Mnlerhaltungsblatt des Horwärts Nr. 6. Sonntag, den 8. Januar. 1905 (Nachdruck verboten.) 6] Der Baum elfter. Roman von Felix Holländer . „Ich erlaube mir gar kein Urteil," erwiderte Keßler zurückhaltend. „Bitte, entschuldigen Sie sich nicht, ich verstehe mich ein wenig auf die Menschen. Sie müssen ja an meinen Worten zweifeln... Im übrigen bin ich Ihnen ein wenig zu Dank verpflichtet. Sie haben mich gewarnt, ohne einen Vorteil dabei im Auge zu haben. Ich habe," sagte er langsam,„ein gewisses Vertrauen zu Ihnen. Sie machen auf mich einen anständigen Eindruck... Natürlich kann man sich täuschen... Gewiß kann man sich täuschen... Immerhin, Sie machen auf mich einen äußerst anständigen Eindruck. Außerdem suche ich schon lange einen Menschen, dem ich mich anvertrauen könnte... Ich brauche einen solchen Menschen.». Wollen Sie mich heute abend besuchen?" „Es wird mir eine Ehre sein!" „Gut— ich erwarte Sie um zehn Uhr... Jetzt lassen Sie mich aussteigen!" „Kutscher, halten Sie!" Herr Freitag stieg aus. Keßler folgte ihm noch eine lange Strecke mit den Augen und sah, wie seine weißen Haare im Winde flatterten. Siebentes Kapitel. Keßler hatte sich verspätet. Um zehn Uhr sollte die Kon- ferenz mit Herrn Freitag stattfinden, und jetzt war es beinahe halb elf. Was verschlug es? Der Alte würde auf ihn warten, und der Teufel mochte wissen, was bei der ganzen Sache heraus- kommen würde. Eine Kateridee von ihm, mit diesem närrischen Patron anzubandeln! Er war wieder vollkommen mutlos. Dieser Tag, den er mit so hochfahrenden Plänen begonnen, endete für ihn kläglich. Ohne jeden äußeren Grund hatte seine Stimmung um- geschlagen. Er begriff nicht, wie er auch nur eine Stunde ernst- Haft hatte glauben können, daß diese Leute ihm„sein" Grund- stück verkaufen würden!... Und wenn sie wirklich bei Dreirkwitz anfragten, so würde der— das stand fest— sich außerstzkühl und ablehnend verhalten— und dazu ihm gehörig den Text lesen... Mochte er's! Was lag ihm daran!... Wenn er nicht bauen konnte, war ihm alles andere gleich... Gott und die Welt... Er kam jetzt an der Kronenapotheke vorbei, die in der Jerusalemerstraße gelegen ist. Vor der Tür der Apotheke stand eine auffallende Er- scheinung— ein junges Mädchen, das sich ein rotes Tuch über den Kopf geworfen hatte und eine bunte russische Schürze trug. Die feinen Linien und Umrisse ihres Körpers fesselten ihn. Er trat unwillkürlich näher, um sie besser sehen zu können. In diesem Augenblick öffnete der Provisor die Nachtklappe und reichte dem Mädchen eine Schachtel hinaus. Und nun trat folgender Zwischenfall ein: Das Mädchen suchte in ihren Taschen nach dem Portemonnaie und fand es offenbar nicht. Der Provisor da drinnen wurde unruhig und verlangte mit einem ziemlich großen Stimmenaufwand die Medizin zurück. Keßler sah die feinen, blassen Züge des Mädchens, aus denen eine furchtbare Angst und Ungeduld sprach, und ohne sich lange zu besinnen, fragte er, nähertretend: „Ich darf Ihnen wohl mit dem kleinen Betrage aushelfen?" Einen Moment schwankte das Mädchen und sah ihn mr- schlüssig an. Dann entschied sie sich und sagte, tief auf- atmend: „Ich bitte Sie sehr darum!" Keßler bezahlte drei Mark fünfzig Pfennig. Der Apotheker machte die Klappe zu, und nun standen sie sich Aug' in Auge gegenüber. „Wenn es nicht eine so furchtbare Eile hätte," sagte sie gepreßt,„aber Sie ahnen ja nicht, wie es drängt!... Darf ich Sie um Ihre Adresse bitten, mein Herr, um Ihnen das Geld zurückgeben zu können?" „Dann müssen wir kkns wohl gegenseitig vorstellen?" sagte Keßler und blickte prüfend in dieses feingeschnittene ovale Gesicht mit den tiefblauen, kummervollen Augen, über denen feingezeichnete Brauen sich wölbten. „Ich heiße Grete Anders," sagte sie leise.„Meine Eltern wohnen in der Krausenstraße Nummer 19, Hof, drei Treppen." Keßler verbeugte sich und erwiderte: „Plein Name ist Friedrich Keßler und meine Adresse Schützenstraße Nunimer 46!" „Ich danke Ihnen vielmals," brachte sie hastig hervor, „aber jetzt muß ich fort— ich habe keine Sekunde mehr zu ver- lieren!" Und wie gehetzt eilte sie davon. „Grete Anders!" murmelte er vor sich hin. Es war doch eigentlich seltsam, wie viele Beziehungen diese letzten Stunden gebracht hatten! Was hatte das alles zu bedeuten?... Und wie eigenartig dieses Geschöpf ausgesehen hatte Mit dem roten Tüchelchen und der russischen Schürze! Wie die bunten Farben zu ihrem Gesicht gestimmt hatten... Was kümmerte es ihn! Er hatte keine Zeit, den Weibern nachzulaufen... Er hatte ernstere Dinge im Sinne! Jetzt stand er vor seinem Hause. Aus dem Fenster des Herrn Freitag blinkte ihm Licht entgegen. „Aha! der wartet auf dich!" Er schloß auf und nahm die Treppe in großen Sätzen. Dann klopfte er hart und vernehmlich an Freitags Tür. So- fort wurde ihm geöffnet. Der kleine Mann war in sichtlicher Erregung. „Ich dachte schon, Sie würden gar nicht mehr kommen!" sagte er aufgeregt. „Ich wäre in jedem Falle gekommen," entgegnete Keßler. „Ich hatte nur eine wichtige Konferenz, die sich zu meinem Leidwesen viel länger hinzog, als ich erwartete. Man ist ein geplagter Mensch!" fügte er hinzu. Herr Freitag nötigte ihn, Platz zu nehmen. Wieder war er mit seinem Maskenkostüm angetan— dem blauseidenen Schlafrock und dem Fes auf dem Kopf. Er hatte eine goldme Brille aufgesetzt und betrachtete voll innerer Unruhe seinen Gast. Keßler machte nicht den leisesten Versuch, ihn zum Sprechen zu bringen. Im Gegenteil— er spielte den Uninteressierten und Unbefangenen. „Diese großen Geschäfte," sagte er nach einer langen Weile erschöpft,„haben etwas entsetzlich Aufreibendes. Sie machen einen ganz kaput! Da komme ich soeben aus einer Aufsichts- ratssitzung— so viele Köpfe, so viele Meinungen! Und waS für dummes Zeug man nicht anhören und widerlegen muß! Es ist, um auf die Bäume zu klettern! Projekte, die voll- kommen fertig erscheinen, werden noch in letzter Stunde durch die Einsichtslosigkeit von Narren ins Schwanken gebracht. Man muß seine ganze Elastizität und Selbstbeherrschung zusammen» raffen, um nicht durch solch unsinnigen Widerstand zu guter Letzt noch mürbe zu werden. Seien Sie froh, daß Sie ein un- abhängiger Mensch sind und mit Geschäften nichts zu tun haben! Die Kaufleute soll der Geier holen, das sind die unsichersten Kantonisten!... Uff!" machte er,„nun wissm Sie, warum ich verstimmt bin!" „Ich tauschte mit Ihnen— ich tauschte auf der Stelle!" sprudelte Herr Freitag hervor.„Die Sorgen, die mich drücken, sind schwerer!... Ich sagte Ihnen schon gestern: Wenn eS üt rechten Dingen zuginge, könnte ich mir einen Rennstall alten. Aber es geht eben nicht mit rechten Dingen zu. Man ebt in einer Welt von Spitzbuben und Schurken! Man ist dieser Bande gegenüber verraten und verkauft. Bitte, über- zeugen Sie sich selbst!... Ueberzeugen Sie sich selbst, mein Herr!" Er überreichte ihm ein dickes Schriftstück, offenbar die Ab- schrift eines Testaments. Keßler las, daß ein Rittergutsbesitzer namens Freitag seinen Sohn zum alleinigen Erben einsetzte, seinen illegitim« Sohn. „Ich verstehe," sagte er,„Sie fühlen sich durch dies« illegitimen Sprößling um Ihre Erbansprüche betrogen. Ist es nicht so?"
Ausgabe
22 (8.1.1905) 6
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