Das rief den Vater aus seinem Zimmer am anderen Ende desKorridors herbei. Er kam mit verstörter Miene:„Aber, um GottesWillen, was ist denn mit dem Kinde?"Ein Achselzucken seiner Gattin.„Wo ist Minna?"„Fortgeschickt."„Und Marie?"Wieder der leidenvolle Zug; ein resignierter Wink mit der Hand:„Marie! Bringt mir natürlich bollständig ungesüßte Milch für dasKind!"Mit bitterem Hohn:„Von K i n d e r Nahrung braucht eineKöchin ja nichts zu wissen."„Die hier ist aber gewiß süß genug!" Marie brachte die zweiteFlasche.Mama bot sie Tussi an.Tussi leckte nur, stieß die Flasche mit beiden Händen heftig zurückund schleuderte seine Töne mit erneuter Vehemenz hinaus.„Hier ist meine Kunst zu Ende," sagte Mama.„Vielleicht will er Kakes?" riet der Vater.„Oder sonst wasfestes. Immer diese elende Milchbrühcl Das k a n n ja kein Menschvertragen."„Du redest, wie Du's verstehst. Wer bringen Sie Kakes,Marie."Marie brachte Kakes. Mama brach ein Stückchen ab:«Tussi,mein Herzblatt. Hier, iß Kakes."Tussi kniff bei jeder Annäherung die Lippen zusammen und fochtmit den Händen.„Na, da siehst Du's doch!" Ein triumphierend-gcringschätzigerBlick zum Gatten.„Warte nur." Papa schob gewaltsam ein Stück Gebäck, nicht zuklein, in Tussis Mund.Ter spuckte und schrie.„Wirst Du essen, nichtswürdiger Bengell" Tussi wehrte sich.Der Vater ließ ab.„Es ist der barste Eigensinn von dem Jungen.Na/ von mir hat er diesen bodenlosen Trotz nicht I"„Vielleicht von mir, was? Jetzt beleidige mich auch noch! Dasist der Tank für meine Mutterschmerzen, nicht?" Mama weinte halb.Papa fuhr sich verzweifelt mit der Hand ins Haar:„Bloß keineTränen, hörst Du!— Und Dir, Junge, werde ich den Trotz schonbrechen. Jetzt ißt Tu!"Seine Frau riß ihm die Hand zurück:„Willst Tu mir das Kindruinieren? Ich sage schon, wenn ein Mann dazwischenkommt l UndSic, Marie, stehen auch so da und wissen nicht ein noch aus>"Marie sah ratlos auf und war zufrieden, daß eben die Haus-glocke anschlug und sie hinausgehen niußte, um zu öffnen.Tante Grete kam.„Ach Du, Grete! Welch' ein Glück! Wir sind ja in hellsterVerzweiflung mit dem Jungen! Er brüllt seit einer Stunde umund um!"„Aber Tussi!" Tante-Grete beugte sich über den Wagen,während sie ihr Jackett auszog.„Was fehlt denn dem'leinenTind?"Tussi machte eine Pause.„Ja, Tante Trete ist da. Soll Tante Drete mit deur liebenTussi'pielen? O, wir'pielen ßön zusammen. Badde, baddeTuchen, der Bäcker hat berufen—"Tussi entriß seine Händchen der Umklammerung der Tante,ballte sie krampfhaft zu Fäusten und stieß sie der Tante auf dieNase, ein wütendes Gebrüll hinausschleudernd.„£), Tussi ist unartig. Tussi hat Tante Drete auf die Nasedchaun. Tante Drete hat Dich dar nicht mehr lieb."Tussi war nicht gerührt davon. Er schrie.Tante Grete rieb sich die Nase und betrachtete ihn aufmerksam:„Wißt Ihr was? Das Kind ist krank."„Natürlich," sagte Mama,„'n gesundes Kind benimmt sich dochnicht so.".„Krank? Ter? Papa zuckte die Achseln und wollte sich zurTür hinausdrücken.„So! Du gehst fort, wie? Und mir stirbt das Kind unter denHänden I"„Stirbt? Lächerlich!"„Schwager!" Tante Grete erhob warnend die Stimme.„Nimm die Sache nicht leicht. Sieh Dir nur das verzerte Gesicht an!Die schmerzlich aufgerissenen Augen! Blitzeblau angelaufen ist derganze Junge!"„Er stirbt!" Mama schkuchzte.Marie wischte sich die Augen mit der Schürze..Hast Du denn wenigstens schon zum Arzt telephonicrt?" TanteGrete fragte streng den Schwager.„Ja,»nein Mann und telephonieren!"„Gut! Ich werde telephonieren! Aber wenn der Arzt nichtsfindet— ich Vin unschuldig!" Er ging.„Das hätte schon längst geschehen müssen!" sagte Mama.„Seiruhig, Tussi, mein armes Kind. Dein Vater läßt Dich in aller Ge-mütsruhe sterben." Sie bewegte schluchzend den Wagen.Papa kam wieder:„Doktor Roll wird sofort hier sein."„Ihr seid doch befreundet. Habt Ihr nie über derartige Dingemiteinander gesprochen?"„Gesprochen? lieber Kinderkrankheiten? Offen gestanden—nein." Es klang ein wenig schuldbewußt.„Natürlich nicht, lieber alles Mögliche wird geredet— Politik,Kunst, was weiß ich!—, aber das Wichtigste, Nächstliegende, damitman im ersten Augenblick nicht von allem Rat verlassen ist— wagkümmert das die Herren! Es ist ja'ne Mutter dal Freilich—'ne Mutter!" Ein Augenaufschlag.„Die kann ja auch noch Medizinstudieren!"Tussi machte jetzt Kunstpausen. Ihm war, wie man so sagt,die Puste ausgegangen. Schrie und atmete in unregelmäßigenStößen.„Aber Tussi! Tante Drete wird danz böse.— Liebling! Süßling! Sei doch stille."Tussi ließ sich nicht zureden.„Das Kind hat hochgradiges Fieber!" erklärte Tante Gret»„Es erkennt mich schon nicht mehr. Habt Ihr Eis im Hause?"Mama warf Papa einen zerschmetternden Blick zu:„MöchtestDu nicht wenigstens Eis holen lassen?"„Aber man weiß doch gar nicht—°„D u weißt nicht! Sieh ihn Dir an! Der Junge glüht amganzen Leibe. Er muß eine Eisblase auf den Kopf kriegen, sonstist die Gehirnhaut-Entzündung fertig. Das letzte Mittel!"„Marie, einen Zentner Eis!"„Jawohl, gnädiger Herr!" Marie stürzte hinaus.Als sie die Tür öffnete, hatte Doktor Roll gerade die Hand amKlingelzug. Marie ließ ihn ein und lief dann die Treppe hinunter,immer zwei Stufen aus einmal nehmend.Der Arzt war in wenigen Sekunden über die bisher auf-getretenen Symptome unterrichtet: Appetitlosigkeit, krampfartige Be-wegungen, Fieber und so weiter.„Magenverstimmung vermutlich." Der Arzt untersuchte.„Mitdem Fieber ist's nicht so schlimm. Die Blutwärme ist allerdingswesentlich gesteigert, trotzdem—" er drückte Tussi auf die Magen-gegend.Tussi gab schrille Lokomotivenpfiffe von sich.„Aha, Magenkrampf. Irgend ein Fehler in der Ernährung."„Die ungesüßte Milch von der dummen Köchini" sagte Mama.„Nur dünne Breie vorläufig, gnädige Frau, und Milch— weiternichts. Warme Leibumschläge bis zur Beruhigung." Doktor Rollsaß schon am Tisch und schrieb ein Rezept:„Dies bitte sofort be-sorgen zu lassen. Stündlich einen Teelöffel."„Marie! Ach so I" Die Gnädige hielt das Rezept in der Handund blickte den Gatten nicht sehr freundlich an.„Du mußt natürlichdas Mädchen gerade jetzt fortschicken—"„Aber Du sagtest doch— 1"„Ich sagte! Natürlich— ich! Ach, Doktor, alles stürmt ausin i ch ein I Ich bin doch die Mutter I Ich weiß nicht, wo mir derKopf steht! Fühlen Sie nur, wie mein Puls wogt!"Doktor Roll nahm ihre Hand und betrachtete die Uhr:„Einwenig Ruhe, gnädige Frau. Allerdings, die Mutter— man kenntdas ja. Aber Sie dürfen sich nicht völlig opfern. Denken Sie auchan sich!" Er ließ die Hand los.„Also das Rezept bitte sofort zurApotheke. Die Sache ist nicht gerade bedenklich, immerhin— beikleinen Kindern— man kann nicht wissen; es treten da leicht Kam-plikationen ein."„Ich gehe selbst!" erklärte heroisch der Papa.Er war noch nicht an der Tür, als Minna, das Kindermädchen,eintrat.„Aber, Minna, Minna, wo bleiben Siel Tussi ist sterbens-krank."Die Gnädige stürzte auf sie los:„Tragen Sie sofort dasRezept zur Apotheke. Furchtbar eilig I"„Krank?" Minna erschrak und trat an den Wagen.„AlS.tchwegging, war er doch noch ganz munter." Rein mechanisch, gewöhn-hcitsmäßig versenkte Minnas Hand sich in die. tiefer gelegenenGründe des Kinderbettes.„Ich will ihm man bloß erst trocken legen," erklärte sie, nahmTussi auf und zog die Unterlage hervor.„Pitschenaß."_Tussi weinte schon nicht mehr, gluckste nur noch einige Male.Dann zog ein zufriedenes Lächeln über sein verweintes, gerötetesAntlitz.Und als er auf den trockenen Windeln saß, krähte er vor Per-gnügcn.„Komisch," sagte Papa.„Ist der'leine Tussi wieder desund?"Ja, Tussi war wieder gesund.—Liemes fciriUcton.IB. Zum Schwaneukrug. Vom Bahnhof in Spandau führt unsdie elektrische Straßenbahn rasch durch den ganzen Ort an den Wald-rand zum Stadtpark. Ein schöner Eichenhain bildet das Portal desForstes, den eine Waldchaussce stundenweit durchzieht. Wir lassensie rechts liegen und suchen ein Gestell auf, das in nordwestlicherRichtung ungefähr parallel mit der Chaussee bleibt. So steuern wir,Karte und Kompaß zur Hand, auf den Schwaneukrug, sieben Kilo-mctcr von Spandau, zu. Die Waldbilder wechseln fortwährend.Erlen und Birken drängen sich überall zwischen die Kiefern und bildenschließlich eigene Bestände in wirrem Durcheinander auf eininnnassen, von vermorschten, bcmosten Baumstümpfen und Unterholz be,deckten Boden. Alle Gestelle und Waldwege sind von Gräben ein«