Anterhaltungsblatt des HorwSrts Nr. Kl. Sonntag, den 26. März. 1905 (Nachdruck verboten.) Eine pilgerfadrt. Von Johan Bojer . Autorisierte Uebersetzung von Adele Neustädtcr. Als sie erwachte, war sie verwundert zu leben. Die beiden anderen schrien noch. Aber nun ertönte ein schwacher Kinder- schrei, und gleichzeitig glaubte sie, die Engel singen zu hören. Lassen Sie mich es sehen!" rief sie aus.Ist es wohl gestaltet? O, lassen Sie mich sehen!" Gratuliere zu einem Sohn, Fräulein!" sagte der Student, der noch mit ihr beschäftigt war. Und als das kleine Wesen gewaschen und angekleidet in ihrem Arme lag, brach sie in glückliche Tränen aus. Aber als sie dann in diesem Saale lag, erwachte sie schnell zur traurigen Wirklichkeit. Zuerst war sie fest entschlossen, das Kind zu stillen. In dieser Umgebung vermochte sie freilich nicht viel zu essen, aber da ihr Körper gesund war, sorgte wohl die Natur, das) sie genug Milch für das Kind habe: es über- schritt jedoch ihre Kräfte. So oft der Kleine getrunken hatte, meinte sie, ihr Rücken breche zusammen, das Kind schien förm- lich ihr Rückenmark aufzusaugen. So mußte sie mit dem Entwöhnen beginnen. Und dann... Die langen, schlaflosen Nächte. Die Gedanken an die Zukunft, und die trüben Erinnerungen. Sie untergruben allmählich jede Mutterfreude. Das Bett wurde zur Folter- bank, vor deren Verlassen sie sich jedoch fürchtete. Denn wo sollte sie hin? Wieder wirst sie sich in die Kissen:O, solch eine Nacht ertrage ich nicht wieder. Ich werde verrückt!" Ein gelber Tagesstreifen erwachte über der Stadt. IV. Nun, Verehrteste, haben Sie gut geschlafen?" rief der Professor, der am Vormittag die Runde machte, gefolgt von dem Neserve-Arzt, dem Assistenzarzt, der Oberhebamme, den Studenten und Elevinnen. Ich danke, ganz gut!" sagte Nr. 47 und versuchte zu lächeln. Der Professor war heute ungewöhnlich liebens- würdig. Er sah etwas skeptisch drein, faßte ihr Handgelenk, während er auf die Uhr sah.Ja," sagte er dann,der Puls geht recht schlecht." Und zur Oberhebamme gewendet:Hören Sie, wir haben ja jetzt hier in der Nähe ein freies Zimmer mit nur einem Bett. Können wir sie nicht heute vormittag dorthin bringen?" Die Oberhebamme blickte etwas verwundert, nickte jedoch. Und der Professor lächelte Nr. 47 an, sagte freundlich guten Morgen und setzte die Runde fort. Im Saale entstand große Unruhe, als man sie nach einer Stunde zum Umzug herrichtete. Und während man sie stützend hinausführte, und sie den übrigen Insassen Adieu sagte, fühlte sie deren Augen voller Neugierde und Neid erglänzen. Warum sollte sie es plötzlich besser haben?" Aber sie wurde in ein helles Zimmer gebracht, das nach Süden lag. Hier war alles so rein, die Luft war so angenehm frisch, das Bett hatte reine Laken und schöne rote Decken. Als sie darin lag, erfüllte sie Wohlbehagen. Das Kind erhielt eine Wiege: kurz darauf wurde ihr eine Tasse Chokolade ge- bracht. Was in aller Welt bedeutete dies? War es ein Miß- Verständnis? Um die Mittagszeit wurde an die Tür geklopft und der Professor trat allein herein. Die lusttgste Laune umwehte ihn, sie empfand solche Dankbarkeit für ihn und lächelte ihn unwillkürlich an. Er setzte sich an ihr Bett, legte die Hände kreuzweise, blickte aufs Fenster und begann: Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen, worauf Sie beute noch nicht zu antworten brauchen. Worüber glauben Sie wohl?" Er lächelte und nickte vor sich hin. Dann fuhr er fort: Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind. Aber ich bin ein alter Praktikus und habe eine gewisse Witterung. Sie sind vielleicht verheiratet und wahrscheinlich aus besserem Stande. Vielleicht sind Sie nicht verheiratet, ich will es nicht einmal wissen. Aber was würden Sie sagen, wenn Ihr kleiner Sohn Kronprinz in irgend einem kleinen Königreiche werden könnte? Wie? Ich meine, wenn eine wirklich gütige, wohlhabende und kinderlose Familie bittet, Ihr Kind annehmen zu dürfen. Würden Sie das Angebot absolut zurückweisen?" Und er lächelte und nickte wieder vor sich hin, blickte sie jedoch fest an. Sie hatte sich daran gewöhnt, dem Professor gegenüber eine Maske aufzusetzen und nicht die geringste Ge- mütsbewegung zu verraten. Jetzt wurde sie jedoch rot. Sie glaubte, er scherze mit ihr. Der Professor fuhr fort:Und dann Sie selbst? Es würde Ihnen zum Beispiel auch wohltun, aufs Land zu gchen, um wieder rote Backen zu bekommen. Und wenn Sie in Ihrer augenblicklichen Lage etwas Zuschuß brauchen, um manches zu ordnen es wäre doch möglich, nicht?, so könnte wohl auch Rat geschafft werden. Die Familie, von der ich rede, ist reich und ich garantiere Ihnen, der Kleine wird wie ein Krön- Prinz behandelt. Also?" Und er warf sich mit gekreuzten Armen auf den Stuhl und sah sie fragend an. Nein, es konnte kein Scherz sein. Ihre Augen standen plötzlich ooller Tränen. So lange hatte sie kein teilnehmendes Wort gehört, und jetzt kam alles so unerwartet und jäh. Sie begann zu weinen. Der Professor strich über ihr Haar. Na, na, Sie tverden sehen, alles wird wieder gut werden. Also überlegen Sie es sich bis morgen." Und er stand auf und ging hinaus. Erst wenn das Licht angezündet wird, bemerkt man, wie dunkel es vorher war, wenn man die Hand gereicht bekommt, wird man sich erst seines vollen Elends bewußt. Sie, die gestern unter den finstersten Gedanken hin- und hertaumelte und nicht wußte, wie sie die Rechnung begleichen sollte, um unerkannt hinauszugelangen, sie... nein, dies war ein Traum. Und sie rieb sich unwillkürlich die Augen. Weshalb weinst du eigentlich," dachte sie,begreifst du nicht, daß du träumtest. Es muß schon weit mit dir ge- kommen sein!" Aber in diesem Falle währte der Traum fort. Denn eine Wärterin kam bald und fragte, ob sie Rotwein oder Bier zum Mittagessen wünsche. Jetzt war sie doch wohl in der ersten Abteilung, worüber drüben so viel gesprochen wurde. Und als das Mittagessen mit dem reinen Tischtuch, den Servietten und guten Gerichten kam, empfand sie plötzlich Appetit: vielleicht wurde sie bald wieder gesund und jung. Die Sonne schien so freundlich herein, und ein nervös erregtes Glücksgefühl ließ sie gleichzeitig weinen und lachen. Wenn man lange in einem finsteren Keller gelebt hat, wird man schon von einem einzigen Sonnenstrahl geblendet. Während des Nachmittags prüfte und überlegte sie immerfort den Vorschlag des Professors. Aber was war hier zu überlegen? Sie lag tief im Rinnstein, und hier kam ein Mann und wollte ihr heraushelfen. Es hatte Augenblicke gegeben, wo sie sich zurecht gefabelt hatte, sie müsse das Kind umbringen, wenn sie aus der Anstalt komme. Es kam nun jemand und sagte:Er soll es wie ein Kronprinz haben. Du hast Dich selbst in eine falsche Lage gebracht, wir wollen Dir wieder auf die Füße helfen." Sollte sie dies ablehnen? Als der Professor den nächsten Tag kam, hatte sie nur ein einziges Bedenken. Die betreffende Familie dürfe über sie keine Auskunft verlangen. Der Professor saß schon mit gekreuzten Armen, jetzt strich er sich jedoch über den grauen Backenbart und das fleischige Kinn und lächelte in sich hinein. Das trifft sich ja gut," sagte er,denn die neuen Eltern des Kindes wollen auch nicht, daß Sie ihren Namen erfahren." Und er lachte, als sei dies ganz unerheblich. Ihr Herz zuckte etwas zusammen, und es fiel ihr schwer, darüber hinwegzukommen. Aber jetzt hatte sie sich so an den Gedanken gewöhnt, daß es für sie und das Kind ein Glück sei, daß sie förmlich vor jedem anderen Empfinden zurückwich.