Zlnterhaltungsblatt des Horwürls Nr. 62. Dienstag, den 28. März. 1905 (Nachdruck verboten.) si Sine Pilgerfahrt. Von Johan Bojer . Autorisierte Uebersetzung von Adele Neustädter. Der Professor nickte wieder vor sich hin.Ich verstehe, Sie wollen nicht sofort unter Menschen. Sie müssen erst eine Zeitlang vergessen lernen." Sie lächelte vertrauensvoll. Alles ahnte dieser Mann. Falls man Ihnen jetzt eine gute und angenehme Stellung, zum Beispiel als Wirtschafterin bei einem reichen norwegischen Witwer in einer Waldgegend in Schweden , ver- schaffen könnte. Möchten Sie solch eine Stellimg über- nehmen?" Sie dachte:Nach Hause kannst du noch lange nicht reisen. Dies ginge vielleicht an." Und sie dankte dem Professor: sie fühlte, daß alles, was dieser kluge Mann vorschlug, ausgezeichnet war. . So ging er wieder, nachdem er, wie ein guter Vater, noch einmal über ihr Haar gestrichen hatte. Einige Tage darauf stieg eine schmale, bleiche Frau zur Dämmerungszeit in einen Wagen, der vor der Anstalt hielt. Als der Wagen fortfuhr, blickte sie auf das Tor und die niederen Gebäude in den leeren Garten zurück. Sie meinte, sie sei wenigstens ein Jahr dort gewesen. Noch lagen dort junge Frauen, jetzt kam bald die Grütze zum Abendbrot! Die Straßen lärmten, der Wagen rollte weiter. Sie hatte noch Kleider bei dem Nähmädchen in Sagene und wollte vielleicht dort übernachten. Spät abends saß sie in ihrer Dachstube und schrieb wieder einen glückstrahlenden Brief nach Hause: Liebe Mutter! Jetzt habe ich die Haushaltungsschule durchgemacht und nun höre: Die Vorsteherin hatte den Auf- trag, der besten Schülerin eine ausgezeichnete Stelle bei einem reichen, kinderlosen Witwer in Schweden zu verschaffen, und sie erwählte mich. Ich wollte ja so gern etwas Geld ver- dienen, und außerdem war es ja eine Ehre. Sei nicht böse. Ich nahm an. In einem Jahre kehre ich zu Euch zurück und will dann so gut zu Euch sein. Einliegend eine kleine Bank- Note für Dich, Mutter; ich habe auf mein Gehalt etwas Vor- fchuß bekommen." Und in diesem Stile schrieb sie weiter. Aber als der Brief geschlossen war, blieb sie starrend sitzen. Sollten diese Unwahrheiten nie ein Ende nehmen! Jede Lüge schnitt ihr ins Herz und doch war sie nötig. Sie tonnte ihre Eltern nicht töten. Sie ging hinunter, warf den Brief in den Postkasten und kaufte sich frische Weißbrote und eine Kanne Milch. Sie wollte im Bett zu Nacht essen. O Gott, wie würde es in einem Bette schmecken, das nicht nach Krankenhaus und Wöchnerin roch. Aber als sie in ihrem alten Bette lag, dessen Vorhänge aus schmutzigem Baumwollstoff waren, vergaß sie zu essen, und die Augen fielen ihr zu. Sie versank in ein großes, leeres Nichts, worin es sich herrlich weilte. Am Morgen er- wachte sie, stützte sich auf den Ellbogen und einige Brödchen, dann sank sie wieder zurück und schlief weiter. Abends wollte sie aufstehen, die Brüste waren so angespannt, sie prickelten und stachen. Aber sie nahm nur etwas Milch, und ehe sie es wußte, sank sie wieder in die Kissen zurück. Endlich, endlich konnte sie in Ruhe schlafen. V. An einem Apriltage saß sie an einem Coupöfenster, während der Schnellzug durch Smaalenene brauste. Höfe und braune, teilweise beschneite Aecker wurden sichtbar, dann eilte man wieder durch Ebenen mit Kieferwäldern, die sich am Regenhimmel wie in grauer Finsternis verloren. Die letzten Tage waren durch Beschaffung einer kleinen Ausstattung ausgefüllt worden; die fünfhundert Kronen, die sie empfangen, waren ihr gut zustatten gekommen. Jetzt konnte sie sich wenigstens auf anständige Art vorstellen. Und sie fühlte sich wieder erholt und ausgeruht, die Verordnungen des Professors, der Malzextrakt, das Bockbier und die Voll- milch hatten sie binnen kurzem init guter Laune und frischen Kräften versehen. Und vor allem entfernte sie sich aus der Stadt, wo sie in steter Angst vor Entdeckung gelebt und wo sie so viel durch- gemacht hatte. Zuletzt hatten die trüben Erinnerungen aus der Anstalt sie wie ein unheimlicher Traum verfolgt, woraus sie nicht mehr erwachen konnte. Sie fuhr des Nachts auf und bildetete sich ein, sie liege noch in dem großen Saale, der Angstschweiß stand ihr auf der Stirn, wenn sie nicht sofort merkte, daß sie nur träume. Aber jetzt entfernte der Zug sie von der Stätte ihres Unglücks, von allen bösen Erinnerungen, und als schließlich die schwedische Sprache an ihr Ohr klang, atmete sie in glücklicher Befreiung tief auf. Jetzt kannte niemand ihre Geschichte, jetzt konnte sie ruhig allen ins Auge blicken, jetzt würde in einem neuen Lande ein neues Leben be- ginnen. Während der Zug durch die schwedische Ebene eilte, saß sie mit geschlossenen Augen und lehnte sich gegen die Wagen- kissen zurück. Und die Empfindung, aus dem Finstern dem Lichte ent- gegenzureisen, erfüllte sie mit innerem Jubel. Die sich nähernden beängstigenden Gedanken gewannen keine Macht. Sie hatte seit einem Monat keine Nachricht von den Eltern, aber es konnte auf einem Zufall beruhen. Sie wollte jetzt fröhlich sein. Wie durch ein Wunder war sie vor dem Zu- grundegehen gerettet worden; warum sollte sie nicht glücklich sein? In Schweden würden alle sie achten; sie würde es gut haben; konnte ihren Eltern jeden Abend schreiben, nur die Wahrheit, nur zärtliche Worte; auf diese Weise lebten sie fast vereint. Es würde herrlich werden. Sie blickte in die Landschaft; die Sonne begann über nasse Felder und Bäume zu leuchten. Und diese lichte Stim- mung veranlaßte sie, wie immer in der letzten Zeit, an das Kind zu denken. Sie hätte vielleicht doch seinen Namen be- stimmen sollen. Karl, Herman, Olaf, oder... Und sie be- gann sich die schönsten Namen auszudenken. Wenn man sich anhaltend mit etwas beschäftigt, so ver- langen die Gedanken einen Rahmen,, und so gewann sie nach und nach die Gewißheit, das Kind sei in Christianssand . Der Mann war wahrscheinlich Stiftsamtmann. Groß, elegant, mit weißem Backenbart und goldener Brille. Und die Frau? Dick, streng, in Seide gekleidet. Einst würden diese Menschen einen Sohn haben, den sie... ihnen geboren hatte. Und während sie weiter an dieses Kind dachte, empfand sie ein seltsames Wohlbehagen und lächelte unbewußt. Gegen Mitternacht langte sie an ihrem Bestimmungsorte an. Eine kleine Stadt, wo die Laternen schon ausgelöscht waren; die kleinen Holzhäuser schimmerten im Mondenschein. Ein Wagen mit zwei Pferden erwartete sie und bald saß sie mit ihrem Gepäck darin und rollte über eine breite Land- straße... Sie fuhr durch ein dichtbewaldetes Tal, in dem ein Bach toste. Die Wagenräder knirschten auf der gefrorenen Straße, und das Eis knisterte unter den Hufen der Pferde, die im Galopp rasten. Nach einige?: Stunden näherte man sich großen Fabrikgebäuden, deren dunkle Schornsteine gen Himmel ragten. Dann folgte eine kleine Stadt mit Arbeiterhäusern, und endlich bog der Wagen in eine breite Allee ein, und große, herrschaftliche Gebäude wurden sichtbar. Ein beklemmendes Gefühl schnürte das Herz der jungen Frau ein. Wie wollte sie dieses große Haus leiten, in welches tollkühne Abenteuer hatte sie sich gewagt! Ein einziges Fenster war beleuchtet: es verschwand fast hinter den Bäumen des Gartens. Aber als der Wagen vor die Eingangstreppe rollte, trat ein Manir heraus und stellte sich als Großhändler Flaten vor; es war der Hausherr. Mit einer galanten Verben g?ing reichte er ihr den Arm und führte sie herein. Das �Speise- ziminer war erleuchtet, ein Tifch tvar gedeckt, u??d er führte sie hin und leistete ihr während des Essens Gesellschaft. Nachdem sie Platz geilommen, unterbrach er plötzlich das Gespräch über ihre Reise und sagte lächelnd: Verzeihen Sie, Fräulein, aber ich weiß immer noch nicht Ihre?? Namen!" Sie fühlte, daß sie errötete, und beugte sich über dm Teller, während sie antwortete:Mein Name ist Asolt, Regina Asolt." Lange war der Name nicht über ihre Lippen gekommen;