Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 68.
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Mittwoch, den 5. April.
1905
Doch, aber ich will Sie nur aufmerksam machen, daß
( Nachdrud verboten.) jetzt Mitternacht ist."
Autorisierte Uebersetzung von Adele Neustädter.
Als Regina endlich fauernd zwischen den kalten Bettüchern im Hotel lag, wachte sie doch, das niederdrückende Gefühl des im Hotel lag, wachte sie doch, das niederdrückende Gefühl des Alleinseins schnürte ihr wieder das Herz zusammen. Die große öde Welt lag ringsum, und inmitten derselben stand sie ganz allein. Sie konnte hier frieren, und sie konnte auch noch ein warmes fleines Heim erlangen. Morgen... morgen... was dann? Und unwillkürlich faltete sie die Hände und begann zu beten. Sie betete und schluchzte. Ihr Glaube wurde brennend, und schließlich lag sie und jubelte. Sie schien auf sonnenbeschienene Binnen zu steigen. Wenn sie die Augen schloß, gewannen die Vorstellungen ihrer Kinderzeit Raum, sie fah den Sternenhimmel, der sich ringsum wölbte, und sie schwebte im Raume. Jedes Wort in dem Gebete war eine fleine weiße Taube, die zu Gott aufflog. Jegt zweifelte sie nicht länger, und wenn sie zweifelte, war es fündhaft. Satte Chriftus nicht den Sohn der Witwe von den Toten erweckt? Ihr Kind lebte, sie bat nur, es wieder zu bekommen und alles worum Ihr den Vater in meinem Namen bittet, das wird er Euch geben. Und sie schlief endlich ein, voll glücklicher Gewißheit, daß Gott ihr Gebet erhöre. Am nächsten Morgen eilte sie um 9 Uhr fort. Sie war zu unruhig, um nur eine Tasse Kaffee zu trinfen, sie verschob es auf später. Als sie ich dem Hause des Professors näherte, standen die Türen geffnet, sie wunderte sich, daß mehrere Wagen dort hielten und eine Menge Leute hineingingen. Als sie hinauf kam, standen Die Türen zum Korridor offen, und sie folgte einigen Menschen n ein großes Zimmer, in dem sich viele Leute aufhielten. Was bedeutete dies? Ein sonderbares Frösteln machte sie ganz teif, und sie vermochte nicht zu denken. Jezt sah sie die weißjaarige Frau auf einem Stuhle schluchzend sitzen, während sich nehrere über sie beugten. Dort war ja auch ein Bett und darauf lag ja der Professor, und noch war es also nicht zu spät. Sie stürzte ans Bett, ergriff die Hand des Kranken. Sie war
falt.
Sie erregte Aufsehen. Im nächsten Augenblick stand sie sor der Frau Professor und frug erblassend:„ Haben Sie erfahren, wer mein Kind hat?"
Man starrte sie an, jetzt legte sich auch eine Hand auf ihre Schulter. Die Frau des Professors hob ihr verweintes Gesicht and sah sie erschreckt an. Reginas Augen verrieten Wahnsinn. Die Frau Professor machte eine ungeduldige Bewegung. Nein, nein, ich habe nichts erfahren, er hat nicht einmal Abschied von mir genommen."
Aber jetzt legte sich die Hand schwerer auf Reginas Schulter, und sie hatte die Empfindung, als führe man fie
jinaus.
XI.
Gegen Mitternacht stand ein Polizist in der Nähe des Bestbahnhofes und beobachtete eine Gestalt, die längs des Quais auf- und abwanderte. Hin und wieder blieb sie stehen md blickte über das schwarze Wasser, auf dem sich vereinzelt mgebrachte Lichtsäulen schaufelten. Es mußte eine Frau sein, md sie schien abzuwarten, bis um Mitternacht die Laternen usgelöscht wurden.
Plöglich verlor er sie aus dem Gesicht, und er eilte an en Quai und blickte starr aufs Wasser. Aber bald gewahrte r sie wieder. Sie hatte sich auf die Pflastersteine am Fuße ines Telephonpfostens gesetzt.
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Ent
Nun hielt er es an der Zeit, sie anzusprechen: chuldigen Sie, Fräulein, sind Sie frank?" Sie hob den Kopf, und der schwache Schein einer Laterne fiel auf ihr Gesicht.
Krank? Nein, ich bin nicht frank."
,, Erwarten Sie jemand?"
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Das weiß ich."
Der Polizist entfernte sich einige Schritte und blieb dann stehen. Sie hatte ihn gleich wieder vergessen. Die Minuten verstrichen.
Sie starrte stumpf aufs Wasser.
darum zu bitten, Gott hört Dich nicht. ,, Nein, Regina, Dir wird keine Gnade, Du brauchst nicht darum zu bitten, Gott hört Dich nicht. Wer sein Stind tötet, findet Gnade. Aber wer es verkauft und Geld annimmt, nein, nein! Du kannst Dich ins Wasser werfen, aber dadurch wird Deine Rechnung nicht beglichen. Deine einzige Rettung wäre das Finden des Kindes, aber jetzt ist es ja unmöglich." wie eine Betrunkene. Es schien ihr unmöglich in die Stadt Sie stand auf und begann wieder zu gehen. Sie wankte zurückzukehren, wo alle Menschen Eisblöcken glichen. Ein völliges Flüchten erschien ihr ebenso unmöglich. Es gibt Augenblicke, wo man vom Leben ins Dunkel geworfen wird, und wo sogar der Tod die Aufnahme verweigert.
Es war der Polizist. Schließlich ging er neben ihr und sagte, Sie hörte schwere eisenbeschlagene Füße hinter sich gehen. er wolle ihr einen Wagen besorgen. er wolle ihr einen Wagen besorgen.
Er entfernte sich, und bald hielt ein Wagen vor ihr, alles erschien ihr nebelhaft. Kurz darauf saß sie im Wagen, sie nannte das Hotel und ließ sich willenlos hinfahren. Unterwegs fam ihr jedoch ein plötzlicher Gedanke: Folden- Dr. Folden. Er wohnt in dieser Stadt. Natürfich hat er die Hand im Spiele, er hat das Kind versteckt. Er weiß, wo es ist. Er will sein Kind nicht Not leiden lassen, deshalb hat er für dasselbe gesorgt. Im Grunde glaubte er ja auch für mich zu sorgen. Er hat mir ja eine Stellung ver. schafft. Die Menschen sind besser, als Du glaubst."
Der Wagen schwankte, und die Räder rasselten auf den Pflastersteinen. Jest freuzten sie die Karl Johannstraße, die leer im Halbdunkel lag. Plötzlich schrie sie dem Kutscher zu Hören Sie! Wissen Sie, wo Dr. Folden wohnt?"
Der Kutscher hielt an und blickte sich nach ihr um. „ He?"
„ Dr. Folden! Wissen Sie, wo Dr. Folden wohnt?" Sarin nach, beim Lichtschein einer Laterne. Er fand die Der Kutscher zog ein Taschenbuch heraus und schlug Adresse, und Regina bat ihn, dorthin zu fahren.
Der Wagen kehrte um. Er fuhr über die Universitätsstraße, und bald hielt er vor einem Haustore. Regina bezahlte den Kutscher, der weiter fuhr.
Sie blickte sich um. Foldens Schild war am Eingange angebracht. Er hatte eine besondere Nachtglode, und halb unbewußt flingelte sie.
Sie mußte lange warten. Schließlich setzte sie sich auf eine zunächst liegende Steintreppe. Hin und wieder hörte man einen durch die Stadt rollenden Wagen. Der Lärm: der großen Stadt war im Ersterben.
Sie war zu müde zum Denken. Sie hatte eine Em pfindung, als stehe sie jetzt auf der äußersten Grenze des Handelns. Sie freuzigte jeglichen Stolz, da sie diesen Mann aufsuchte. Aber wozu bedurfte sie künftig des Stolzes?
Endlich wird ein Fenster im dritten Stock geöffnet. Ein Mädchen steckt den Kopf heraus und fragt:" it jemand da?" Regina antwortete:" Ich will Herrn Dr. Folden sprechen."
Das Fenster wurde geschlossen. Einige Minuten später wird das Tor geöffnet, und sie folgte dem Mädchen die finsteren Treppen hinauf. Das Mädchen ging mit einer Laterne voran. Man glaubte zweifellos, es handle sich um einen Kranken. besuch, und ein junger Arzt wagt nicht, sich in der Nacht ver leugnen zu lassen.
Auf der oberen Treppe verlangsamte Regina jedoch ihre Schritte. Ihr Herz begann zu klopfen. Was tust Du!" dachte sie. Mitten in der Nacht! Wird
er Dich nicht für verrückt halten!"
Bitte," sagte das Dienstmädchen und öffnete, die
Rann ich hier nicht sitzen bleiben? Ich belästige Soch Korridortüre. Dann wurde Regina in ein Wartezimmer ge
Wemand."
Wo wohnen Sie?"
Können Sie mich nicht in Frieden ſizen lassen?"
führt, und das Mädchen zündete eine Lampe an und ging hinaus.
Todesstille herrschte im Hause, auf der Straße nicht der