen; Geschichten wurden erzählt, der Adjunkt machte seine Späße und Kunftstückchen: und immer gleichmäßig surrten die Spinnräder. Zum Schluß ließ der Vater die Kapuziner zur Mette gehen. Er warf ein Stück Papier auf die Leuchte. Es flanimte auf, aber bald glomm nur noch hie und da ein Fünkchen in der Asche. Das waren die Kapuziner, die mit einem Lichtlein in der Hand zur Mette schritten. Und der letzte Funke, der verblich, das war der Bruder Kellermeister, der nie zum Trinken zu spät kam, ünincr aber zum Beten und Büßen. Wir Kinder schliefen auch im strengsten Winter auf dem Boden, unterm Dach. Im Hemd ging's die steile Holzstiege hinauf, in die „Hummel ". Ein Raum ohne Fenster. Nur durch zwei offene Dach- luken kam etwas Sternenschei». Darin standen die Betten. Oft: lag in der Frühe Reif und Schnee auf der Decke. Die Bettücher waren aus„grober" Leinwand. Ein alter Dorfweber hatte sie gemacht. Er hatte keinen gleichmäßigen Schlag mehr, jeden Daumen lang riß der Faden. So war schier ein„Nest", ein Knoten an dem anderen. Wie auf Erbsen lag es sich. Hat uns aber nichts geschadet; ebensowenig wie das Waschen mit eiskalteni Wasser, das wir uns selbst von der Pumpe holen mußten, wie das Laufen mit bloßen Füßen im Schnee, über Eisflächen, das uns verboten war. Aber was sollten wir denn machen, wenn uns die Mutter die Stiefel ver- steckt hatte? Kamen wir dann tropfnaß wieder angerückt, dann hieß es wohl:„Mutter, hau' zul" Aber sofort wurde die Hand fest- gehalten, und die Stimme des Vaters klang:„Geh, wer wird denn Kinder prügeln I Und es ist kein Vergnügen für Dich, und auch nicht für die Buben." Gegen Weihnachten zu fingen die Kühe wieder an, Milch zu geben. Gleich stand die Urschel in ihrer Uniform da, um den über- schüssigen Segen nach der Stadt zu bringen. Ueber den Kleidern hatte sie einen alten Bauernpelz mit dem Schaffell nach innen; auf dem Kopfe eine Pudelmütze, die ein Tuch festhielt; darüber und über die Brust ein Riesentuch. Vorn baumelten die Fausthandschuhe herab. Um die rindsledernen Männerstiefel waren Strohbänder ge» wickelt: das gab einen sicheren Tritt. Und dann das Endstrumm von einem Stecken. So lang wie sie war er und einen eisernen Stachel hatte er. Sie brachte Geld mit aus der Stadt und Reuig- leiten. * Weihnachten kam nicht Hals über Kopf. Der Nikolausabend ging voraus und brachte Aepfel und Nüsse. Eine schöngeflochtene Birkenrute auch. Aber die hing das ganze Jahr ruhsam unter den Rch-G'wichteln. Die Weihnachtstanne durften wir uns im Walde selbst aussuchen. Wer ihr Alter richtig geraten hatte, dem seine wurde genommen. Später fragte ich immer verstohlen den Holz- Hauer. Da hatte ich immer recht. Der Christbaum hing am„Nußbaum", einem Tragbalken untev der Zimmerdecke, gleich neben des Adjunkten Uhr. Nüsse ivaren daran und rotbäckige Aepfel und ein wenig Zuckerzeug. Aber Lichte aus reinem Wachs. Das gibt einen Geruch, den man nach Jahren auf den ersten Schmecker wiedererkennt. An diesem Abend, dem einzigen im Jahr, wurden wir nicht nach den „Hummel " geschickt. Wir durften in der Nebenstube lvarten. Der Vater hielt das Schlüsselloch zu, wir beide hatten die Hand auf dem Drücker. Wenn das Glöcklein klang, wurde gestürmt. Einmal sahen wir die Mutter vom Tisch herabspringen. Da war das Christkindlein verflogen für immer. In den Forsthäusern versteht nmn zu kochen und zu essen. Nicht weil Ueberfluß da ist. Aber man hat es heraus, das Vorhandene zu nützen in der bestmöglichsten Weise. So kommt jeder Förstersbub als halber Koch auf die Welt. Und wir freuten unS jedesmal auf den schwarzgesottenen Weihnachtskarpfen Sogar auf die Gräten Denn da gab es was zu„zussern". Und wenn die blanken Dinger zum Schlüsse von der Urschel zusammen mit Birnstielen, Pflaumen- kernen, Nußschalen dem„Zempcr" als Esset» unter einem Bauin geschüttet wurden, da hatten wir die volle, die volle und ganze Ueber-
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21 (25.12.1904) 253
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