Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 77.
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Dienstag, den 18. April.
( Nachdrud verboten.)
,, Es war vielleicht ein armes Kind, das Sie angenommen hatten?" Regina dachte:" Im nächsten Augenblicke sinke ich zusammen."
Aber die Frau antwortete:" Ja, wir erhielten es vor einigen Jahren aus der Entbindungsanstalt. Eine Wirtschafterin, auf die wir so viel hielten, kam in die Hauptstadt und... nun ja, jezt ist ja darüber nicht weiter zu sprechen."
Regina verschluckte die letzten Worte, sie empfand sie als wohltuende Erleichterung.„ Er ist nicht tot!" durchfuhr es sie. ,, Gottlob, er war es nicht!"
"
Aber laut sagte sie:" Ja, nochmals vielen Dant, gnädige Frau. Ich werde wohl einen dieser Höfe aufsuchen.
Adieu!"
Die Frau begleitete sie hinaus.
1905
unablässig, taumelte von jeder neuen Enttäuschung zu neuer Hoffnung, auf und ab, erhielt Schlag auf Schlag, richtete sich jedoch immer wieder auf, ruhelos und unaufhaltsam.
Im Herbst saß sie in einem Kariol, das nach dem Gudbrandsthal fuhr. Der Laubwald stand mit gelben Blättern längs des Landweges. Der Bach floß geschwollen und lärmend im Talgrunde zwischen Wiesen und Höfen. Sie wollte einen Arzt mit einem Pflegekinde überraschen.
Als der Schnee gekommen war, saß sie im Schlitten eingepackt und fuhr über die breiten Wege nach Toten. Die Schellen erklangen weithin durch die bereiften Wälder, und auf den weißen Schneefeldern lagen große rauchende Höfe. Sie wollte einen Kapitän unversehens überfallen. Jetzt war sie sich völlig klar, daß die Betreffenden das Kind verborgen hielten, und daß man wußte, wie sie herumsuchte. Man verbarg sich, und man berbarg ihr Kind, vielleicht führte man sie auch auf falsche Fährte, nur um sie zu verhöhnen. um diese Menschen zu finden, die ihr Leben mit so - Und sie begann jetzt in ohnmächtiger Wut herumzureisen, vielen Qualen erfüllt hatten, sie reiste mit geballten Händen, sie fonnte nicht rasten.
Am Abend faß Regina auf dem Balkon des Hotels und blickte in die lichte Landschaft hinaus. Im Speisesaal lärmte Um die Weihnachtszeit saß sie im Zuge nach Desterdalen eine neue Reisegesellschaft, einige kamen herauf und setzten und blickte über die endlosen Fichtenwälder, die mit glitzerndem sich an kleine Tische und bekamen Kaffee serviert. Sie lachten weißen Schnee beladen waren. Sie wollte einem Rechtsanwalt und lärmten, plauderten in verschiedenen Sprachen, sie reisten, in Tönset ins Haus fallen.
amüsierten sich, aßen, tranken, schliefen gut in der Nacht und Und diese Frau, die ihr Geheimnis so verborgen und trugen fein großes dumpfes Unglück im Herzen. War die ihren Kummer so stolz und ohne eine schmerzliche Miene geGeschichte von der Wirtschafterin erdichtet? Sollte sie glauben, tragen hatte, begann jetzt, sich einem Menschen nach dem daß ihr eigenes Kind... daß sie ganz vergebens... nein, andern auszuliefern, wenn sie glaubte, daß man ihr helfen sie ertrug es nicht. Erhielt sie einmal darüber Gewißheit, was fönnte. Sie wandte sich immer wieder an einen neuen Rechtsdann? Dann würden ja ihre Füße gelähmt werden, sie anwalt und sie ließ das Geld nach rechts und links springen. hatte keine weitere Zuflucht und die finsteren Mächte, die So oft sie die Tüchtigkeit eines neuen Juristen rühmen hörte, ihr auf den Fersen folgen sie würden sie packen- ja, sie eilte sie zu ihm. Alle wandten sich an die Entbindungsanstalt, wo man über diese Angelegenheit nichts in den Protokollen fand und wo der Professor der einzig Wissende gewesen. Und fie fonnte ja selbst nicht einmal Auskunft über den Namen des Kindes geben, wußte nicht, wie die Pflegeeltern hießen, wo sie waren, ob in Norwegen oder anderwärts.
würden sie packen.
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Nein, nein, mein kleiner Junge lebt. Es war ja das Kind der Wirtschafterin, die prächtige Frau hat nicht gelogen. Gottlob, du kannst noch reisen, und du befizest ja eine Million zum Reisen. Und wenn der Weg auch dornenvoll wird, so mußt du ihn aufnehmen. Hast du wohl etwas andres verdient? Ist es nicht gut, daß du etwas fühnen darfst?"
Aber wohin sollte sie sich jetzt wenden? Hätte sie nur einen einzigen Vertrauten gehabt, den sie um Rat bitten konnte! Aber sie ging einher, allen Verbindungen entrückt, allein einer ganzen Welt gegenüber, jedem Gedanken, jedem Kummer ohne Tröster verfallen. Und so wurde sie vielleicht eine Beute ihrer eigenen Irrungen. Denn wie konnte sie Klar denken, richtig überlegen und die besten Wege wählen, da sie kaum mehr einen Gedanken festzuhalten vermochte. Es wurde Mitternacht und noch saß sie hier, jetzt ganz allein. Die Stadt war still geworden. Das Braufen der Bäche und das Spiel der Wellen am Strande klang deut licher. Die Nacht war licht, wie am Tage. Die Sonnenwolfen am Himmel glühten noch.
,, D, Herr, mein Gott!"
Aus Christiasand hatte sie telegraphiert, man möge ihr die Postfachen nach Molde schicken. Am nächsten Tage ging sie zur Post. Zu ihrer großen Ueberraschung erhielt sie wieder zwei Briefe von den Zeitungen.
XX.
Die Rechtsanwälte sagten, sie müsse warten, sie würden schon arbeiten, aber sie müsse abwarten! Das konnte sie ja gerade nicht länger. Sie mußte sich beeilen, ihr Kind zu erlangen, ehe es zu spät war. Wer wußte, wie lange sie noch zu leben hatte.
bauen.
,, Nein," dachte sie schließlich. Du mußt auf dich allein Und wenn du nur richtig auf der Lauer liegst, so wirst du es doch herausfinden."
Eines Tages begann sie mühselig eine undeutliche Erinnerung aus der Anstalt auszuarbeiten. Wie war es doch? ar sie nicht einmal erwacht und hatte mit dem Professor zusammen zwei Fremde gesehen? Sie standen freilich etwas entfernt, aber sie schienen sie anzublicken. Wie sahen sie aus? Die Frau? Der Mann? Und sie zerbrach sich den Kopf, um sich zu erinnern. Hier fand sich natürlich der Schlüssel, wenn sie sich richtig zu erinnern vermochte, und sie mühte sich krampfhaft, diese Szene recht lebendig heraufzubeschwören. Ja, wie fahen sie eigentlich aus? Dort stand der Professor, und dort standen die Beiden. Der Mann? Seine Nase, der Bart und der Anzug, sein Haar? Jetzt hatte sie ihn bald. Am nächsten Tage war sie auch sicher, sich der Frau völlig zu erinnern. Jetzt standen sie ihr Beide vor Augen. Aber wo waren sie? Jegt handelte es sich darum, sie zu treffen. Und sie mußte sie treffen! Und wenn sie ihr Aussehen beschreiben konnte, so konnten ihr die anderen ja weit besseren Rat erteilen.
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Die beiden Briefe führten sie nach Tröndelagen und nach Nordland. Während sie nach dem ersten Drte fuhr, loderte neue Hoffnung auf, und sie fühlte sich glücklich, wieder hoffen zu können. Aber sie wurde enttäuscht, und es wirkte wie ein neuer betäubender Schlag. Der Brief aus Nordland klang Sie fiel Leuten in die Hände, die die Gelegenheit wahr. wohl am wahrscheinlichsten, und vielleicht steckte doch nahmen, sie auszupressen. Und sie ließ es willig geschehen, die Tante dahinter, jedenfalls war er aus derselben erkaufte gern für teueres Geld eine neue Hoffnung, selbst Fjordgegend. Und sie richtete sich wieder auf, faßte neue wenn sie gelinden Argwohn hegte. Sie konnte doch wieder Hoffnung und zog nordwärts. Eines Tages saß sie dort in reisen, wieder vor dem Schlimmen flüchten, das ihr auf den einem Bote und ließ sich zur Dampfschiffbrücke rudern. Sie Fersen folgte. wurde wieder enttäuscht. Hatte hier jedoch einen neuen Fingerzeig gewonnen, und so mußte sie nun auch dort hinreisen.
Und jetzt begann für Regina ein seltsames Leben. Sie konnte sich nicht mehr ruhig niederlassen, sie war in eine Bewegung geraten, die sie nicht einzuhalten vermochte, sie reiste
Eine Spur führte sie auf einen Ingenieur, der nach Süd afrika ausgewandert, eine andere auf einen Postbeamten, der wegen Kassendefekts nach Amerika gereist war, eine dritte auf einen norwegischen Konsul in Australien . Sie trieb schließlich die Adressen auf, um sie in der Hinterhand zu haben, wenn alle Reisen im Heimatlande fehlschlugen.